Kommentar | Gersbeck-Rückkehr bei Hertha - Wenn Werte weich werden
Das Verfahren nach seiner Prügel-Attacke ist eingestellt und Hertha BSC ermöglicht Keeper Marius Gersbeck die Kader-Rückkehr. Für diese fast bruchlose Wiedereingliederung ist die Verfehlung zu groß, kommentiert Dirk H. Walsdorff.
Hertha BSC ist ein besonderer Verein. Vor allem in den verwirrten und verwirrenden Jahren des Big-City-Club-Wahns ging gelegentlich in der allgemeinen Wahrnehmung unter, dass die Charlottenburger einen ziemlich gut sortierten Wertekanon ihr Eigen nennen und diese Werte auch leben.
Fangruppierungen wie "1892 hilft" und die "Axel Kruse Jugend" sind bundesweit leuchtende Beispiele für Fußballanhänger, die soziales Engagement mit ihrer sportlichen Leidenschaft auf bewundernswerte Weise verknüpfen. Hertha BSC wird als Ganzes seit vielen Jahren dem Anspruch gerecht, die Buntheit und Vielfalt der Weltstadt Berlin im Verein zu spiegeln. Hertha BSC war der erste Bundesligist, bei dem queere Fans ihren sicheren und willkommenen Platz im Stadion hatten, einer der ersten Klubs der die Charta der Vielfalt unterzeichnete.
Hertha BSC, der Verein mit maximaler Konsequenz ...
Hertha, das ist der Verein, der vor zwei Jahren seinen Torwarttrainer kurzerhand feuerte, weil er in seiner ungarischen Heimat einer Zeitung ein Interview gegeben hatte, in dem homophobe und fremdenfeindliche Aussagen zu lesen waren. Statements, die sich mit dem Wertekanon der Blau-Weißen nicht vereinbaren lassen. Dem Torwarttrainer - Zsolt Petry - wurde fristlos gekündigt.
Genau wie später einem zuvor von ihm trainierten Torwart - Rune Jarstein - der den Nachfolger eben dieses Trainers auf dem Übungsplatz beschimpft hatte. Ein Ad-hoc-Rausschmiss wegen vereinsschädigenden Verhaltens galt selbst für den beinahe allmächtigen Geschäftsführer - Fredi Bobic - der nach dem verlorenen Derby gegen Union einem rbb-Reporter "ein paar aufs Maul" angedroht hatte.
Hertha BSC ist ein Arbeitgeber mit maximaler Konsequenz für diejenigen, die sich über die Werte des Vereins erheben. Die so verargumentierte Kündigung von Bobic dürfte einer juristischen Prüfung kaum Stand halten, aber das ist in dieser Diskussion nachrangig.
... bis zur Causa Gersbeck
Und dann kam Gersbeck. Der Torwart, der vor fast genau zehn Jahren für eine der schönsten Anekdoten in Herthas Bundesliga-Historie sorgte. Ein Junge aus der Ostkurve, gerade 18, muss ausgerechnet bei Borussia Dortmund in den Kasten und hält vor 80.000 Fans den Auswärtssieg fest. So schön kann Fußball kurz vor Weihnachten 2013 sein.
Im vergangenen Sommer holte Hertha jenen Marius Gersbeck zurück. Inzwischen ist er ein gestandener Profi mit 100 Einsätzen beim befreundeten Karlsruher SC auf der Habenseite. Und die geborene Identifikationsfigur für den Klub, der es mit dem "Berliner Weg" wieder langsam, aber sicher nach oben schaffen will.
Hertha-Torwart hätte ins Gefängnis gehen können
Der "Vorfall" im Trainingslager durchkreuzte Gersbecks und Herthas Ambitionen. Ein Vorfall, bei dem am Ende keiner etwas Dummes sagt, jemanden schwer beschimpft oder verunglimpft. Sondern ein Vorfall, bei dem ein Mensch durch einen anderen Menschen so schwer verletzt wird, dass er mehrere Tage im Krankenhaus bleiben muss. Es gibt zutiefst verstörende Berichte, die die Situation eines am Ende wehrlosen Opfers erzählen, aber diese sind nicht belegt.
Marius Gersbeck hätte dafür ins Gefängnis gehen können. Es bleibt ihm erspart. Eine Geldstrafe, eine Entschuldigung und offenbar eine unter den Beteiligten geregelte Schmerzensgeldzahlung später ist der Fall juristisch erledigt - via "Diversion", wie es in der österreichischen Rechtsprechung heißt.
Hertha BSC hat diesen ganzen Vorgang von Anfang an völlig anders bewertet als die nach allen gängigen Maßstäben viel weniger dramatischen Verfehlungen anderer Vereinsangestellter. Das gemeinsame Bemühen um Resozialisierung, die Aussicht auf die zweite Chance, die Bereitschaft zu vergeben, der Wille eine Entschuldigung zu hören verbunden mit dem Glauben daran, dass diese Entschuldigung von Herzen kommt und die gelobte Besserung keine Floskel ist - dieses Bouquet der guten Aussichten für den reuigen Sünder bekommt Gersbeck exklusiv.
Und das nach einer Sünde, bei der viele der Auffassung sind, dass selbst hier die zweite Chance kommen kann und kommen soll. Aber nicht sofort. Und nicht bei Hertha, wo Gersbeck in kürzester Zeit vor seiner Ostkurve eingewechselt werden könnte und mutmaßlich von manchen aus alter Verbundenheit noch gefeiert würde.
Für die fast bruchlose Wiedereingliederung ins Team ist die Verfehlung zu groß, das dramatisch schlechte Beispiel nach innen und außen zu gewichtig.
Verbunden mit dem Mächtigsten auf der Tribüne
Ein Verein, der Menschen wegen irrlichternder Statements und verbaler Gewalt-Androhung fristlos entlässt, gibt demjenigen, der Gewalt in abstoßendster Art und Weise angewendet hat, quasi sofort die zweite Chance, die der Klub offenkundig von Anfang als präferiertes Szenario ausgemacht hatte. Weil es dem Verein sportlich nutzen kann. Und wohl auch, weil der Missetäter eine Vita hat, die ihn mit manchen Mächtigen in der Kurve verbindet - und, das gehört zur Wahrheit dazu, mit dem Mächtigsten auf der Tribüne, Hertha-Präsident Kay Bernstein.
An Werten konsequent festzuhalten, fällt immer wieder schwer. Jeder und jedem Einzelnen und ganzen Gesellschaften. Dem Fußball-Bundesligisten Hertha BSC übrigens schon zuletzt bei der Wahl des Brustsponsors. Weil es so schwer ist, können die, die es schaffen, für sich in Anspruch nehmen, besonders zu sein.
Hertha BSC ist nicht ganz so besonders, wie ich hoffte.
Dirk H. Walsdorff leitet seit 2013 die rbb-Sportredaktion und ist Moderator des Union- und Hertha-Podcasts "Hauptstadtderby".
Sendung: rbb24, 2.10.2023, 21:45 Uhr