Neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Wie die verfassungswidrige Datei "Gewalttäter Sport" Fußball-Fans stigmatisiert

Di 19.11.24 | 15:59 Uhr | Von Marc Schwitzky
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Eine Hundertschaft der Polizei rückt in den Fanblock von Hertha BSC ein. (Foto: IMAGO / Fotostand)
Bild: IMAGO / Fotostand

Das Bundesverfassungsgericht hat wesentliche Vorschriften im BKA-Gesetz zur polizeilichen Sammlung von Personendaten für verfassungswidrig erklärt. Welche Auswirkungen hat das auf die Datei "Gewalttäter Sport"? Und was sagen die Beteiligten? Von Marc Schwitzky

Fußball-Fans konnten am 1. Oktober 2024 zumindest ein wenig aufatmen: Nach jahrzehntelangem Kampf hat das Bundesverfassungsgericht Teile des BKA-Gesetzes und somit der Datei "Gewalttäter Sport" (GTS) für verfassungswidrig erklärt. Damit könnte die weitreichende Speicherung persönlicher Daten von Fußball-Fans, die zu Polizei-Maßnahmen führen kann, bald ein Ende haben. Doch Fußball-Fans bleiben alamiert - und die Politik bittet für die Umsetzung des Gerichtsurteils um Geduld.

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BKA-Gesetz: Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten.

Größe der GTS-Datei: In den vergangenen zehn Jahren verringerte sich die Anzahl der erfassten Personen in der Datei "Gewalttäter Sport" immer weiter: 2014 waren es noch über 12.000, im April 2023 waren es laut dem Deutschen Bundestag nur noch knapp 5.700 Eintragungen.

Was ist die Datei "Gewalttäter Sport"?

"Bei der Datei 'Gewalttäter Sport' handelt es sich um eine Verbunddatei [des Bundeskriminalamts (BKA), Anm. d. Red.], welche es den Polizeien der Länder sowie der Bundespolizei ermöglicht, sport-spezifische Personenerkenntnisse zu speichern und im Fahndungssystem INPOL abzubilden", heißt es seitens der Polizei in Nordrhein-Westfalen [polizei.nrw], dem Bundesland, welches die Datei zentral führt.

Werden Menschen bei Sportveranstaltungen, meist Fußball, strafrechtlich auffällig, können sie in die Datei eingetragen werden. Dafür müsse, so die Polizei NRW, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden sein oder sie rechtskräftig verurteilt worden sein. Auch Personalienfeststellungen, Platzverweise und Ingewahrsamnahmen würden demnach als Grund reichen – solange Tatsachen den Verdacht rechtfertigen, "dass sich diese Personen zukünftig im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen an Straftaten von erheblicher Bedeutung beteiligen werden".

Die Datei gibt es seit 1994, seit 2006 beinhaltet sie die Daten aller Polizeien der Länder und der Bundespolizei. Das Ziel ist, mit der Speicherung von persönlichen Daten zu verhindern, das Gefährder:innen unbeaufsichtigt an Sportveranstaltungen teilnehmen und womöglich weitere Straftaten begehen. Dafür werden nicht nur Dinge wie Name, Geschlecht oder Geburtsdatum gespeichert, sondern – wie der WDR vor Jahren recherchierte – auch Schuhgröße, äußerliche Merkmale oder Dialekt.

Kritik an Kriterien für Aufnahme in Datei

Doch die Datei steht seit Jahrzehnten in der Kritik. Das wohl größte Problem, das Fanhilfen, Anwält:innen und Vertreter:innen immer wieder äußern, ist die Eintrittsschwelle in die Datei.

"Wenn man bei einer Auswärtsfahrt im Zug sitzt und dort ein fremder Konflikt von anderen Fans ausgelöst wird – beispielsweise ein Streit oder Sachbeschädigung – werden alle Fans in gleichen Vereinsfarben unter Generalverdacht gestellt und deren Personalien von der Polizei festgestellt", erklärt Oliver Wiebe vom Dachverband der Fanhilfen, unter dem sich 24 Fanhilfen organisieren.

"Es gibt keine Gewalttat, kein Strafverfahren, es muss kein Staatsanwalt dafür gefragt werden und dennoch stehst du in einer sogenannten Datei für Gewalttäter", ergänzt René Lau, der seit vielen Jahren als Fananwalt arbeitet und immer wieder rechtliche Auseinandersetzungen mit der Datei erlebt. Damit beschreibt er eine völlig andere Realität als die Polizei NRW, in der Fußball-Fans nahezu willkürlich in der GTS-Datei landen.

Fans wissen nicht, dass sie in der Datei stehen

Neben jenem Vorwurf der Willkür gibt es zwei weitere große Kritikpunkte am polizeilichen Umgang mit der Datei. "Forderungen der AG Fananwälte werden seit Jahren nicht umgesetzt", sagt Anwalt Lau. "Jemand, der in die Datei eingetragen wird, muss darüber informiert werden und auch eine Rechtsbehelfsbelehrung erhalten."

Zudem: "Es liegen keine Löschfristen vor; es ist völlig unklar, wer wann wie in diese Datei eingetragen wird", so Oliver Wiebe. Die Fanhilfe von Hertha BSC hatte laut Sprecher Fritz Müller vor Jahren eine größere Datenabfrage zur Datei "Gewalttäter Sport" durchgeführt. Dabei kam heraus, dass immer noch die Daten von Personen festgehalten waren, die bereits vor Jahren gerichtlich freigesprochen oder deren Verfahren eingestellt wurden.

Die Stigmatisierung von Fußballfans

"Eine Speicherung in der Datei öffnet den Instrumentenkasten der Polizeibehörden gegen einzelne Betroffene", sagt Müller von der Hertha-Fanhilfe. Teil jener Datei zu sein, kann den privaten Alltag von Fußballfans beeinflussen. Sie erhalten anlasslose Besuche und Gefährderansprachen der Polizei, dürfen für Urlaube oder Dienstreisen keine Ländergrenzen überqueren oder sie erfahren bei Fußballspielen ohne konkreten Grund eine deutlich ruppigere Behandlung der Einsatzkräfte.

"Man will Fans als Gewalt- und Straftäter stigmatisieren", so Anwalt Lau. "In der Datei ist überhaupt nicht ersichtlich, weshalb man eingetragen worden ist und ob es beispielsweise ein laufendes oder sogar eingestelltes Verfahren ist. Die Polizei sieht nur, dass man drin steht und wird einen bei beispielsweise Personenkontrollen sicherlich anders behandeln als andere."

Auf lange Sicht ist diese Datei nach unserer Sicht unhaltbar. Sie führt zu absoluter Willkür und muss somit abgeschafft werden.

Oliver Wiebe, Dachverband der Fanhilfen

Neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts

All jene Argumente waren Puzzleteile im zuletzt jahrelang anhaltenden Kampf der Fans, das BKA-Gesetz und damit die Datei "Gewalttäter Sport" rechtlich anzugehen. Am 1. Oktober 2024 feierten sie einen ersten Erfolg. An jenem Tag verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass Teile des Bundeskriminalamtgesetzes nicht mit dem Grundrecht vereinbar sind. Der Verfassungsbeschwerde von Rechtsanwält:innen, einem politischen Aktivisten und Mitgliedern der organisierten Fußball-Fanszene wird somit in Teilen Recht gegeben.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt klar, dass es dem BKA-Gesetz und somit auch der GTS-Datei "an einer angemessenen Speicherschwelle und ausreichenden Vorgaben zur Speicherdauer" fehlt – zwei der Hauptkritikpunkte an der Datei. Bis zur Neuregelung, spätestens bis zum 31. Juli 2025, muss das Bundesinnenministerium eine Gesetzesreform erarbeitet haben.

"In der Konsequenz dieses Urteils wird nunmehr eine Prognose zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Absprache mit den betroffenen SKB (szenekundigen Beamten), Standorten im Bundesgebiet oder International von Seiten hiesiger Dienststelle abverlangt", erklärt die Polizei Berlin auf Anfrage.

Der Polizei Berlin seien keine Fälle bekannt, in denen Fußball-Fans in die GTS-Datei eingetragen worden seien, obwohl sie mit dem jeweiligen Vorfall nichts zu tun gehabt hätten, das Verfahren gegen sie eingestellt oder sie freigesprochen worden seien. Auch seien keine Fälle bekannt, in denen Personen rechtlich ihre Löschung aus der GTS-Datei erwirkt hätten und später hätten feststellen müssen, dass Ihre Daten dennoch weiterhin in der Datei zu finden gewesen seien.

Ferner hat die Berliner Polizei nach eigenen Angaben keine Kenntnis von Fällen, bei denen Personen, deren Daten in der GTS-Datei gestanden hätten / stünden, beispielsweise auf Dienstreisen oder privaten Urlauben an Ländergrenzen oder Flughäfen von Sicherheitskräften wie Polizeikräften abgefangen oder verhört worden seien.

Ein erster Erfolg – aber der Kampf geht weiter

"Fakt ist: Die Grundlage für die Datenspeicherung ist derzeit rechtswidrig. Das ist ein riesiger Erfolg nach jahrzehntelangem Einsatz", sagt Fanhilfe-Sprecher Müller über das Gerichtsurteil. "Es geht in die richtige Richtung, dass es in Deutschland keine Daten-Sammeldatei geben darf, deren Rechtsgrundlage fehlt", sagt Benjamin Weichert, Vorstandsmitglied der "Eisernen Hilfe", der Fanhilfe von Union Berlin.

Weichert stellt jedoch klar: "Es kann nur der Anfang sein, denn die Datei darf keine Zukunft haben." Damit bläst er in dasselbe Horn wie der Rest der Fanvertretenden. Die Grundproblematik der Stigmatisierung würde mit dem Fortbestehen der GTS-Datei bleiben, weshalb der Kampf der Fanszene nicht beendet sei.

Wie reagieren die Regierungsparteien auf das Gerichtsurteil?

Eigentlich sollte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Wasser auf den Mühlen der deutschen Bundesregierung sein. Die Ampelregierung hatte sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 darauf geeinigt, "die Datei 'Gewalttäter Sport' in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Löschfristen, Transparenz und Datenschutz" zu reformieren.

"Die Erfassung ohne rechtliche Verurteilung durch bloße Personalienfeststellung oder fehlende Inkenntnissetzung der erfassten Personen führte durchgehend zu einer Aufnahme von Fußballfans, die häufig nicht die Definition eines 'Gewalttäters im Sport' erfüllen, sagt Philip Krämer, Grünen-Obmann im Sportausschuss des Bundestags. "Infolgedessen kam es zu einer pauschalen Kriminalisierung von Fußballfans. Bürgerrechte gelten natürlich auch für Fußballfans und daher braucht es dringend Veränderung im Umgang."

"Nicht jeder Zweck heiligt die Mittel. Insbesondere bei solch eingriffsintensiven Maßnahmen muss die gesetzliche Grundlage genau ausdifferenziert sein", sagt FDP-Obmann Philipp Hartewig. Die SPD will eine grundrechtskonforme Datei "Gewalttäter Sport" alsbald umsetzen, aber auch in Erinnerung rufen: "Leider gibt es weiterhin einen nicht unerheblichen Kreis von Personen, die Sportereignisse für gewalttätige Aktionen missbrauchen. Diese Hooligan-Szene muss konsequent beobachtet werden, um diese Ausschreitungen bestenfalls zu verhindern."

Die Koalition platzt - Auswirkungen auf die Gesetzesreform

Noch 2024 sollte das Bundesinnenministerium einen Vorschlag zur Diskussion vorlegen. Bisher hat das Bundesinnenministerium offenbar einen Evaluationsbericht zur Datei 'Gewalttäter Sport' angefertigt, der dem Parlament allerdings noch nicht vorliegt.

"Wir sehen anhand der letzten Jahre, dass die Ampelregierung ihre Prioritäten scheinbar woanders setzt. Wir erwarten nicht viel, auch weil es eine Debatte ist, die nicht in der breiten Öffentlichkeit geführt wird. Es ist scheinbar ein Nischenthema, auch wenn es staatliche Willkür betrifft", zeigt sich Weichert von der "Eisernen Hilfe" wenig optimistisch ob des Zeitplans.

Auf Anfrage von rbb|24 kann das Bundesinnenministerium noch keine genaue Prognose ausgeben, die Auswirkungen des Gerichtsurteils würden derzeit noch geprüft. Vermutlich wird jene Prüfung noch wesentlich länger anhalten, denn vor einigen Tagen platzte die Ampel-Regierung. Neuwahlen hätten großen Einfluss auf derzeitige gesetzliche Vorhaben - so auch die Neuregelung des BKA-Gesetzes, die nun zeitlich in der Schwebe steht.

Sendung: Der Tag, 12.11.2024, 18 Uhr

Beitrag von Marc Schwitzky

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4 Kommentare

  1. 4.

    Vor allem, wenn sie wie die Ultras von Union und Hertha für die Obdachlosenhilfe und andere soziale Projekte Zehntausende Euro und Sachspenden sammeln... Welches soziale Engagement zeigen Sie denn?




  2. 3.

    90% der Fußballfans sind einfach asozial.

  3. 2.

    Und Nachtrag zu meinem ersten Kommentar zu Ihrem: Sie schreiben in Ihrem Kommentar korrekt von "meiner Meinung nach".

    Worauf gründen Sie diese? Eine Meinung allein ersetzt bei weitem keine Fakten.

    Ich wäre auf Ihre Quellen und Ihre Faktenbasis sehr gespannt ...

  4. 1.

    Wie kann man von ,,Stigmatisierung'' sprechn, wenn es um GEWALTTÄTER geht? Die werden meiner Meinung nach mit Samthandschuhen angefaßt.

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