Interview | Historiker zur DDR-Aufarbeitung - "Wir hatten ein hohes Selbstbewusstsein"
35 Jahren nach dem Fall der Mauer ist die DDR-Aufarbeitung noch voll im Gange. Der ostdeutsche Historiker Stefan Wolle spricht im Interview über den Alltag in der Diktatur und die nach der Jahrtausendwende aufgekommene Ostalgie.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer zwischen Ost und West. 35 Jahre danach ist die Aufarbeitung noch im Gange. Der ostdeutsche Historiker Stefan Wolle ist wissenschaftlicher Leiter des privatgeführten DDR-Museums in Berlin, das sich mit dem Leben und der Alltagskultur in der DDR beschäftigt. Wolle saß auch bei der Stasi-Aufarbeitung in der Wendezeit mit am "Runden Tisch", der den friedlichen Übergang in eine Demokratie mitgestaltete.
rbb|24: Herr Wolle, was ist eigentlich Aufarbeitung im Hinblick auf die DDR-Geschichte?
Stefan Wolle: Aufarbeitung heißt eigentlich nicht viel mehr als Beschäftigung oder Auseinandersetzung mit der Geschichte. Der Begriff selbst stammt ja aus der Psychoanalyse. Ich bin mit diesem Begriff auch nicht so ganz glücklich, aber er hat sich nun mal eingebürgert. Es ist nicht so, dass nur das ganze Volk auf der Couch liegen würde und eine psychotherapeutische Behandlung machen müsste. Insofern reden wir einfach über Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit unserer deutschen Geschichte, so wie wir es erlebt haben. Die DDR-Geschichte ist ein ganz wichtiger Teil davon.
Und was ist 35 Jahre nach dem Mauerfall das Ziel dieser Aufarbeitung?
Also wir in unserem DDR-Museum in Berlin glauben, dass die jungen Leute den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie begreifen sollen und müssen. Dabei erzählen wir nicht eine reine Repressionsgeschichte der DDR, von Stasi und Mauer – wobei das alles dazugehört –, sondern wir setzen am Alltag an. Wie haben die normalen Menschen in der DDR dieses Land und dieses Leben erlebt? Wie haben sie gelebt mit dieser Mauer, mit dieser Stasi, mit diesen Mangelerscheinungen? Was war glücklich in der DDR, konnte man da glücklich leben? Das sind so die die Leitfragen, die wir erstellen.
Einige Menschen im Osten sind oft recht "ostalgisch" unterwegs - ist das auch Aufarbeitung mit orangenen DDR-Eierbechern und der Kittelschürze?
Dieser Trend kam so um die Jahrtausendwende. Ich habe dazu ein Buch geschrieben, "Die heile Welt der Diktatur". Aber auch andere Museen beschäftigten sich mehr und mehr auch mit Alltag. Das wiederum führt bei manchen dazu, dass solche richtigen Ostalgie-Schuppen entstanden sind. Da stellt man einen alten Trabi hin und hängt ein FDJ-Hemd auf und sagt, das ist die Erinnerung an die DDR. Das reicht nicht aus. Wir müssen versuchen, egal in welchem Medium – ob im Museum, oder im Film oder in Büchern – die Alltagsnormalität einzubetten als teil einer funktionierenden politischen Diktatur.
Wie machen wir das denn? Vor allem, weil ja gern behauptet wird, dass die Aufarbeitung nur aus westdeutscher Sicht läuft.
Ich weiß nicht, wer diese Legenden in die Welt gesetzt hat. Sicherlich gab es mal welche aus dem Westen, die von Arroganz geplagt waren und als Dialektkomiker aus Schwaben hier auftraten und alles besser wussten. Aber die haben wir auf die Pfoten gesetzt, würde ich mal sagen. Ich kann für mich sagen: Ich und die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, hatten ein hohes Selbstbewusstsein. Gerade weil wir aus der DDR stammten, haben wir oft den Menschen aus dem Westen erzählt, wie es bei uns war.
Aber trotzdem beschweren sich viele Menschen über die Lage im Osten der Republik. Warum ist das so?
Wenn man einzelne Menschen fragt, dann sagen sie oft: "Mir geht es gut, ich habe eine tolle Rente und ich mach dreimal im Jahr Urlaub und habe ein großes Auto, aber insgesamt sind wir die abgehängte Region." Das kann ich, wenn ich in Thüringen oder Sachsen unterwegs bin, überhaupt nicht finden. Wenn man das mit 1989 vergleicht, als sich die Städte in einem grausigen Zustand befanden … Heute sehen sie zurecht gemacht und wohlhabend aus.
Läuft es also gut in Sachen Aufarbeitung oder sind wir noch am Anfang?
Man kann das nicht so linear sagen. Es gibt eine ganz neue Debatte, die politisch determiniert ist und von der These ausgeht, dass im Osten die Menschen Bürger dritter Klasse seien, dass irgendwie alles seit 1989 schiefgelaufen sei. Das teile ich überhaupt nicht. Da kann ich nur vehement widersprechen. Ich halte die vergangenen 35 Jahre für eine Erfolgsstory ohnegleichen. Und die Probleme, die es noch gibt, die werden wir in Deutschland überwinden – davon bin ich fest überzeugt.
Warum gibt es dann hier im Osten so viele AfD-Wähler, die unzufrieden sind?
Die AfD hat ein sehr schizophrenes Verhältnis zur DDR-Aufarbeitung. Auf der einen Seite rekurriert sie so gerne auf die Bürgerrechtsbewegung und versucht deren Symbole und Gesten zu kopieren, wie die Montagdemos. Auf der anderen Seite gibt sie sich rechts, das heißt auch sehr antikommunistisch – also da ist eigentlich überhaupt keine politische Linie drin. Der AfD-Erfolg hat mit der DDR und den Jahren der Transformation höchstens insofern so tun, dass tatsächlich manche Bürger jetzt sagen: 1989 ist ein Teil meiner Biografie abhandengekommen.
Dabei ist ein gewisser Trotz ganz deutlich. Ein "Osttrotz" ist entstanden. Man will sich nicht von den Medien vorschreiben lassen, was man zu wählen hat. So nach dem Motto: Wenn sie jeden Tag auf die AfD eindreschen, dann wählen wir sie gerade. Das ist die Reaktion, die ich von vielen Menschen sehe und höre.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte Fassung des Gesprächs mit Stefan Wolle.
Sendung: Antenne Brandenburg vom rbb, 08.11.2024, 14:10 Uhr