Interview | Sozialwissenschaftler - "Wir sehen in Berlin, wie stark das System Schule immer weiter auseinanderklafft"

Dass an Berliner Schulen viel Unterricht ausfällt, ist bekannt. Doch es gibt große Unterschiede. An Gymnasien und Privatschulen sieht es viel besser aus als an Integrierten Sekundarschulen. Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig erklärt, warum.
rbb|24: Herr Helbig, wer heute in Berlin zur Schule geht, insbesondere in Vierteln, wo eher bildungsferne Menschen leben und sich tendenziell eher Brennpunktschulen befinden, kann sich darauf einstellen, dass ständig Unterricht ausfällt. Sind die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsweg für viele Schüler:innen damit verbaut?
Marcel Helbig: Es ist schwer zu sagen, ob die Chancen verbaut sind, weil wir in Deutschland relativ wenig über diesen Zusammenhang wissen. Also darüber, mit welchen Bildungsergebnissen einzelne Ausfallstunden oder der Umfang von Ausfallstunden mit welchem Bildungsergebnissen einhergehen. Hierzu gibt es aus verschiedensten – vor allem aber datentechnischen - Gründen kaum Möglichkeiten, das zu untersuchen.
Wenn man aber mit gesundem Menschenverstand oder allgemeinen Aussagen aus der Bildungsforschung auf das Thema schaut, kann man davon ausgehen, dass viel Ausfall, aber auch Vertretungsstunden zu niedrigeren Kompetenzständen führen sollten.
Darüber, welches Ausmaß das im Endeffekt annimmt – also wie sehr die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen darunter leidet – kann man aber wie schon gesagt wenig Konkretes sagen. Eins steht fest: Wenn viel Unterricht ausfällt, ist das mit Sicherheit nicht gut für die Schülerschaft.
Warum weiß man denn so wenig darüber?
Die Datenlage ist desaströs. Wir wissen mit Ach und Krach – und da ist Berlin bundesweit gesehen sogar noch ein Vorreiter – wie hoch der Anteil von Ausfallstunden und wie hoch der Anteil von Unterrichtsvertretungen ist. Und auch wie die sogenannte Unterrichtsabdeckung ist. Also wie viele Lehrer da sind – und wie viele da sein müssten. Und da sieht man, dass gerade Brennpunktschulen relativ schlechte Werte aufweisen. In vielen anderen Bundesländern haben wir zu diesen Punkten gar keine Informationen.
Das ist doch schon einmal etwas.
Ja, aber diese Daten müsste man ja mit den Kompetenzdaten zusammenbringen. Wenn man wüsste, wie viel Ausfall ein Schüler in seiner Schulkarriere hatte und sein Kompetenzniveau, besser noch seine Kompetenzentwicklung dagegensetzt, könnte man Aussagen dazu treffen. Aber es gibt kaum Möglichkeiten, dies umzusetzen.
Was wir für Berlin auf jeden Fall wissen ist, dass es einen Lehrermangel gibt. Heißt Lehrermangel immer auch, dass Unterricht ausfällt?
Nein, das heißt es nicht unbedingt immer. Und es gibt auch nicht nur in Berlin Lehrermangel. Gerade Ostdeutschland ist dahingehend extrem gebeutelt und Berlin mittendrin.
Man reagiert aus blanker Not – und nicht, weil man glaubt, dass das der richtige Weg ist – damit, sogenannte Seiteneinsteiger an die Schulen zu holen. Das sind Personen, die meist einen Master-Abschluss haben, aber keine Lehramtsausbildung. Sie sollen dann den Unterricht übernehmen. Gerade am Anfang, als man darauf setzte, hat das relativ schlecht funktioniert, da Seiteneinsteigern nicht die Unterstützung gegeben wurde im neuen Job anzukommen. Das hat sich anscheinend ein bisschen verbessert.
Der Lehrermangel führt also nicht automatisch dazu, dass es eine ganz schlechte Unterrichtsabdeckung gibt, sondern es unterrichten zunehmend Personen, die ohne eine reguläre oder vollständige Lehramtsausbildung vor der Klasse stehen. In Berlin sind das mittlerweile rund 20 Prozent aller Lehrkräfte, bei den unter 45-jährigen sogar 35 Prozent.
Warum sind Brennpunktschulen besonders vom Lehrermangel betroffen? Liegt es an der fehlenden Attraktivität des Arbeitsplatzes oder strukturellen Problemen im Bildungssystem?
Man kann Brennpunktschulen in Berlin nicht allein an der sozialen Lage festmachen. Viel wichtiger und strukturell bedingt ist, und das gilt für fast alle Bundesländer, dass wir ein massives Problem haben, Lehrkräfte für den nicht gymnasialen Bereich zu finden. Die Lehrkräfteabdeckung und damit die Unterrichtsausstattung an den Gymnasien liegt in den meisten Bundesländern im Schnittvielfach bei 100 Prozent und zum Teil darüber. Da sind rechnerisch zumindest über alle Gymnasien hinweg mehr Lehrkräfte, als man eigentlich für die Unterrichtsabdeckung bräuchte.
Wenn man sich dann den Bereich der nicht gymnasialen Schulformen anschaut, in Berlin sind das die Integrierten Sekundarschulen und die Gemeinschaftsschulen, sieht dort die Lage vollkommen anders aus. Und es gelingt auch immer schlechter, Lehrkräfte davon zu überzeugen, an diese Schulen zu gehen.
Wenn man sich dann noch anschaut, wie viele Studierende sich gerade für diese Lehramts-Studiengänge anmelden, sieht man, dass dies nur Bruchteil derer sind, die benötigt werden. Und das kumuliert dann in den Brennpunktschulen, die dann auch in Berlin zum großen Teil Integrierte Sekundarschulen sind, mit dem Fakt der sozialen Lage der Schulen.
Wir haben auf diese Problematik wirklich keine guten Antworten. Erstmal muss man sich die Frage stellen, woran das liegt, dass die Studierenden von heute nicht mehr an diese zweite Schulform wollen. Und da gibt es in den letzten Jahren ein paar Herausforderungen, die viele abschreckt.
Welche Herausforderungen sind das?
Wenn man sich das große Thema Inklusion anschaut und guckt, wie viele Kinder mit Förderbedarf an Gymnasien sind, ist das ein verschwindender Bruchteil. Wohingegen die Integrierten Sekundarschulen den überwiegenden Teil der Inklusion umsetzen müssen. Ein zweiter Aspekt ist alles, was mit Zuwanderung zu tun hat. Auch da gibt es einen viel höheren Anteil von Schülern an den nicht gymnasialen Schulen. Die Herausforderung an diesen Schulen ist einfach besonders groß. Und wenn ich mir als Lehrkraft aussuchen kann, an welche Schule ich gehe – und das ist gerade zu Zeiten von Lehrermangel eher möglich – werden sich viele für den Weg des geringsten Widerstandes entscheiden – und das ist ja auch absolut menschlich. Dann sucht sich jemand lieber ein Gymnasium in Zehlendorf als eine Integrierte Sekundarschule im Wedding aus.
Was sind die Folgen?
Wir sehen gerade in Berlin, wie stark das System Schule immer weiter auseinanderklafft. Eine relativ neue Studie der Humboldt-Universität Berlin zeigt auf der einen Seite, dass die Wohnsegregation – also das Ausmaß, wie stark Arme und Reiche getrennt voneinander in Nachbarschaften leben – abgenommen hat. Das heißt, wir haben eine stärker durchmischte Stadt in den letzten zehn Jahren.
Aber auf der anderen Seite haben wir einen extrem starken Anstieg, was die Ungleichverteilung der sozialen Gruppen auf den Schulen angeht. Ein Grund dafür sind die boomenden Privatschulen.
Wenn also Eltern mit hohem Einkommen notgedrungen zum Beispiel in den Wedding ziehen, haben sie oft keinerlei Interesse, dass ihre Kinder dort auf die öffentlichen Schulen gehen. Sie suchen dann Schulen in anderem Einzugsgebiet oder Privatschulen. Das alles führt zu strukturellen Brüchen und einem Auseinanderdriften des gesamten Schulsystems.
Ist denn diese Kluft überhaupt noch zu schließen oder steuern wir sehenden Auges auf ein Bildungssystem zu, das nur noch für Wohlhabende funktioniert?
Die Tendenzen dazu – gerade in Berlin – sind beeindruckend in ihrer Heftigkeit. Also wie stark sich die sozialen Gruppen schon im Grundschulalter aufgliedern. Es gibt Schulen, die die Herausforderungen im großen Maße tragen und andere Schulen, die von diesen Problemen eigentlich kaum etwas wissen. Und nach der Grundschule werden die sozialen Trennlinien durch die Aufgliederung in Gymnasien und Integrierte Sekundarschulen noch tiefer. Das ist aber systemimmanent. Entwicklungen wie der Privatschul-Boom verstärken das noch einmal. Es ist unglaublich schwierig, dem etwas entgegenzusetzen, wenn man nicht darauf den zentralen Fokus legt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess.