Roland Köhnke - als Lehrling bei den Protesten 1953 - "Zu jung, um verdächtig zu sein"

Sa 17.06.23 | 07:55 Uhr | Von Stefan Ruwoldt
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17. Juni 1953. Aufstand in Ostberlin (Quelle: dpa/akg)
Video: rbb24 Brandenburg aktuell | 17.06.2023 | Karsten Zummack | Bild: dpa/akg

Aufstand, Streik und Protest - der 17. Juni 1953 war eine Erhebung aus den Betrieben der DDR. Roland Köhnke war Lehrling in Hennigsdorf und marschierte an der Seite hunderter Stahlwerker nach Berlin. Euphorisch war er zumindest am Anfang. Von Stefan Ruwoldt

Hennigsdorf und Berlin-Mitte trennen etwa 30 Kilometer Asphalt und die Havel. Im Juni 1953 machten sich hunderte Hennigsdorfer auf den Weg. Zu Fuß. Roland Köhnke war einer von ihnen. Er lief an der Seite von Männern und Frauen des Stahlwerks. Es war ein Marsch, für den die Arbeiter an diesem Morgen Kraft hatten. Sie waren unzufrieden und wollten etwas ändern. Sie zogen los und wurden unterwegs immer mehr. Auf ihrem Weg zurück aber wurden sie von der Polizei erwartet. Roland Köhnke hatte Glück und kam durch. Viele andere nicht.

Einer, der noch dabei war

"Ich war jung damals, einer der jüngsten, und ich bin heute einer der ältesten, aber eben einer, der noch dabei war." Am 17. Juni 1953 war Köhnke 15 und Lehrling im Stahlwerk. An diesem Tag war alles anders, sagt er. Am Tor, vor dem Werk und an den Hallen sammelten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter. "'Geht doch kucken', hat der Berufsschullehrer nur gesagt", erzählt Köhnke. Und, sie - zehn Lehrlinge - gingen. Die Berufsschule war damit an diesem Tag für Köhnke beendet. Er reihte sich ein in die Gruppe, die am Werkstor immer größer wurde.

Jetzt, 70 Jahre später, ist Köhnke auf der Suche nach Spuren. "Das war die große Kneipe", er zeigt auf eine Halle am Rande des Werksgeländes. "Zu!" Auch das große alte Werkstor und die meisten Hallen sind weg, stellt er nüchtern fest. "Viel ist nicht mehr da." Köhnke sucht nach Anhaltspunkten, die noch etwas verraten könnten und vielleicht an die Zeit erinnern, als sie sich damals aufgemacht hatten nach Berlin.

Protest statt Schicht

Roland Köhnke (Quelle: rbb)
| Bild: rbb

Entlang der Havel nach Berlin

Woher der Aufruf damals kam, oder der Impuls, die Idee, dass sie an diesem Morgen losgingen, weiß Roland Köhnke nicht. "Es ging um das, was wir in den Schichten schaffen sollten, das war alles, was wir wussten", sagt Köhnke. "Darüber wurde gesprochen. Andauernd und viel!" fügt er noch hinzu. "Zu hoch waren die Normen." Neuwahlen, Wiedervereinigung, die Absetzung von Ulbricht - all das zählen die Geschichtsbücher auf als Forderungen der Arbeiteraufstände in Berlin und in der ganzen DDR rund um den 17. Juni 1953. "Die neuen Normen", sagt Roland Köhnke, "das war der Auslöser".

Im Juni 2023 nimmt er noch einmal die Route ihres Protestzuges, diesmal aber mit dem Auto, runter von der Veltener Straße über die Havelbrücke auf die Straße in Richtung Heiligensee. Nach kaum zwei Kilometern erreichte damals der Protestzug die Stadtgrenze nach Berlin, die französische Besatzungszone. Hier ging es in den Westteil der Stadt. "Ein Zaun. Mehr nicht", sagt Köhnke. An Kontrollen oder Posten kann er sich nicht erinnern. "Wir waren weit vorn, fünfte, sechste, siebente Reihe."

Am Haupttor zu den Werken in Tegel, da standen Arbeiter, ja. Aber, nee, von denen kam keiner mit. Das war damals schon geteilt.

Die nächsten Kilometer führten entlang der S-Bahn durch den Tegeler Forst, dann vorbei an Alt-Tegel, entlang der Borsigwerke, wie er erzählt. "Am Haupttor zu den Werken in Tegel, da standen Arbeiter, ja. Aber, nee, von denen kam keiner mit. Das war damals schon geteilt", sagt er. "Die kuckten, grüßten, winkten. Wir zogen weiter."

Wenige Kilometer auf der Müllerstraße dann wurden bereits Extrablätter einer Zeitung verteilt: "Die hatten Fotos in Tegel gemacht - von unserem Zug - und gleich alles gedruckt." Mit der Zeitung und der Gewissheit, dass ihr Zug die Nachrichten bereits erreicht hatte, zogen sie weiter.

Unterstützung erst wieder so richtig an der Chausseestraße

Bei einer kleinen Pause in einem Cafe an der Afrikanischen Straße nun erzählt Köhnke von den Monaten nach der Wende, von seinen Jobsorgen, von der Suche nach einer Lehre für seinen Sohn damals, von den Sorgen seiner Frau. Und er erzählt von seinen aktuellen, gesundheitlichen Problemen: "Aber die kamen erst jetzt", erklärt er, also vor wenigen Jahren. Köhnke ist darauf stolz, dass er das meistert, wie er sagt. Dann sagt er: "Weiter!" Und steht auf.

Von den nächsten Kilometern ihres damaligen Marsches durch Reinickendorf hat Köhnke kaum Erinnerungen. In Mitte dann, auf der Chausseestraße sagt er: "Hier aber, hier gab es auch Industriebetriebe, da kam Unterstützung, Rufe und Grüße."

"An der Kochstraße dann war eigentlich Schluss", sagt Köhnke. "Was hier aber jetzt los ist", stellt er fest und blickt auf die Touristen. Er staunt und erzählt erstmal nicht weiter von damals. Die Leute auf dem Platz drängeln sich zwischen die Autos. Es wird gehupt. Radfahrer steigen ab.

Mit dem Kopf nickt Köhnke ein bisschen nach vorn, zeigt auf ein Paar, das sich zwischen den Stoßstangen über den Platz drängelt. Dann spricht er weiter, als hätte das Paar ihn an damals erinnert: "Hier die Russen mit Papirossi - da die Kaugummi kauenden Amerikaner", sagt er und stößt mit den Kinn so ein bisschen vor, als seien sie jetzt noch zu sehen irgendwo da hinter dem Paar. "Ein Reporter auf einer Ladefläche mit Kamera hat uns gefilmt. Aber dann mit den Panzern ... Da waren auch die Reporter ganz schnell verschwunden." Köhnke nickt mit dem Kopf schräg nach vorn: weiter.

Das Ende an einer Art Frontlinie

Der Rest dieses Protesttages damals, sagt Köhnke, war dann fast so ein bisschen enttäuschend. Aus einem Haus flogen Akten aus dem Fenster, sagt er: "Stühle, Schreibmaschinen - sinnlos. Ich hab's nicht verstanden." Er und seine Freunde liefen weiter zum Potsdamer Platz: "Trümmerberge, das Haus Vaterland brannte."

Panzer, Trümmer, Brände - man kann Köhnke heute noch anhören, wie enttäuscht er über den Abschluss ihres Protestzugs war. Es war eine Art Rückzug von einer Frontlinie, wo jetzt Panzer rollten und aus Möbeln Barrikaden errichtet wurden.

Auf diesem Rückzug wieder hoch nach Hennigsdorf, begann dann auch schon das Schweigen über diesen Protest, das Jahrzehnte in der DDR anhielt. "Darüber reden ging damals nicht, nicht so richtig", sagt Köhnke. Auf ihrem Weg zurück kamen sie damals erstmal bis in den Wedding. Da bekamen sie dann so eine Art Unterstützung, am Rathaus: "Die Leute gaben uns Tipps: Alle Flugblätter weg! Zeitungen und solche Sachen sollten wir wegschmeißen." Dann fuhr man sie wieder hoch in die Nähe der Straßensperre Richtung Hennigsdorf in Heiligensee.

"Die Polizisten winkten uns durch: 'Geht, weiter!'", sagt Köhnke. "Zu jung, um verdächtig zu sein, so etwa dachten die wohl."

Viele kamen nicht durch

Köhnke sagt, sie wurden nicht gefragt, eher aufgefordert zu schweigen. "Sich ruhig verhalten - das war die Devise." Und er sagt, sie wollten eigentlich auch nichts erzählen, denn sie sahen, was mit den Kollegen passierte, die ganz vorne liefen, die gesprochen hatten, die andere überzeugt hatten und die am Potsdamer Platz blieben, als die Panzer anrollten - sie verschwanden.

Geredet wurde über diesen Tag im Osten selten offiziell, und wenn, dann als Aktion des Westens, als ein Komplott, als Kollaboration, als Störmanöver, als Aufwiegelung und als große Hinterhältigkeit des Klassenfeinds - dem Westen.

Im Sommer 1953 standen dann noch lange Zeit Panzer vor dem Werk. Jeder wurde begutachtet, kontrolliert, befragt und war verdächtig. Und dieses Schweigen und der Verdacht - "das hielt" sagt Köhnke. "Ewig."

Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 17.06.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Stefan Ruwoldt

29 Kommentare

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  1. 29.

    Linke Politiker haben zusammen mit der AfD im Mai in der russischen Botschaft gefeiert. Die stehen sich näher als Sie uns weis machen wollen.
    "Kritiker, nicht nur in der CDU, halten die heutige Linke dennoch weiterhin für gefährlich. Anhaltspunkte bietet ihnen auch der Verfassungsschutz. In seinem aktuellen Bericht werden sieben Strömungen innerhalb der Partei als "extremistisch" eingestuft "

  2. 28.

    Nun dann googeln Sie einmal nach dem Abschlussbericht BT über das Parteivermögen der SED und schauen Sie sich doch die alte Rechtsprechung des BVerfG an: danach ist die SED eine verbotene Partei mit allen Rechtsfolgen für die Nachfolgeparteien!

  3. 27.

    Nun ich nehme an, dass Sie mit Andersdenkenden nur die Gruppe meinen, für die das GG verbindlich ist und noch wie zB jene die unserem Staat die Rechtsstaatlichkeit absprechen, wie es gestern zB Höcke von der AFD tat. Solange man auf dem Boden der FDGO steht und die Grundrechte der Anderen achtet kann man seine Grundrechte wahrnehmen und Meinungen vertreten die Anderen gegen den Strich gehen.

  4. 26.

    Die steile These von Aufarbeitung haben Sie aufgestellt, ohne beweise für diese These
    Beispielsweise die wichtigste Einordnung, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, ja, oder nein.

  5. 24.

    Können Sie diese Aussage belegen?
    Wie viele ehemalige SED-Mitglieder sollen heute in der AfD sein?
    Zu den AfD-Wählern:
    Komischerweise haben AfD-Wähler früher vor allem CDU, SPD und Linke gewählt.
    Damals scheint man diese Stimmen dankend angenommen zu haben, heute stempeln man sie als Rechtsradikale ab.
    Laut Ihnen sind es nun Stasi und SED-Kader.
    Was denn nun?

  6. 23.

    Eine wirkliche Aufarbeitung mit Volksaufstand, SED und DDR würde für mich übrigens bedeuten, dass man sich im Jahr 2023 zu jeder Zeit dafür einsetzt, dass niemals mehr Demonstranten und Andersdenkende als Radikale abgestempelt werden oder Parteimitglieder aufgefordert werden, aufgrund anderer Ansichten ihr Bundestagsmandat aufzugeben.

  7. 22.

    Im Westfernsehen wurde der 17. Juni 1953 alljährlich erwähnt.
    Es sei denn, Sie hatten kein Westfernsehen.
    Also mir war der Volksaufstand bekannt.
    In der DDR wurde der Volksaufstand im Übrigen erwähnt.
    O-Ton: "Dies war nicht das Werk fleißiger Arbeiter" oder so ähnlich.
    Aus selbigem Grund erklärte man ja auch den Mauerbau.
    Damit vom Westen niemand die DDR kaputtmacht.
    Jeder wusste aber, dass der Mauerbau vor allem eine Antwort auf die Flüchtlingswelle war.
    Die DDR wollte die Fachkräfteabwamderung stoppen.

  8. 21.

    Die Linke hat gar nichts aufgearbeitet, zähneknirschend nur das Mindeste zugegeben, um überhaupt weitermachen zu dürfen.

  9. 20.

    Solange die SED, die sich jetzt die Linke nennt nicht ihre Vergangenheit aufarbeitet und klarstellt wo das Parteivermögen geblieben ist, dass den ostdeutschen Ländern zusteht klingt das ganze nur nach Wendehälsen!

  10. 19.

    "Ich nehme die Linke eher als Relativierer von SED-Unrecht wahr. Alleine schon, dass eine einzige Partei die Macht ausgeübt hat. "

    Nun, können sie. Ihre politische Einstellung ist ohnehin bekannt.

    "Werner Patzelt. Der Wissenschaftler, selbst CDU-Mitglied, leitete von 1992 bis 2019 das Institut für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Sein Befund: Die Linkspartei habe sich mit ihren politischen Prioritäten und Zielstellungen "tatsächlich in unser politisches System" eingebracht. Patzelt attestiert der Linken im DW-Interview sogar einen großen Anteil daran, "dass die Wiedervereinigung mit in der Wolle gefärbten Kommunisten in der ehemaligen DDR so reibungslos gelungen ist".

    Kaum eine andere Partei hat ihre Vergangenheit so intensiv aufgearbeitet wie Die Linke, im Gegensatz zu den Blockflötenparteien.

  11. 18.

    Heiko was wollen Sie uns sagen, hier geht es um den Volksaufstand 17.Juni 1953 der durch die Russischen Truppen niedergeschlagen wurde, und nicht Kriegsende 8. Mai 1945.
    Sie versuchen hier etwas zu relativieren!
    Zur AFD, es völlig egal woher die kommen Ost oder West aber der größte Erfolg findet in den neuen Bundesländern statt, Thüringen über 40% wer soll das noch verstehen! Ich habe heute schon mal geschrieben, und damit alles gesagt.






  12. 17.

    Ihr Zitat mag zutreffen. Durch besondere Aktivität bei der Aufarbeitung dessen, was es in der DDR an systematischen Menschenrechtsverletzungen gegeben hat, ist die Linke bisher jedenfalls nicht hervorgetreten.
    Ich nehme die Linke eher als Relativierer von SED-Unrecht wahr. Alleine schon, dass eine einzige Partei die Macht ausgeübt hat.

  13. 16.

    Diese Äußerung vom Chefideologen der SED, Kurt Hager, stammt nicht aus dem Jahre 1989, das äußerte wesentlich früher, im April 1987.

    Und selbstverständlich war das System der DDR kein Sozialismus. Eher ein ineffektiver, verbürokratisierter Staatskapitalismus. Die Arbeiter hatten weder Mitsprache über die Produktion, das Sortiment usw. Dafür gab es die allwissende Einheitspartei. Es gab weder Meinungs- noch Reisefreiheit. Alles bekannt.
    Unverständlich, dass einige dem nachtrauern.

  14. 15.

    Der 8.Mai wäre als Feiertag angebrachter oder soll sich keiner mehr daran erinnern?

  15. 14.

    Wenn ich mir die Biografien der Abgeordneten der AFD so anschaue stelle ich fest dass der wesentlich größere Teil aus dem Westen kommt. Sollte uns das zum Nachdenken bringen?

  16. 13.

    Das die AfD-Spitze am 8.Mai in der Botschaft Russlands der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, ist an Absurdität kaum
    zu überbieten. Vielleicht hätte sich der Botschafter mal die "Fliegenschiss"-Rede seines Gastes Herr Gauland angehört. 20 Mio Tote in der UdssR. "Fliegenschiss"

  17. 12.

    "Heute wäre der Feiertag wichtig, a im Osten besteht wegen den Linken ja kein Interesse, man könnte d Gesicht verlieren!"

    Mal wieder Fake News von ganz weit rechts außen.

    "Die Linkspartei erklärte anlässlich, es sei "unsere historische Verantwortung, jeder Infragestellung von Grund- und Menschenrechten entgegenzutreten und demokratische Errungenschaften wie die Versammlungsfreiheit, das Streikrecht und die Pressefreiheit zu verteidigen und zu schützen". Den mutigen Aufständischen von damals "gilt unser Respekt", fügte die Partei hinzu."

    https://www.tagesschau.de/inland/volksaufstand-ddr-gedenken-100.html

  18. 11.

    Ich frage mich wieso werden Zeitzeugeninterviews so selten durch die etablierten Medien gebracht? Wäre das nicht etwas, was man früher hätte machen müssen?
    Im Übrigen im Westen war zwar ein Feiertag, aber etwa ab Mitte der achtziger Jahre wurde es mehr und mehr zu einem Ritual und Feigenblatt, da die Politik nicht von einer Vereinigung in einem überblickbaren Zeitraum ausging. Heute wäre der Feiertag wichtig, a im Osten besteht wegen den Linken ja kein Interesse, man könnte d Gesicht verlieren!

  19. 10.

    In der rechtsextremen AfD befinden sich auffälig viele alte NVA, Stasi und SED Kader wieder, neben den üblichen Faschisten und Rechtsextremisten.

    Da frage ich mich auch immer wieder wie das zusammenpasst.

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