Schlager, Rauch und Glückseligkeit - Hüpf, Holland! Hüpf!

Mi 26.06.24 | 12:53 Uhr | Von Fabian Friedmann
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Holländische Fans laufen über die Heerstraße in Berlin und man sieht orangen Rauch. (Bild: imago/Matthias Koch)
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Video: rbb24 | 26.06.2024 | Philipp Höppner | Bild: imago/Matthias Koch

Am Jahrestag ihres letzten EM-Titels feiern 20.000 Holländer ein friedliches Fanfest in Berlin. Aber was ist das Geheimnis ihrer Glückseligkeit bei Länderspielen und glauben die Fans selbst an eine Neuauflage von 1988? Von Fabian Friedmann

München, 25. Juni 1988, Finaltag der Europameisterschaft in Deutschland. Vor der Stadtgrenze versuchen holländische Fans auf Autobahnen Fahrzeuge anzuhalten, um den verdutzten Insassen mit horrenden Angeboten ihre Tickets schwarz abzukaufen. Die Stadt ist fest in holländischer Hand, auf den Rängen des Olympiastadions sieht man ausnahmslos eine Farbe: "oranje". "Es war ein totales Irrenhaus", erinnert sich Hollands Nationalspieler Gerald Vanenburg an den damaligen Tag im Magazin "11Freunde" [Bazahlinhalt].

36 Jahre warten auf den nächsten Titel

Diejenigen, die das Endspiel gegen die UdSSR erlebt haben, werden es niemals vergessen: Marco van Basten schießt per Volley eines der schönsten Tore der EM-Historie und am Ende reckt Kapitän Ruud Gullit den Pokal in den Münchner Himmel – an dem Ort, wo die "Elftal" 14 Jahre zuvor das WM-Finale gegen Deutschland mit 1:2 verloren hatte. Welch eine Genugtuung!

Seitdem wartet eine ganze Nation sehnsüchtig auf den nächsten großen Pokal. Und dass die Zuversicht der Holländer ungebrochen ist, beweisen sie auch auf den Tag genau 36 Jahre später. Auf dem Vorplatz der Messe Berlin bespaßen bereits seit dem Mittag zwei holländische DJs die trinkfreudige Meute. Laut Polizei sollen es 20.000 holländische Fans sein, die hier feiern. Bis zum Spiel gegen Österreich im Olympiastadion sind es zwar noch knappe sechs Stunden, aber die Stimmung ist dank Schlager-Techno bereits am Anschlag.

Rauchtöpfe und Schlagermusik

Stan und Carlo stehen im Schatten einer Säule und bestaunen das bunte Treiben. Beide sind Mitte 50 und erst gestern aus einem kleinen Dorf in den Niederlanden angereist. Wo waren sie am Tag des Titelgewinns 1988? "Ich habe gearbeitet. Aber als das Finale angepfiffen wurde, war ich zu Hause", sagt Stan. Natürlich erinnere er sich an das Tor von Marco van Basten. "Das vergisst man nicht." Und gibt es diesmal den ersehnten Titel? Carlo winkt ab, er glaubt ans Halbfinale – mehr nicht. Die Spanier seien zu stark.

Eine Stunde später kommt Bewegung in die orange Masse. Auf der Masurenallee formieren sich hinter einem Doppeldecker-Bus Tausende Fans - und fünf liebevoll gestaltete Papp-Figuren niederländischer Fußball-Helden: Arjen Robben, Ruud Gullit, Johan Cruyff, Dennis Bergkamp, Marco van Basten. Zum Schlager "Viva Hollandia" und zahlreichen, gezündeten orangenen Nebeltöpfen setzt sich der Tross um 14:29 Uhr Richtung Theodor-Heuss-Platz in Bewegung.

Holländische Fans halten Papp-Figuren. (Bild: imago/Matthias Koch)Die niederländischen Fußball-Helden von damals (von links): Robben, Cruyff, Gullit, Bergkamp, van Basten. (Bild: imago/Matthias Koch)

Snollebollekes trifft auf Karneval

Über den "Theo" geht es weiter auf die Heerstraße. Schnell werden bei einem Feinkost-Laden die letzten Bierreserven geplündert, ehe der Fanmarsch an der Ecke zur Württembergallee das erste Mal stoppt. Zeit für den "Links rechts"-Tanz zum gleichnamigen Party-Kracher der Band "Snollebollekes". Kurz danach wird unter großem Jubel Feuerwerk gezündet und das nächste Dutzend Rauchtöpfe geht in die Luft. Da muss jemand beim Pyroversand richtig zugeschlagen haben.

Aufgrund des Kostümaufkommens hat der Zug auch etwas von Karneval: Einige Königinnen, Könige und Löwen sind zu sehen, sehr viele orange Anzüge, dazu gesellen sich Superhelden und Comicfiguren. Ein Mann hat eine Gummipuppe Huckepacke genommen, in der Hand hält er (natürlich!) einen orangen Rauchtopf.

Diese Spiele hier, das sind nationale Feiertage, fast wie unser Koningsdag. Da wollen alle nur feiern.

Robert, holländischer Fan aus Amsterdam

Oranje-Oma macht Laola

Weiter geht die Fan-Reise rechts ab in die Preußenallee. Im Vorgarten eines Hotels wird kollektiv die Notdurft verrichtet und dabei die Rosen begossen, es wird aber peinlich darauf geachtet, diese nicht zu zertreten. Ein älteres, schaulustiges Ehepaar auf einem Balkon bekommt an der Ecke Marathonallee einen aufgeblasenen Fußball zugeworfen. Unter großem Jubel fängt die Dame den Ball, wirft ihn zurück und zelebriert anschließend eine Loala-Welle mit den vorbeilaufenden Oranje-Fans. Glückseligkeit, so weit das Auge reicht!

Andere Nationen haben bei Länderspielen ein Hooligan-Problem, bei holländischen Auftritten gibt es so etwas nicht. "Wenn wir das orange Trikot anziehen, dann fühlen sich alle vereint und verbunden", erklärt Robert das friedliche Treiben. Der Fan ist erst heute extra für das Spiel aus Amsterdam eingeflogen. Bei den Vereinen in der holländischen Eredivisie habe man zwar auch Gewaltvorfälle an den Spieltagen, meint er, "aber diese Spiele hier, das sind nationale Feiertage, fast wie unser Koningsdag. Da wollen alle nur feiern."

Nach Gullit-Kopfball aus dem Bett geholt

Am Steubenplatz entern die Feierwütigen kurzerhand das Wiener Kaffeehaus. Ein Omen für das Spiel gegen die Österreicher? Ein Mann im Oranje-Trikot hält ein Schild hoch mit der Aufschrift "Poffertjes better than Kaiserschmarrn". Erstgenanntes sind holländischen Mini-Pfannküchlein. Das Olympiastadion ist bereits in Sichtweite und die Polizei meldet sich über Lautsprecher zu Wort. Der Fanmarsch sei nun vorbei. Wer kein Ticket habe und das Spiel sehen wolle, der möge doch bitte zur Fanmeile ans Brandenburger Tor weiterziehen. Der Polizist endet seine Ansprache mit den Worten: "Habt ihr super gemacht!" Mehr Lob geht nicht.

An einem Imbiss steht Willem. Er trägt ein holländisches Retro-Trikot mit der Nummer 12 und "van Basten"-Namenszug. Was verbindet er mit dem 88er-Finale? "Das ist eine meiner ersten Kindheitserinnerungen", sagt Willem. Er sei vier Jahre alt gewesen und lag bereits im Bett als Ruud Gullit per Kopf das 1:0 erzielte. "Der Jubel im Wohnzimmer meiner Eltern war so laut, dass ich aufgewacht bin. Mein Vater holte mich dann aus dem Bett und ich durfte das Finale zu Ende schauen", erzählt der 40-Jährige und man kann das Leuchten in seinen Augen förmlich spüren, auch wenn sie hinter einer Sonnenbrille versteckt sind.

1988 als Teil der Folklore

Um Willem herum stehen weitere Fans, die T-Shirts mit der Aufschrift "Remember 88" tragen. "Das Spiel ist so etwas wie ein Teil der Folklore in Holland", meint Willem. Junge Landsleute wüssten gar nicht, wie es sich anfühlt, einen Titel zu gewinnen. Und die Sehnsucht danach sowie die Reiselust der Niederländer lässt sie immer wieder ihre Koffer packen und ihr Team dort unterstützen, wo sie gebraucht werden.

Wobei Willem aus Zwolle nicht an den EM-Titel für Holland glaubt: "Wir sind noch nicht reif genug. Eher die WM in zwei Jahren, das könnte unser Turnier werden", sagt er. Robert aus Amsterdam sieht das anders: "36 Jahre ohne Pokal sind zu lang. Es wird Zeit für einen Titel."

Im Spiel gegen Österreich haben die Holländer am Ende mit 2:3 das Nachsehen. Das Achtelfinale hat die Mannschaft von Trainer Ronald Koeman trotzdem erreicht. Der Traum von Oranje lebt also vorerst weiter und die orangenen Rauchtöpfe werden anderweitig durch deutsche EM-Städte getragen.

Sendung: Radio Fritz, 26.06.2024, 06:15 Uhr

Beitrag von Fabian Friedmann

7 Kommentare

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  1. 7.

    Feierweltmeister sind Holländer und Schotten schon mal.

    Sollten es unsere Nachbarn bis ins Finale schaffen, darf sich Berlin sicher wieder auf Orange freuen, ob es dann bei den 40.000 bleibt oder kommen mindestens doppelt so viele (sofern die Bahn nicht wieder versagt)?

  2. 6.

    Ich drück die Daumen für Rumänien, die können auch mal gewinnen!!!

  3. 5.

    Ich kann bei dieser EM keinen Unterschied bezüglich der Zufriedenheit von Deutschen und Angehörigen anderer Nationen erkennen.
    Die vollen Fanmeilen, Public Viewings und Kneipen - auch und gerade bei Spielen der deutschen Nationalmannschaft - sowie die sehr hohen TV-Einschaltquoten sprechen zudem eine deutliche Sprache.
    Gehen Sie mal raus, moep, mischen Sie sich analog unters Volk und genießen Sie die Menschen und die EM - es lohnt sich! :-)

  4. 1.

    Die Holländer sind einfach ein zufriedenes Völkchen und haben wie andere Länder ein ganz anderes Selbstverständnis. Das wird es so hier nie geben.

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