Konzertkritik | "Keimzeit Akustik Quintett" - Der Kling-Klang von Proust
Zum ersten Mal hat sich die Musikgruppe Keimzeit für ein ganzes Album von einem Jahrhundertroman inspirieren lassen. Am Montag stellten die Brandenburger "Schon gar nicht Proust" im Tipi am Kanzleramt in Berlin vor. Von Corinne Orlowski
Wie ist das, wenn man Geburtstag hat? Da bekommt man gerne mal einen Roman geschenkt. Und die ungelesenen Bücher stapeln sich dann unterm Bett, weil man keine Zeit hat, sie zu lesen oder nach wenigen Seiten einschläft. Keimzeit-Frontsänger Norbert Leisegang rät denen, die etwas verschenken wollen: Es geht "eigentlich alles - außer Marcel Proust".
Leisegang hat genau das wohl getan: Er hat das siebenbändige Jahrhundertwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" des französischen Schriftstellers gelesen und daraus ein ganzes Album entwickelt. Als er mit seinem Akustik-Quintett auf die Bühne kommt, dreht er eine große Sanduhr um, die durchweg im Spot steht. Ab jetzt kann man der Zeit beim Verrinnen durchs Stundenglas zusehen. Aber: Akustik? Von wegen. Zwei Gitarren, ein Bass, ein Schlagzeug und eine Geige. Das ist eine Rockband und was für eine sympathische!
Lebenskluge Texte und atmosphärische Bilder
Es gibt ein Proust-ABC, ein Proust-Lexikon, eine Proust-Enzyklopädie. Wer aber keine Zeit verlieren will, um einen Eindruck von diesem 4.000-seitigem Roman zu bekommen, lässt sich einfach von Keimzeit davon erzählen. Sie haben sich Orte, Stimmungen und Figuren aus dem Romanzyklus herausgepickt und erklären, dass "der Vorzug des Lebens auf dem Land der Mangel an Nachteilen" ist, warum sich die Großmutter von Marcel fotografieren lässt, was dem Geiger Charlie Morel auf die Nerven geht und wohin es das Sofa von Tante Leonie verschlägt.
Proust hat eine Hommage an die Beobachtungsgabe geschrieben und das Wesen der Erinnerung erforscht. Die Madeleine im Tee beschwört die Kindheit herauf, die erst in der Erinnerung eine Leuchtkraft bekommt. Das "Keimzeit Akustik Quintett" geht mitten rein in den Moment, kreiert lebenskluge Texte und atmosphärische Bilder.
Nicht fehlerfrei, aber mit enormer Leuchtkraft
Für jeden Song haben sie einen eigenen Sound gefunden, mal rockig, mal orientalischen, etwas Disco und Chansonjazz. Alles zusammengehalten von der unverwechselbaren Stimme Leisegangs. Nur die ist zu Beginn nicht so gut drauf und das Tempo insgesamt stimmt nicht ganz. Das Licht passt auch nicht so wirklich. Aber mit der Zeit spielen sie sich ein, ein verlegenes Schmunzeln wächst zu einem ansteckenden Lachen. Sie scherzen vertraut miteinander, flüstern sich ins Ohr.
Im zweiten Teil kommen die älteren Lieder dazu – wie die vom Album "Albertine" und sogar (Film-)Musik von "Gundermann" bis "Big Lebowski". Jetzt stimmt der Rhythmus. Jede und jeder darf mal glänzen: Fantastisch ist Martin Weigel an der Gitarre und Gabriele Kienast an der Violine. Sogar der Schlagzeuger Christian Schwechheimer singt ein Duett.
Melancholisch schön
Und dann? Wo ist nur die Zeit geblieben? Die Sanduhr ist längst zwei Mal durchgelaufen, aber die Fünf spielen einfach weiter und singen sich zum Abschied in die Herzen des Publikums mit ihrem größten Hit "Kling Klang", melancholisch schön. Kein fehlerfreies Konzert, aber eins ganz im Proustschen Sinne mit enormer Leuchtkraft. Dafür gibts Standing Ovations.
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.03.2023, 06:23 Uhr