Beliebt, aber umstritten - Wird die Briefwahl zum Problem?
Die Briefwahl verleiht Menschen eine Stimme, die nicht ins Wahllokal können. Was als Ausnahme gedacht war, nutzen mittlerweile große Teile der Bevölkerung. Diese Entwicklung strapaziert Grundsätze für faire Wahlen. Von K. Neumann und O. Noffke
- zunehmende Beliebtheit der Briefwahl strapaziert Wahlgrundsätze
- ob geheim und unbeeinflusst gewählt wird, ist quasi nicht überprüfbar
- Briefwahl verändert Wahlkämpfe, erschwert Prognosen, ist aufwendiger zu organisieren
Knapp ein Viertel aller Stimmen wurde bei der Brandenburger Landtagswahl vor fünf Jahren per Brief abgegeben. 23,1 Prozent, ein beträchtlicher Teil. Dabei ist die Briefwahl als Ausnahme gedacht. "Die Wahlgesetzgebung geht vom 'Leitbild der Urne' aus. So nennt sich das im Fachterminus", sagt Christian Waldhoff.
Er ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin. "Die Briefwahl wurde in der Bundesrepublik erst 1957 eingeführt, existierte also gar nicht von Anfang an." Sie soll Menschen, die wegen Krankheit, Einschränkungen oder Abwesenheit am Stichtag nicht ins Wahllokal können, die Teilnahme ermöglichen.
Lange Zeit mussten Wählerinnen und Wähler begründen, weshalb sie nicht persönlich abstimmen können. Das hat sich geändert. Seit der Europawahl 2009 ist das nicht mehr notwendig [bundeswahlleiterin.de]. Mittlerweile wählen viele Menschen per Brief, obwohl sie ins Wahllokal könnten. Sie fühlen sich vielleicht früh in ihrer Entscheidung sicher oder es passt schlicht nicht in ihre persönlichen Planungen.
Die fünf Wahlgrundsätze: allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim
Um sicherzustellen, dass Wahlen in Deutschland fair ablaufen, sollen sie fünf Kriterien erfüllen. Sie werden auch als Wahlgrundsätze bezeichnet [gesetze-im-internet.de].
Wahlen sollen allgemein sein. Alle Bürgerinnen und Bürger dürfen teilnehmen, unabhängig von Bildungsstand, Steuerklasse, Religion, Geschlecht oder anderen persönlichen Eigenschaften. Ausschlaggebend sind lediglich Alter und Wohnort. Die Stimmen sollen zudem unmittelbar wirken. Es darf deshalb keine Instanz zwischen Wählende und Kandidierende geschaltet werden. Wahlmänner-Strukturen wie in den USA sind also nicht möglich [bpb.de]. Zum anderen sollen alle ihre Stimme selbst im Wahllokal abgeben – oder per Brief.
Auf niemanden darf bei der Entscheidung Druck aufgebaut werden. Eine Wahl muss frei sein. Auch soll unter denselben Bedingungen gewählt werden. Dieser Gedanke umfasst zum einen, dass jede Stimme gleich viel zählt; und darüber hinaus, dass allen Parteien dieselbe Chance auf Erfolg eingeräumt wird. Fünftens: Wahlen sind geheim. Wo Kreuze gesetzt werden, ist Privatsache [politische-bildung-brandenburg.de].
"Im Wahllokal kann das nicht passieren"
Rechtswissenschaftler Waldhoff sagt, durch die Briefwahl werde der Wahlgrundsatz der Allgemeinheit gefördert. Der Kreis der potenziellen Wählerschaft wird um diejenigen vergrößert, die nicht persönlich erscheinen könnten. "Das ist erstmal etwas Gutes", sagt er rbb|24. "Je höher die Wahlbeteiligung, desto besser der demokratische Effekt – also die Legitimationswirkung der Wahlen."
Gegenüber anderen Wahlgrundsätzen steht die Briefwahl allerdings in einem Spannungsverhältnis. "Das betrifft im Wesentlichen die Freiheit und die Geheimheit der Wahl", so Waldhoff. "Ich war öfter Wahlhelfer und musste schon Ehemänner aus den Wahlkabinen ihrer Frauen rausholen, weil die gucken wollten, wie abgestimmt wird." Das gehe natürlich nicht, sagt er. "Das ist eine Drucksituation."
Briefwahlunterlagen enthalten eine eidesstattliche Erklärung. Die Wähler bestätigen damit, dass sie die Wahlunterlagen tatsächlich selbst und aus freien Stücken ausgefüllt haben. Ob Familienmitglieder, Freunde oder Partner versuchen Einfluss zu nehmen, kann jedoch nur schwer verhindert werden, wenn Menschen zu Hause auf dem Sofa oder am Küchentisch wählen. "Im Wahllokal kann das nicht passieren", sagt Waldhoff.
Wie beliebt ist die Briefwahl?
Diese Kritikpunkte werden seit Langem diskutiert. Doch die Probleme haben noch nie so schwer auf den Wahlprozess gedrückt. In den vergangenen Jahren ist der Anteil der Briefwähler kontinuierlich angestiegen. Während der Corona-Pandemie sogar dramatisch. Bei der Bundestagswahl 2021 wählten in Brandenburg so viele Menschen per Brief wie nie zuvor: 34,9 Prozent.
Verwunderlich ist das nicht, schließlich galten damals weitreichende Kontaktbeschränkungen und Quarantäneverordnungen [brandenburg.de]. Bemerkenswert ist vielmehr, dass es nicht noch mehr waren. In Bayern lag der Anteil der Briefwahlstimmen zur Bundestagswahl bei 62,4 Prozent. Deutschlandweit waren es 47,3 Prozent.
"Das Leitbild der Urnenwahl kommt dadurch ein bisschen unter Druck", sagt Waldhoff. "Wenn das so weitergeht, verändert das den Charakter einer Wahl natürlich." Der Grundgedanke von Parlamentswahlen sei, dass an einem bestimmten Tag der politische Wille der Wahlberechtigten abgefragt werde. "Nicht in einem immer diffuser werdenden Kontinuum."
Ob sich diese Entwicklung wirklich zurückdrehen lässt, kann bezweifelt werden. Zwar ist der Anteil der Briefwahlstimmen seit dem Ende der Kontaktbeschränkungen wieder gesunken. Doch nach wie vor liegt er deutlich über Vor-Pandemie-Niveau. Millionen Menschen haben während der Corona-Zeit zum ersten Mal per Brief gewählt. Viele haben das offenbar als positive Erfahrung wahrgenommen und sind bei der Europawahl dabei geblieben.
Veränderte Wahlkämpfe, aufwendige Organisation, kompliziertere Meinungsforschung
Die Briefwahl hat auch Wahlkämpfe verändert. Sie steuern heute viel früher in eine heiße Phase als noch vor 15 oder 30 Jahren, sagt Frank Stauss. Er ist Inhaber einer Berliner Werbeagentur, die politische Kampagnen entwirft und begleitet. "Man versucht, den Wahlkampf über digitale Kanäle so weit wie möglich vorzuziehen", sagt er. "Um Menschen zu erreichen, die zum Teil sechs, acht Wochen vor dem Wahltag ihre Stimme abgeben."
Die Briefwahl kann in Brandenburg bereits beantragt werden. Die Wahlunterlagen werden allerdings erst verschickt, wenn die Stimmzettel gedruckt wurden. Einige Parteien gehen davon aus, dass das etwa sechs Wochen vor dem 22. September der Fall sein wird.
Viele, die früh ihre Stimme abgeben, hätten sich gut informiert und seien von ihrer Wahl überzeugt, sagt Stauss. "Die meisten, die Briefwahl beantragen, stimmen auch sofort ab, wenn die Briefwahlunterlagen kommen, und lassen die nicht noch ein paar Wochen liegen." Also müssen die Kampagnen die Aufmerksamkeit dieser Leute einfangen, lange bevor die Briefwahl möglich ist.
Es werde deshalb bereits Wochen vor dem Stichtag versucht, ein "Highlight" zu setzen, wie Stauss es nennt. Ein gutes Beispiel dafür sei eine Aussage von Dietmar Woidke. Vor Kurzem sagte dieser öffentlich, dass er nicht weiter als Ministerpräsident zur Verfügung steht, sollte die SPD nicht stärkste Kraft in Brandenburg werden. "So eine Aussage trifft man normalerweise kurz vor dem Wahltag, um dann nochmal Aufmerksamkeit zu bekommen", findet Stauss.
Er ist selbst SPD-Mitglied. Einer bestimmten Partei anzugehören, ist unter Wahlkampfstrategen nicht ungewöhnlich. In den Brandenburger Wahlkampf seien er und seine Agentur nicht involviert, versichert Stauss.
Keine Möglichkeit zu reagieren
In den Wochen vor der Wahl gehe es dann darum die Unentschiedenen zu überzeugen. "Für sie findet letztendlich der eigentliche Wahlkampf statt." Dass sich Wahlkämpfe verlängern, bringe viele Herausforderungen, sagt er. Es sei aufwendiger, verursache höhere Kosten, obwohl die Budgets im besten Fall stagnieren würden. Aktionen im Netz seien personalintensiv und belastend. Für die Kandidatinnen und Kandidaten bedeute ein längerer Wahlkampf außerdem mehr Stress. "Man muss schon aufpassen, dass einem nicht die Puste ausgeht", sagt Stauss. "Sie brauchen ihre Kraft definitiv auch für die letzten drei Wochen."
Es sei gut, dass die Briefwahl zu einer höheren Wahlbeteiligung beitrage. "Es ist Aufgabe des Staats, möglichst viele Leute zum Wählen zu bringen und es ihnen so einfach wie möglich zu machen", sagt Stauss. "Man muss aber auch die andere Seite sehen. Die Wählerinnen und Wähler berauben sich der Chance, Ereignisse aus dem Wahlkampf in ihr Stimmverhalten einfließen zu lassen."
Er verweist auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg 2011. Zwei Wochen vor dem Wahltag explodierten im japanischen Fukushima mehrere Atomreaktoren, nachdem sie von einem Erdbeben erschüttert und einem Tsunami geflutet worden waren. Vor dem Unglück sah es nach einem klaren Sieg für die CDU aus. Am Ende wurde mit Winfried Kretschmann jedoch zum ersten Mal ein Politiker von Bündnis 90/Die Grünen Ministerpräsident eines deutschen Bundeslands.
Erschwerte Prognose
Sobald die Wahllokale schließen, gibt es oftmals umgehend erste Meldungen zu Gewinnern und Verlierern. Bei Land- oder Bundestagswahlen erfüllt dies die sogenannte 18-Uhr-Prognose. Sie basiert nicht auf ausgezählten Stimmen; sondern auf Befragungen von Bürger:innen, die aus Wahllokalen kommen. Briefwähler erreicht man so nicht.
"Das ist ein Thema, das wir schon lange haben. Aber die Herausforderung wird natürlich größer, je mehr Menschen per Brief an Wahlen teilnehmen", sagt Stefan Merz von Infratest Dimap. Einem Meinungsforschungsinstitut, das auch für die ARD und den rbb Umfragen anfertigt. Wie Briefwähler abgestimmt haben, muss auch von der Prognose abgebildet werden. Unter anderem, weil der Anteil der Briefwähler von Partei zu Partei variiert.
Die Grünen bekommen oft einen hohen Anteil. Die Unionsparteien im Allgemeinen ebenso, nur nicht im Osten. AfD-Wähler gehen viel seltener zum Briefkasten als die Anhänger anderer Parteien. Der Abstand ist deutlich. Das Bündnis Sahra Wagenknecht wird die Vorhersagen bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen etwas erschweren, sagt Merz. "Das ist eine besondere Herausforderung für uns, wenn neue Parteien antreten. Insbesondere, wenn sie so schnell so erfolgreich werden."
Damit die Prognose um 18 Uhr dennoch ein möglichst genaues Bild vorhersagen kann, sammeln Meinungsforschende bereits vorab Informationen zum Wahlverhalten. Am Wahltag schauen sie sich an, wie viele Menschen in den jeweiligen Wahllokalen Briefwahl beantragt haben. Zweitens wird in Umfragen vor der Wahl auch gefragt, wie die Menschen ihre Stimme abgeben wollen. "Und wir schauen uns auch sehr genau an, wie diese Unterschiede zwischen Urne und Brief bei früheren Wahlen waren und wie sich das verändert hat", sagt Merz.
Mehr Wahlhelfende braucht das Land
Es gibt aber auch ganz praktische Herausforderungen. Irgendwo müssen die vielen Umschläge schließlich gelagert werden – sicher verwahrt und unter Einhaltung strenger Vorgaben. In Bad Belzig (Potsdam-Mittelmark) wurden die Briefwahlstimmen früher in einem kleinen Raum im Rathaus ausgezählt. Mittlerweile ist ein ganzer Saal dafür vorgesehen, sagt Kerstin Kümpel rbb24 Brandenburg aktuell. Sie ist Kreiswahlleiterin für die Brandenburger Wahlkreise 18 und 20.
Kümpel rechnet damit, dass in diesem Jahr deutlich mehr Menschen von der Briefwahl Gebrauch machen als bei der Landtagswahl 2019. "Für mich als Kreiswahlleiterin heißt das, ich muss mehr Wahlvorstände einsetzen." Organisatorisch sei es sehr viel aufwendiger, die Inhalte von Urnen und Umschlägen gemeinsam auszuzählen. Das habe die Erfahrung gezeigt, sagt Kümpel.
Dafür müssen die Kommunen das Personal auftreiben, das dann auch speziell geschult werden muss. Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sind ehrenamtlich tätig, es gibt allerdings ein sogenanntes "Erfrischungsgeld". Es beträgt zwischen 25 und 35 Euro. Das klingt erst einmal gering, man müsse jedoch das große Ganze sehen, so Kümpel. "Wenn man das hochrechnet auf das Land Brandenburg, kommt da schon ein erkleckliches Sümmchen zusammen." Die Briefwahl verursacht also Mehrkosten. Allein in Bad Belzig sollen am Wahlabend 18 Wahlhelfer Briefumschläge öffnen.
"Die Kostenfrage würde ich beiseite schieben", sagt HU-Professor Christian Waldhoff. "Der zentrale Legitimationsakt unserer Demokratie ist erstaunlich günstig." Das Bundesverfassungsgericht sollte jedoch beobachten, wie sich der steigende Anteil an Briefwahlstimmen auf die Wahlgrundsätze auswirkt. Rechtfertigt der Vorteil die Nachteile? Die Briefwahl ermöglicht mehr Menschen die Teilnahme. Sie erschwert aber auch die Kontrolle, ob frei und geheim abgestimmt wird.
Ist die Briefwahl sicher? Einen Faktencheck zu Vorwürfen und Vorurteilen gegenüber der Briefwahl finden Sie bei den Kolleg:innen des Bayerischen Rundfunks [br.de].
Mitarbeit: Götz Gringmuth-Dallmer
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 11.08.2024, 19.30 Uhr
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