Interview | Wissenschaftlerin zu Adventskalendern - "Nichts ist mehr heilig"
Adventskalender für Kinder gibt es schon seit etwa 1850. Heute finden sich auch welche für Erwachsene: mit Socken, Tees oder Sexspielzeug. Die heilige Familie? Fehlanzeige. Esther Gajek über die wundersame Verwandlung einer vorweihnachtlichen Tradition.
rbb|24: Guten Tag, Frau Gajek. Sie besitzen über 3.000 Adventskalender. Was ist ihr Lieblingsstück und wo lagern Sie alle?
Esther Gajek: Ich fange mal mit der letzten Frage an, denn die ist am einfachsten zu beantworten. Denn die zweidimensionalen Adventskalender sind, wenn man die Türchen zu macht, sehr flach. Man kann sie gut stapeln. Ich habe aber auch dreidimensionale gefüllte Kalender, bei denen ich Füllung entnehme, wenn ich sie in Umzugskartons packe. Dann lagere ich sie im Speicher meines Hauses ein.
Meine Lieblingsstücke sind die aus meiner Kindheit. Die habe ich, seit ich sechs Jahre alt bin und mit ihnen verbinde ich sehr viele Erinnerungen. Ich habe sie jedes Jahr wiederverwendet. So wurden es im Lauf der Jahre immer mehr. Ich erinnere mich, dass ich, als ich so zwölf, dreizehn Jahre alt war, etwa eine halbe Stunde früher aufstehen musste, um alle Türchen aufzumachen. Da weiß ich zum Teil noch heute, hinter welchem Türchen welcher Inhalt ist. Diese Kalender sind mir sehr ans Herz gewachsen.
Was sind die skurrilsten Exemplare?
Die skurrilsten Exemplare sind sicher die, wo wieder eine ganz neue Idee aufkam. Man denkt immer, da geht ein Türchen auf und dann geschieht irgendwas. Aber im letzten Jahr beispielsweise habe ich einen Adventskalender entdeckt, der zwei Türchen hintereinander hatte. Aber skurril sind natürlich auch all jene Kalender, die gar nichts mehr mit dem Advent zu tun haben, sondern die das Prinzip des Zählens von Tagen übertragen auf andere Feste des Jahres. Da gibt es seit über hundert Jahren schon die Osterkalender. Aber auch Fasten- und Geburtstagskalender. Inzwischen gibt es auch Ramadankalender, die für die Abende eine Dattel zum Fastenbrechen enthalten. Außerdem zählt man mit Chanukkakalendern die Tage vor dem Chanukkafest. Es gab auch mal einen Gewerkschaftskalender, wo die Tage bis zur Nicht-Wahl von Franz-Josef-Strauß abgezählt hat.
Sie sammeln die Adventskalender ja nicht nur, Sie sind auch Teil Ihrer Profession. Wie kommt man dazu, ausgerechnet zu Adventskalendern zu forschen?
Das war ein sehr glücklicher Zufall. Ich habe, wie gesagt, schon als Kind Adventskalender gesammelt und mein großer Schmerz war, dass ich nie an alte Adventskalender kommen konnte. Denn ich habe ja zu der Zeit vor ebay angefangen. Als Studentin in München habe ich in der Bibliothek einen Artikel über Adventskalender und ein paar Abbildungen gefunden. Ein paar Wochen später habe ich in einer Galerie in München, wo es eine Verkaufsausstellung mit Adventskalendern gab, genau das Aquarell gesehen, das ich aus der Literatur kannte. Auch die anderen Adventskalender sahen sehr ähnlich aus. Es stellte sich heraus, dass es sich um den Nachlass des ersten großen Adventskalender-Verlegers handelte. Dann habe ich so viel Geld wie möglich zusammengekratzt, habe meine Ersparnisse aufgelöst und meine Eltern gebeten, mich zu unterstützen, um so viel wie möglich von diesem Nachlass kaufen zu können. Damit hatte ich einen ganz guten Fundus, mit dem ich auch als Wissenschaftlerin arbeiten konnte. Ab dann bin ich den Spuren des Adventskalenders nachgegangen. Das hatte zuvor noch niemand gemacht. Ich habe die Entwicklung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen können. Aus Berichten und Briefen kann man ersehen, dass protestantische Familien ihren Kindern etwas selbst gebastelt haben. Auf einmal hatte ich 150 Jahre Geschichte eines Brauch-Requisits, für das sich zuvor niemand interessiert hatte, und das doch sehr abwechslungsreich ist, zusammengetragen. Damit habe ich dann eine erste große Ausstellung gemacht, von der seither kleinere Varianten durch die Lande touren.
Was ist denn an alten Kalendern so spannend?
Adventskalender aus der Vergangenheit können sehr viel erzählen. Sie erzählen von Kriegszeiten, von Enttäuschungen, von Flucht und Vertreibung, von Materialknappheit. Und auch davon, dass sich manchmal drei Kinder einen Kalender teilen mussten. Familien haben über zehn, zwanzig Jahre denselben Kalender wiederverwendet. Das ist ja heute unvorstellbar. Davon abgesehen sind Adventskalender einfach der Inbegriff glücklicher Kindheit.
Wann gab es denn den ersten Adventskalender und wie sah er aus?
Den ersten Kalender kennen wir nicht. Wir kennen aus der Literatur oder Briefen nur Beschreibungen. Und das sind immer, seit etwa 1850, selbstgebastelte. Der früheste Beleg für einen gedruckten Adventskalender stammt von 1902. Es handelt es sich um eine Weihnachtsuhr, die in Hamburg erschienen ist. Da geht der Zeiger von Feld zu Feld und es sind christliche Weihnachtslieder enthalten. 1903 gab es einen Ausschneidekalender namens "Im Lande des Christkinds" mit Bildern, die man auf ein Blatt kleben konnte. Der wurde schnell sehr erfolgreich. Ab dann hat dieser Münchner Verleger noch viel mehr Kalender gemacht. Da gab es Ziehkalender, Steckkalender und ganze Häuser, die man aufbauen konnte. Eine Augenweide.
Was hat sich seither verändert und was ist gleich geblieben? Und wann zog denn der Konsum ein?
Eigentlich war der Konsum von Anfang an da. Schon "Im Lande des Christkindes" ging es darum, was die Engelchen den Kindern für schöne Geschenke machen. Und auch aus dem 19. Jahrhundert gibt es Belege darüber, dass die Kinder kleine Gebäckstücke bekommen oder Kreidestriche ausgestrichen haben – es gibt da sehr oft keinen religiösen Bezug. Es gab parallel immer religiöse und weltliche Kalender. Was sich in den letzten 30 Jahren verändert hat ist, dass Adventskalender in zunehmendem Maße für Erwachsene produziert werden – die sind dann auch teurer. Oft sind sie mit Produkten – sei es zur Körperpflege, mit Spirituosen, Schmuck oder Porzellanfiguren – befüllt. Sie sind auch ein Zeichen für unseren Wohlstand – wenn so kurz vor Weihnachten noch etwas verschenkt wird, was 30 bis 3.000 Euro kostet. Seit ebenfalls 30 Jahren haben wir auch Katzen- und Hundekalender, die dafür sorgen, dass den Haustieren auch etwas offeriert wird.
Man kann insgesamt sagen, dass die Profanierung der Bilderwelt doch zugenommen hat. Bis in die 60er, 70er Jahre ist da meistens doch noch eine heilige Familie am 24. Dezember enthalten. Da gab es im weitesten Sinne noch den Respekt vor einer harmonischen Weihnachtswelt. Das ist schon lange nicht mehr so. Jetzt haben wir Krimi- und auch Erotikkalender. Nichts ist mehr heilig.
24 Tage Bilder, Schoko oder Parfüm
Viele Eltern, insbesondere Mütter, verausgaben sich Jahr für Jahr mit der Befüllung und Gestaltung liebevoller selbstgemachter Adventskalender. Was steckt aus Ihrer Sicht dahinter?
Das ist sicher eine Art Liebesbeweis für die Kinder. Ich mache das auch so – ich denke mir jedes Jahr etwas aus. Das ist sehr viel individueller. Da werden die Interessen der Kinder berücksichtigt. Es ist ja auch eine Art Spiel, da geht es ja um den Überraschungseffekt. Wenn man 24 Mal etwas schönes hineinpackt, was das Kind erfreut und es jedes Mal an die Eltern denken lässt.
Wenn Adventskalender-Moden immer etwas über die Gesellschaft verraten - was sagt der aktuelle Adventskalender-Wahnsinn dann über unsere Zeit aus?
Es zeigt sicher eine sehr reiche Gesellschaft, die sich so etwas leisten kann. Aber es zeigt auch eine Gesellschaft, die weiterhin Sehnsüchte befriedigen will. Also die Sehnsucht nach etwas Schönem, die Sehnsucht nach Harmonie und durch das Schenken auch die Sehnsucht nach Austausch und Gemeinschaft. Ein Geschenk bindet auch. Und auf Weihnachten bezogen geht es auch um die Sehnsucht nach Frieden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: Antenne Brandenburg, 24.11.2022, 08:04 Uhr