Interview | Autorin Nele Pollatschek - "Kleine Probleme bringen uns oft an den Rand des Zusammenbruchs"

Sa 16.09.23 | 07:12 Uhr
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Archivbild: Die Autorin Nele Pollatschek sitzt am 29.05.2021 bei einer Probe zur Veranstaltung "Gib uns die Klarheit langer Tage" im Rahmen der Lit.Cologne im Studio. (Quelle: dpa/Henning Kaiser)
Bild: dpa/Henning Kaiser

2017 schaffte die Berliner Schriftstellerin Nele Pollatschek mit ihrem Debüt "Das Unglück anderer Leute" den Durchbruch. Jetzt ist ihr drittes Werk erschienen. Warum auch kleine Probleme plötzlich riesig groß werden können, erzählt sie im Gespräch mit Hilka Sinning.

"Kleine Probleme" heißt der neue Roman von Nele Pollatschek. Darin erzählt sie vom Chaos und davon, wie schwer es ist, Ordnung zu schaffen. Für Nele Pollatschek sind es nicht die großen Dramen, die uns verzweifeln lassen, sondern ein unaufgeräumtes Wohnzimmer und nicht beantwortete E-Mails. Ein Gespräch mit der Autorin über Chaos, das Schreiben und ihr Aufwachsen im Osten.

rbb: Frau Pollatschek, wie sind Sie auf die Idee für Ihr neues Buch “Kleine Probleme“ gekommen?

Nele Pollatschek: Ich glaube, es gibt in der Literatur eine Tendenz, Bücher über große Traumata zu schreiben, Bücher, die ihre Relevanz daraus ziehen, dass jemand vergewaltigt, ermordet oder rassistisch diskriminiert wird. Ich habe auch schon große Dramen erlebt, aber mein Gefühl ist, dass die Dramen in Wirklichkeit gar nicht so prägend für einen selbst sind.

INFOBOX

Nele Pollatschek: Kleine Probleme © Galiani Berlin
Galiani Berlin

Nele Rahel Pollatschek wurde im März 1988 in Ost-Berlin geboren. Von 2008 bis 2012 studierte sie Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg und Cambridge und schließlich in Oxford. Während ihrer Promotionszeit in Oxford veröffentlichte sie ihren Debütroman "Das Unglück anderer Leute", der 2017 mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg und 2019 mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet wurde.

Im Jahre 2020 erschien "Dear Oxbridge": Liebesbrief an England, in dem sie ihre Erfahrungen an den Universitäten Oxford und Cambridge beschreibt. Im Mai 2021 wurde sie für die Dauer eines Monats als Stadtschreiberin in Ansbach ausgezeichnet. Ihr neuer Roman "Kleine Probleme" ist im September im Verlag Galiani Berlin erschienen.

Heißt Ihr Roman deshalb "Kleine Probleme"?

Die meiste Zeit des Lebens verbringt man doch damit sich zu fragen: Habe ich die Spülmaschine jetzt noch angemacht oder ist der Herd noch an? Oder ist die Post da? Große Gefühle habe ich, wenn ich weiß, dass ich in fünf Minuten etwas abgeben muss, aber der Drucker funktioniert nicht. Und dann müsste ich den Treiber installieren. Aber ich habe das Betriebssystem nicht und dann stürzt das Ganze ab und dann funktioniert das W-Lan nicht. Und ich habe auch noch nichts gegessen und ich muss aufs Klo. Ich glaube, dass wir sehr viel Zeit mit kleinen Problemen verbringen, die uns in Wirklichkeit - wenn wir ehrlich sind - sehr oft an den Rand des Zusammenbruchs bringen.

Der Held des Romans heißt Lars, er ist 49 Jahre alt, Familienvater und angehender Schriftsteller. Er ist der Ich-Erzähler. Warum wird die Geschichte aus der Perspektive eines Mannes erzählt?

Ich habe nicht das Gefühl, dass mir 35-jährige Frauen ähnlicher sind als 50-jährige Männer, sondern ich habe das Gefühl, dass es eigentlich so bestimmte Hirntypen gibt oder bestimmte Arten zu denken. Und Menschen, die so denken und so sind wie ich, sind mir ähnlicher als andere. Und dann ist es egal, welches Geschlecht sie haben. Es gibt eben Menschen, die sehen die Welt so wie ich, also haben sie die gleiche Perspektive und diese Art von Emotionalität. Und ich wollte gerne etwas schreiben, von dem ich denke, dass es universell ist.

Das Gefühl von Chaos und die Sehnsucht nach Ordnung sind Ihnen also durchaus vertraut?

Also Aufschieberitis ist ein Lebensthema. Natürlich schiebe ich permanent alles vor mir her. Dann denke ich, das mache ich gleich und dann geht es immer weiter und immer schneller und immer schneller - und irgendwann stehe ich da und denke, alles prasselt nur noch so auf mich hinunter.

Viele Ihrer Romane handeln von dem, was nicht funktioniert. Schon der erste Roman "Das Unglück anderer Leute" erzählt von dem Auseinanderfallen einer Familie. Reizt Sie das am Schreiben?

Ich habe wahnsinnig viel in meinem Leben gelesen, aber ich bin ein schlechter Leser. Also ich finde es schwer, mich dazu zu überwinden, etwas zu lesen, was ich öde finde. Und dann gibt es manchmal das Buch, wo ich denke: Ja, genau, genau das ist es. Und ich will gerne für Menschen, die so sind wie ich, Bücher schreiben, Geschichten, die so sind, wie ich sie mag.

Sie wurden 1988 in Berlin geboren, nach dem Fall der Mauer sind Ihre Eltern in den Westen gegangen. Spielt das für Sie heute noch eine Rolle?

Ich glaube, meine Eltern sind auf eine Art typische Ossis, die mit der Wende in den Westen gegangen sind. Ich glaube, eine typische Ost-Erziehung ist eine mit einem großen Freiraum. Meine Eltern haben einfach immer gearbeitet und ich hatte sehr viel Zeit für mich. Ich empfinde das als großen Luxus, dass Eltern arbeiten und Kinder nicht nur betüddelt werden und irgendwie ihr Ding machen können.

Spüren Sie heute noch so etwas wie Ost-Sozialisation?

Woran man in meiner Generation eine Ost-Sozialisierung erkennt, ist die Tatsache, dass wir nichts erben werden. Ich glaube, es ist was ganz Materielles, das einen Riesenunterschied macht. Ob Du weißt, irgendwann kommt von den Großeltern das Haus oder ob du weißt, nee, bei mir wird nichts kommen. Das ist eine typische Ost-Erfahrung meiner Generation, dass man diese Art der materiellen Sicherheit einfach nicht hat.

Das sogenannte Ost-West-Gefälle wird derzeit wieder viel diskutiert - wie nehmen Sie das wahr?

Interessanterweise ist es eben so, dass Menschen, die aus dem Osten kommen, viel, viel weniger materielle Mittel haben, viel, viel weniger Produktionsmittel besitzen und auch viel weniger in hohen Führungspositionen arbeiten. Wenn man sich aber die Buchpreise anguckt, dann stehen ostdeutsche Schriftsteller schon seit der Wende hoch im Kurs.

Ein anderer großer Unterschied ist die Frage, ob Frauen Vollzeit arbeiten oder ob sie - wie im Westen - zu Hause beim Kind sein sollten. Der Gender-Pay-Gap liegt daher im Westen bei 21 Prozent und im Osten bei 7 Prozent. Und ich glaube auch, dass der Ost-Feminismus ein sehr guter war. Die materielle Gleichberechtigung brachte auch eine intellektuelle Gleichberechtigung hervor.

Im Buch ist immer wieder von "Nicht-Hinschauen" die Rede. Sollten wir wieder lernen, richtig hinzuschauen?

Die meiste Zeit unseres Lebens schauen wir nicht hin. Wir würden auch wahnsinnig werden, wenn wir immer hinschauen. Ich glaube, Leben funktioniert auch nur auf der Basis, dass wir 99 Prozent von dem, was uns umgibt, permanent ausblenden. Und natürlich ist das schrecklich. Natürlich wäre es besser, wenn wir immer permanent alles bearbeiten, alles lösen würden. Aber in Wirklichkeit kann ich in der Regel nicht mal ein Problem lösen.

In ihrem neuen Roman handelt auch vom Scheitern. Warum?

Der ganze Kleinkram, wenn man deswegen sein Leben nicht auf die Reihe kriegt, wenn man deswegen dasteht und denkt, so wollte ich das doch gar nicht, ich wollte doch was ganz anderes machen mit meinem Leben - dann ist das für mich tragisch. Aber es ist eine Art von Tragik, die wahrscheinlich jeder Mensch erfährt.

Frau Pollatschek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Hilka Sinning für die ARD-Sendung “titel, thesen, temperamente“. Ein Porträt über die Schriftstellerin finden Sie in der ARD-Mediathek.

Sendung: ttt, 03.09.2023, 23:05 Uhr

8 Kommentare

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  1. 8.

    Tut mir leid… ich hab solche Sorgen nicht und bin recht glücklich mit meiner Frau (und mir).
    Bin ich jetzt empathielos?

  2. 7.

    Die Autorin hat doch sicher von Ihrer West-Biographie profitiert, jedenfalls sieht es sehr danach aus. Ein Auslandsstudium in UK war in der DDR jedenfalls unmöglich. Und Kinder von Akademikern hatten es schwer an die Uni zu kommen, wenn die Eltern nicht zum politischen Establishment gehörten. Der Ost-Feminismus war ein paternalistischer mit freundlichen Zugeständnisen, nennenswerten politischen Einfluss hatten Frauen so gut wie gar nicht, abgesehen von Frau Honecker. Da war die BRD um Längen weiter. Davon abgesehen hatten die Frauen in der DDR oft eine Dreifachbelastung, dafür aber netterweise einen Haushaltstag an dem sie den Laden zuhause in Ordnung bringen durften. Wohnungen konnten "abgekindert" werden, wer gar keine Kinder wollte, machte sich verdächtig, den soz. Staat nicht unterstützen zu wollen. Kinder kamen obligatorisch in die Krippe, was eben auch Schattenseiten hatte über die heute keiner mehr reden will. Zu diesem Funktionsfeminismus sage ich: Nein danke!

  3. 6.

    Nun ja, aber die DDR-Innenstädte – ich habe 1986 Halle und ein paar andere kleinere Städte in der Gegend besichtigt – waren schon extrem marode. Und manche Leute hätten halt auch gerne ein paar Waren erstanden, ohne in der Schlange zu stehen. Von der Stasi und ähnlichen Errungenschaften mal nicht zu reden. Möchten Sie wirklich in diese sozialistischen Zustände zurück?

  4. 5.

    Beides ist richtig. Und Sie gehen mit der richtigen Einstellung ran.
    Nele hat vermutlich gemeint, dass bei Vermögensweitergaben der Ostteil benachteiligt ist. Ja das ist so, leider. Bis heute wird nicht gleich bezahlt in den Einstufungen. Dies hat sie nicht herausgearbeitet. Deshalb habe ich zugespitzt eine andere Sichtweise formuliert. Wenn man diese langsam(er) liest, kann man Weises erkennen?

  5. 4.

    "Und ich glaube auch, dass der Ost-Feminismus ein sehr guter war."

    War er auf jeden Fall. "Schlüsselkind" , "Rabenmutter" , "Kirche, Kinder, Küche" , "das bisschen Haushalt, macht sich von allein, sagt mein Mann" - alles eher BRD-spezifische Begrifflichkeiten.

    Leider findet er heute in den aktuell brandenden Debatten ums Geschlechterverhältnis nur wenig Beachtung.

    Die "Ossis" sind eben eine zahlenmäßige Minderheit im vereinten Deutschland.

  6. 3.

    Im Osten musste man auch nichts erben, denn es war ohnehin alle sehr günstig bis kostenlos. Nur im Kapitalismus bestehen die Leute darauf Geld anhäufen zu müssen und fühlen sich dann als etwas besseres. Die Bank gibt das Geld ohnehin an jemand anderen weiter. Wenn alle zur gleichen Zeit ihr Geld abheben würden, wären alle Banken sofort pleite. Die Zahlen auf ihrem Konto sind also faktisch nichts wert. Das ist Kapitalismus. Die Banken sind permant pleite und der Staat muss sie dann immer wieder mit künstlichem Geld versorgen, was dann wieder die Geldentwertung vorantreibt. Statt wie im Sozialismus Arbeit und Produktion in den Vordergrund zu stellen, produziert der Kapitalismus lediglich Geldblasen und Fantasiebeträge auf den Konten. Damit fühlen sich die Leute dann reich. Außerdem wird das meiste Ersparte ohnehin von den Pflegeheimen aufgezehrt, bevor das irgend jemand erben kann.

  7. 2.

    Danke für das interessante Interview. Und auch ein Danke an "Wossi" für den erheiternden Kommentar. Wenn ich jetzt daran denke, dass er den vermutlich auch noch ernst meint, muss ich schon wieder schmunzeln.

  8. 1.

    Nichts erben? Wie wäre es mit selbst erarbeiten? Und bevor sie dran ist, erben von den Großeltern erst einmal die Kinder. Warum sollten sie übergangen werden, für Nele? Das wäre ja eine Enterbung der eigenen Kinder. Wer macht denn sowas?

    Unterschiedliche Bezahlung für gleiche (Tätigkeiten) ist das Einzige was man akzeptieren kann, als Ungerechtigkeit. Es ist verboten. Wird Nele Pollatschek denn das Gleiche bekommen wie ihre männlichen Kollegen? Ich vermute mal ja! Und wenn sie mehr bekommen sollte? Wie gehen wir denn dann damit um? Würde das hier stehen?

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