Großer Umbruch steht bevor - So könnte der Kader von Hertha BSC kommende Saison aussehen
Hertha BSC bleiben bei Erhalt der DFL-Lizenz knapp 50 Tage, um ein neues Mannschaftsfundament für die 2. Liga zu gießen. Die Umbaumaßnahmen im Kader werden groß ausfallen, könnten aber durch gezielte Transfers Potenzial freilegen. Von Marc Schwitzky
Benjamin Weber, Sportdirektor von Hertha BSC, ist derzeit nicht um seinen Job zu beneiden. Während Herthas Profis Urlaubsbilder auf Social Media teilen und Abstand von der Abstiegssaison gewinnen, steckt Weber tief in seiner Arbeit. 70 Tage liegen zwischen dem Abstiegsspiel gegen den VfL Bochum und dem Start der kommenden Zweitligasaison. 70 Tage, um einen neuen Kader zu bauen. Und da ist ja immer noch die Frage, ob die Berliner von der DFL überhaupt die Lizenz für die 2. Liga bekommen.
Doch Weber wird nichts anderes übrigbleiben, als für den Zweitligafall zu planen. Einmal mehr steht ein immenser Umbruch bevor, nahezu jeder Spieler steht auf dem Prüfstand. Mit Pal Dardai soll zumindest die Trainerfrage geklärt sein. So könnte Herthas Mannschaft zur neuen Saison aussehen:
Tor - einer neuer Zweikampf?
Der Kaderumbruch der Blau-Weißen wird bereits zwischen den Pfosten beginnen. Oliver Christensen, in der abgelaufenen Saison der Stammtorhüter, wird Hertha wohl verlassen – es soll Interesse aus England geben. Nachfolger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Marius Gersbeck. Der 27-Jährige war von 2004 bis 2019 Hertha-Spieler, wurde hier Profi und ist großer Fan der "alten Dame". In den vergangenen vier Jahren hat sich Gersbeck beim Karlsruher SC zu einem guten Zweitligatorhüter entwickelt. Mit seiner Zweitligaerfahrung, großen Identifikation und der Vertragsklausel, günstig zu Hertha zurückkehren zu können, stellt er ein sehr reizvolles Gesamtpaket dar.
Neben Christensen, der in der abgelaufenen Saison nur selten sein Potenzial ausschöpfte, wird auch der suspendierte Rune Jarstein gehen. Zudem sucht Hertha einen Abnehmer für Leih-Rückkehrer Alexander Schwolow. Herausforderer von Gersbeck wäre Tjark Ernst, der vor einem Jahr aus Bochum kam und letzten Spieltag der vergangenen Saison ein herausragendes Profi-Debüt feierte. Ernst und Gersbeck könnten einen recht offenen Zweikampf im Tor austragen.
Innenverteidigung – viel Talent, viele Fragezeichen
Auch Herthas Innenverteidigung steht vor einem Umbau. Neben dem bereits verkauften Omar Alderete könnten Agustin Rogel und Marc Oliver Kempf den Verein verlassen. Kempfs Abgang wäre ein schwerer Schlag, war er noch einer der wenigen Lichtblicke der letzten Spielzeit, zumal er als Abwehrchef Teil einer neuen Achse hätte sein können. Sollte Kempf gehen, wird wohl Filip Uremovic dessen Rolle einnehmen. Der Kroate präsentierte sich unter Pal Dardai formstark.
Daneben verfügt Hertha über viel Talent. Marton Dardai, Leih-Rückkehrer Linus Gechter und Pascal Klemens haben jeweils großes Potenzial, das in der 2. Liga womöglich noch besser gefördert werden kann. Aufgrund ihres jungen Alters und teilweise vorhandenen Verletzungsanfälligkeit gestaltet sich die Planung mit ihnen jedoch schwierig. So würde die Verpflichtung eines zweitligaerfahrenen Profis, der verlässlich einspringt, aber die Entwicklung der Talente nicht stoppt, helfen.
Außenverteidigung – bleibt Mittelstädt?
Marvin Plattenhardt, Jonjoe Kenny, Deyovaisio Zeefuik – auch auf Herthas Außenpositionen wird sich etwas verändern. Keiner der genannten Spieler gehörte zuletzt zu den Leistungsträgern. Ein möglicher Abgang von Maximilian Mittelstädt, der eine Ausstiegsklausel besitzen soll, wäre schmerzhafter. Hertha soll den Linksverteidiger als wichtige Säule für die neue Mannschaft ansehen, als Eigengewächs und langjähriger Profi bringt er Identifikation und Erfahrung mit. Seine Situation ist unklar. Sollte Mittelstädt gehen, müssen wohl gleich zwei neue Linksverteidiger verpflichtet werden – bleibt er, würde ein Backup genügen.
Auf Herthas rechter Abwehrseite ist zumindest schon für die Ersatz-Situation gesorgt. Der erfahrene Peter Pekarik bleibt ein weiteres Jahr an Bord, daneben wird Eigengewächs Julian Eitschberger weiter in den Profi-Kader integriert. Beide Spieler werden jedoch nicht die Stammlösung sein, bei einem Abgang Kennys wird ein neuer Rechtsverteidiger verpflichtet werden müssen.
Zentrales Mittelfeld – eine Frage des Systems
Gibt es personell zwar viele Fragezeichen, so ist mit Pal Dardai als Trainer zumindest die Systemfrage einigermaßen geklärt. Die letzten Spiele der abgelaufenen Saison haben verraten, dass der Ungar wohl entweder auf ein 4-4-2 mit zwei Flügelspielern oder auf das klassische 4-2-3-1 setzen wird. Die Formationen haben neben der Viererabwehrkette eine weitere Gemeinsamkeit: Die Doppelsechs.
Mit Santiago Ascacibar, Kevin-Prince Boateng, Ivan Sunjic, Lucas Tousart und Suat Serdar werden gleich fünf Zentrumsspieler den Verein verlassen. Mit Tolga Cigerci und einem womöglich aufrückenden Marton Dardai, wie den beiden Talenten Veit Stange und Mesut Kesik verfügt Hertha dann nur noch über den Spielertyp des Ankersechsers, der seine Position hält und über Passspiel Einfluss nimmt. Daneben bräuchte es dringend einen Balltreiber mit mehr Dynamik und Offensivdrang, um das Mittelfeld nicht zu statisch werden zu lassen. Hier wird es vermutlich gleich zwei Neuzugänge brauchen, sollte der wohl verbleibende Jean-Paul Boetius nicht für jene Rolle vorgesehen sein.
Boetius kann ebenso eine Reihe weiter vorne als zentraler Spielmacher fungieren. Auf jener Position kann sich auch Toptalent Ibrahim Maza aufgrund des Abgangs von Stevan Jovetic Einsatzzeiten versprechen, während er in einem 4-4-2 auch als Mittelstürmer spielen kann. Auch der bei der U23 stark aufspielende Mustafa Abdullatif darf sich Chancen ausrechnen.
Flügelstürmer – das potenzielle Prunkstück des Kaders
Die offensiven Flügel sind die bislang einzigen Positionen, für die Hertha Neuverpflichtungen bestätigen konnte. Fabian Reese unterschrieb bereits im Winter für die neue Saison. Mit elf Toren und zehn Vorlagen gehörte er zu den Topscorern der letzten Zweitligaspielzeit. Auch Neuzugang Gustav Christensen trumpft mit beeindruckenden Zahlen auf, allerdings noch auf U19-Niveau. Reese und Christensen werden auf dem linken Flügel Chidera Ejuke und Myziane Maolida ersetzen.
Auf der rechten Flanke wird Dodi Lukebakio nicht zu halten sein. Marco Richter wäre sein direkter Nachfolger, doch die Zukunft des Angreifers ist noch ungeklärt. Hertha will Richter halten, wäre bei einem finanziell angemessenen Angebot aber zum Verkauf gezwungen. Mit sechs Toren und fünf Vorlagen war er Herthas zweitbester Angreifer der Vorsaison, zusammen mit Reese würde er das Prunkstück der neuen Hertha-Mannschaft bilden. Dahinter könnten sich Spieler wie Derry Scherhant, Ensar Aksakal und Kelian Nsona entwickeln. Sollte Richter jedoch gehen, wird es zwingend einen neuen Flügelspieler brauchen.
Mittelsturm – Hoffen auf Ngankam
Auch im Sturmzentrum ist der Hauptstadtklub potenziell bereits gut aufgestellt. Florian Niederlechner hat seinen Verbleib öffentlich bestätigt. Zwar verlief die erste halbe Saison des Ex-Augsburgers sportlich enttäuschend, in der 2. Liga sollte er jedoch zu den besseren Stürmern gehören. Vor allem aber liegen die Hoffnungen auf Jessic Ngankam – Herthas wohl bester Spieler der vergangenen Bundesliga-Rückrunde. Als talentierter Mittelstürmer und Publikumsliebling vereint der gebürtige Berliner gleich mehrere wichtige Eigenschaften auf sich.
Zusammen mit Niederlechner kann Ngankam einen für Zweitligaverhältnisse außerordentlich guten Angriff bilden. Maza, Scherhant und Tony Rölke bilden eine talentierte Reserve. Sollte das 4-4-2 mit einem Doppelsturm das favorisierte System sein, wäre die Hinzunahme eines etwas erfahreneren Stürmers jedoch ratsam. So oder so wird es keinen Platz mehr für Wilfried Kanga und Krzysztof Piatek geben.
Die Mischung macht's
Wie bei einem Abstieg so üblich fällt auch bei Hertha BSC der Kaderumbruch eher großflächig aus. Viele Spieler wollen und müssen verkauft werden, um die eigenen finanziellen Ziele zu erreichen, eine klarere sportliche Richtung einzuschlagen und wechselwillige Profis nicht die Kaderatmosphäre vergiften zu lassen. Gleichzeitig müssen sich die Berliner um den Verbleib von potenziellen Säulen wie Mittelstädt und Ngankam bemühen.
Geht all das auf, kann aus den Verbleibenden ein interessanter Mix aus erfahreneren Spielern wie Gersbeck, Uremovic, Cigerci oder Niederlechner und Talenten wie Gechter, Veit, Scherhant oder Maza entstehen. Die Abgänge von sportlich enttäuschenden Spielern wie Plattenhardt, Kenny und Kanga können dahingehend Platz für Neues schaffen – eine Chance. Das Beuteschema ist dabei klar: Hertha sucht hungrige, kostengünstige Spieler – idealerweise mit Zweitligaerfahrung – die den Klub als Chance begreifen und für die ein Bundesliga-Aufstieg etwas ganz Besonderes wäre. Das stärkt die Mentalität, Führungsstärke und Stimmung innerhalb der Mannschaft – ein entscheidendes Rezept im Aufstiegsrennen.
Hierbei muss Sportdirektor Weber möglichst schnell arbeiten, damit sich der Kern der neuen Mannschaft zu Vorbereitungsbeginn bereits kennenlernen kann. Angesichts der vielen Personalien und der Lizenzfrage eine sehr schwere Aufgabe. Doch Weber, der seit 18 Jahren bei Hertha arbeitet, drei Tage für eine Wintertransferperiode bekam und drei Monate nach Amtsbeginn seinen ersten Trainer entlassen musste, wird die Frage stellen: Wann war es bei Hertha BSC jemals einfach?
Sendung: rbb24, 18.15 Uhr, 04.06.2023