Interview | Wildtierexperte Derk Ehlert - So geht es den Berliner Wildtieren in diesem Herbst
Dieser Herbst ist für viele Wildtiere ein Glücksfall: Es hat genug geregnet, sodass sie ausreichend Futter finden. Das gilt zum Beispiel für die Igel, um die es sonst nicht besonders gut steht. Wildtierexperte Derk Ehlert über den Stand der Dinge.
rbb|24: Hallo Herr Ehlert. Wie geht es unseren Wildtieren in diesem milden und feuchten Herbst - sind das gute Bedingungen?
Derk Ehlert: Die Bedingungen sind für die Wildtiere unterschiedlich gut. Grundsätzlich kann man zum Wetter sagen, dass es in diesem Jahr erfreulicherweise Mal eine Menge geregnet hat. Und gerade im Oktober haben wir durch diesen vielen Regen wieder nasse Böden bekommen. So finden die Tiere, die von Bodenorganismen leben, wie beispielsweise Igel oder Vögel, wieder ausreichend Insekten dort.
Insgesamt führt aber die Klimaveränderung dazu, dass die Tiere sich anpassen, die es können. Doch nicht alle Tiere sind dazu in der Lage. Einigen kommt der Klimawandel geradezu gelegen und ihre Art nimmt zu. Wie zum Beispiel bei den Bienenfressern. Das sind Vögel, die sonst in Südeuropa zuhause waren. Sie brüten inzwischen auch in Brandenburg. Für Arten, die auf die Klimaerwärmung empfindlich reagieren, sieht es kritischer aus. Und dazu gehört der Igel.
Was ist mit den Igeln los? Man hört immer mal wieder, es gehe ihnen nicht gut.
Den Igeln kommt das feuchte Herbstwetter jetzt gerade ganz recht. Denn sie bereiten sich gerade auf mehrere Monate Winterschlaf vor und müssen sich dafür ausreichend Fett anfressen. Dafür brauchen sie protein- und fettreiche Nahrung, die sie derzeit ausreichend finden. Igel sind keine Vegetarier. Sie brauchen Schnecken und Regenwürmer, die sie jetzt im nassen Laub finden. Solange es nass und mild genug ist, können sie sich also gut auf ihren Winterschlaf vorbereiten.
In den nächsten Wochen wird man auch am Tage noch öfter in Berlin und Brandenburg Igel herumlaufen sehen, die versuchen, ihr Gewicht so weit zu steigern, dass sie gut durch den Winter kommen. Daneben haben Igel haufenweise andere allgemeine Probleme. Zum Beispiel die Trockenheit durch den Klimawandel und die Hitze. Aber jetzt gerade ist es für sie ganz gut.
Es soll ja inzwischen, weil es für sie so schwer ist, weniger Igel geben. Ist das in Berlin so?
Es gibt bundesweit keine genauen Daten, die auf die Bestände der Igel eingehen. Es gibt nur Schätzungen. Und die gehen sowohl in Berlin als auch in Brandenburg sowie bundesweit von einer Abnahme der Igelbestände aus. Die Gründe sind vielschichtig. In erster Linie finden die Tiere durch die veränderten Klimabedingungen nicht mehr genug Nahrung. Durch die Trockenheit sind viele Bodentiere wie Regenwürmer und Schnecken, nach denen die Igel in den ersten fünf bis acht Zentimeter Bodenfläche graben, nicht mehr verfügbar. Denn sie leben in tieferen Schichten, weil es oben zu trocken wird.
Hinzu kommt, dass durch die veränderten Klimabedingungen die sehr schwachen Tiere im Winter keinen Winterschlaf mehr halten, sondern sie aufwachen. Aufgrund von Hitze und Nahrungsmangel bekommen manche Tiere auch zu spät im Jahr Junge. Diese Jungtiere können dann oftmals nicht ausreichend Gewicht zunehmen und gehen untergewichtig in den Winterschlaf. Igel müssen mindestens 500 Gramm im Herbst wiegen, um gut durch den Winter zu kommen.
Zusätzlich nehmen wir Menschen den Igeln durch die intensive Gartennutzung zunehmend ihren Lebensraum. Biozide und technische Gartengeräte wie Laubbläser und Mähroboter sind schädlich für sie. Letztere sind ein neues großes Problem. Denn an diesen autarken Mähgeräten können sich die Igel verletzen. Wir haben unzählige und teils erhebliche Verletzungen an Schnauzen und Pfoten festgestellt. Und weil das Laub im Herbst komplett weggeharkt wird, fehlen auch Überwinterungsplätze.
Gehen denn viele der Winterschlaf haltenden Tiere wegen der höheren Temperaturen auch später in den Winterschlaf?
Ja, sie gehen vielfach später in den Winterschlaf. Aber nicht wegen der höheren Temperaturen. Sondern aufgrund der Trockenheit und ihrer Unterversorgung. Sie versuchen ihr Gewicht für den Winterschlaf instinktiv zu erreichen. Aber wenn sie aufgrund der hohen Temperaturen zu wenig Nahrung finden, und nicht auf ihr Gewicht kommen, sind sie gezwungen, länger aktiv zu sein. Grundsätzlich ist die höhere Temperatur im Herbst zunächst nicht unmittelbar schädlich für die Winterschläfer.
Wie steht es mit den anderen Vorratssammlern wie beispielsweise Eichhörnchen?
Für die Eichhörnchen, die in unserer Region viel vertreten sind, scheint es auch ein guter Herbst zu sein. Denn es gibt wieder eine sogenannte Eichenmast. Das heißt, es gibt sehr viele Eicheln. Die holen sich die Eichhörnchen, vergraben sie und überstehen so die Wintermonate. Eichhörnchen machen, anders als die Igel, keinen Winterschlaf, sondern sie halten Winterruhe. Sie werden also während ihrer Ruhephasen auch immer wieder aktiv und nehmen Nahrung zu sich. Die vorratshaltenden Tiere haben derzeit alle gut zu tun, weil sie Eicheln, Walnüsse und Haselnüsse jetzt sammeln und verstecken.
Und wie geht es den Vögeln?
Vögel betreiben ja keine Vorratshaltung. Die Zugvögel fliegen weg. Das haben sie schon getan oder sind dabei. Gerade am Mittwoch gab es über Berlin einen massiven Vogelzug von Kranichen und Gänsen. Die hier überwinternden Arten sind häufig Vögel, die keine Insektenfresser sind, die eher als Generalisten gelten. Sie ernähren sich auch von Körnern und Beeren. Dazu gehören beispielsweise Amseln, Meisen und viele Finken. Die Vögel, die sich nur von Insekten ernähren, haben es schwer – deshalb ziehen die meisten von ihnen auch für den Winter weg.
Durch den Klimawandel werden hier andere Tiere wie beispielsweise die Tigermücke heimisch. Wie ergeht es den zugewanderten Tieren und wie wirkt sich das auf die vorhandenen Tierarten aus? Und andere – wie beispielsweise manche Störche – gehen ihrer Reisetätigkeit als Zugvogel gar nicht mehr nach, sondern überwintern hier.
Grundsätzlich kann man sagen, dass die Arten, die sich an den Klimawandel anpassen, überleben werden. Kraniche oder Störche sind durchaus Arten, die auf die Klimaveränderungen reagieren. Aber nicht alle Tiere sind so anpassungsfähig. Für die, die das nicht können, ist die Klimaerwärmung teils wirklich fatal und kann sogar zum Aussterben führen.
Fast alle Arten, die wir jetzt neu bei uns haben, sind direkt durch den Menschen hierhergekommen. Das gilt für die Tigermücke, den Waschbären oder beispielsweise die Halsbandsittiche. Es sind alles Arten, bei denen die Klimaveränderung und die damit verbundenen milden Winter deren Ausbreitung beschleunigt. Sie vermehren sich und können anderen, hier heimischen Arten, gefährlich werden. Was das betrifft, gibt es unterschiedlichste Gefahren – und manche sind nicht einmal absehbar heute, weil sie sich erst entwickeln werden.
Was die Störche angeht, ist es so, dass es hier in der Region immer weniger gibt. Aber bundesweit nimmt ihre Zahl zu. Doch hier in der Region leiden die Tiere unter der großen Trockenheit und der Bestand nimmt ab. Während dieselbe Art in Südwestdeutschland neuerdings zunimmt und dort sogar überwintert.
Viele wollen den Tieren helfen im Herbst. Wie können Menschen die Wildtiere unterstützen und was sollten sie lieber sein lassen?
Man sollte, überall wo das möglich ist, möglichst viele Stauden, Blumen und insgesamt Pflanzen im Herbst zunächst stehen lassen und über den Winter nicht wegschneiden. So haben Insekten, Kleinsäuger und Säuger ausreichend Versteckmöglichkeiten. Die Faustregel ist: Je weniger man macht auf Balkon und im Garten, desto besser ist es für die Natur.
Wenn man den Tieren helfen will, ist es zwar kurzfristig möglich und legitim beispielsweise Vögel zuzufüttern. Langfristig allerdings wäre es viel sinnhafter, beispielsweise das Laub im Garten liegen zu lassen. Und überhaupt im Sinne der Natur zu denken. Beispielsweise die Früchte von Vogelbeere oder Holunder den Tieren zu überlassen, das Strauchgut liegenlassen, einen Kompost anlegen oder Zäune so bauen, dass Kleintiere hindurch kommen. Es wäre wichtig, auf Versiegelung zu verzichten im Garten. Die Zufahrt zum Carport muss doch nicht asphaltiert sein. All das hilft deutlich – und zwar der Natur in ihrer Gesamtheit.
Sendung: rbb|24, 01.11.2023