rbb24 Recherche - Freigeistige Muslime erleben noch mehr Anfeindungen als sonst
Prominente liberale Muslime, die den Terror der Hamas verurteilen, können sich kaum noch ohne Polizeischutz bewegen. Die Anfeindungen gegen sie haben ein bisher ungekanntes Bedrohungspotential. Von Jo Goll und Torsten Mandalka
Als der Psychologe und Islamexperte Ahmad Mansour am Dienstag zur Diskussion ins rbb-Fernsehstudio kommt, ist er nicht allein. Auf Schritt und Tritt folgen ihm Personenschützer, bereit, Angriffe auf Leib und Leben des bekannten Buchautors sofort abzuwehren. Die Bedrohungen, die ihn erreichen, haben schon seit einigen Jahren ein erschreckendes Ausmaß. Aber seit dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel, haben die Hassbotschaften noch einmal zugenommen.
Mansour machte einige "Botschaften" öffentlich
Auf X (früher Twitter) hat Mansour einige "Botschaften", die ihn erreicht haben, öffentlich gemacht: Er sei ein Heuchler, Zionist und Verräter, heißt es da, ein Hurensohn und Bastardkind. Und weiter: "Möge Allah dich Kuffar vernichten", schreibt einer, und: "Dich sollte man…" ein anderer. Selbst vor Vergewaltigungsfantasien im Hinblick auf Ahmad Mansours Familie schrecken die Hater nicht zurück.
Auch die Anwältin Seyran Ates, die bereits 1984 Opfer eines Attentats geworden war, bei dem sie selbst schwer verletzt und eine ihrer Mandantinnen getötet wurde, steht seit einiger Zeit unter Polizeischutz. Die Drohungen sind so konkret geworden, unter anderem durch Anhänger des sogenannten Islamischen Staats (IS), dass die Frauenrechtlerin und ihre Mitstreiter:innen sich entschlossen haben, den offenen Betrieb der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee bis auf weiteres einzustellen. Damit ist die einzige muslimische Begegnungsstätte, die auch für queere Menschen offenstand, geschlossen.
Ibn-Rushd-Goethe-Moschee sprach sich gegen Hamas aus
Ates und ihre Mitstreiter:innen hatten sich klar für das Existenzrecht Israels ausgesprochen und sich in aller Deutlichkeit vom Terror der Hamas distanziert. Das hat ihnen noch mehr Gegner eingebracht als das Hissen der Regenbogenfahne an der Moschee im letzten Jahr. "Sie schicken uns Nachrichten wie: man müsste uns enthaupten und ein Exempel statuieren", berichtet Ates im Interview mit rbb24 Recherche, und ergänzt: "Es nimmt zu, so dass ich einfach erschöpft und müde bin." Der Schließung zum Trotz melden sich jedoch weiter Menschen bei der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, teils mit Solidaritätsadressen, teils auf der Suche nach Hilfe. Die will ihnen die Begegnungsstätte auch weiterhin zukommen lassen.
Weitermachen für die Meinungsfreiheit
Ahmad Mansour macht auch nach den neuerlichen Drohungen weiter mit seiner Aufklärungsarbeit, tritt in Fernsehsendungen und bei Veranstaltungen auf, gibt Interviews. Aber es ist schwerer geworden: "Ich bin viel gewohnt, aber diese Heftigkeit der letzten zwei Wochen macht mir schon Angst", räumt er im Gespräch mit rbb24-Recherche ein, "aber da steht was viel Größeres als mein Empfinden auf dem Spiel. Und zwar die Zukunft dieses Landes, die Zukunft Deutschlands, die Zukunft unseres Zusammenlebens."
Und es geht natürlich auch um ihn und seine Familie: "Das ist eine Verantwortung, über die ich natürlich nachdenken muss." Trotzdem hat er sich entschieden, weiterzumachen. Denn sonst müsste er sich fragen: "Was bringt es uns, wenn Ahmad Mansour oder Constantin Schreiber oder andere vernünftige Menschen in diesem Land aufhören? Wird das für die nächste Generation besser? Wird die Meinungsfreiheit bewahrt dadurch? Ich meine nicht."
Zur Bedrohungslage von Menschen wie Ates oder Mansour passen auch die aktuellen Meldungen über Bombendrohungen gegen Medienhäuser und Schulen oder die mutmaßlichen Anschlagsplanungen eines Duisburger Islamisten [tagesschau.de]. Die Berliner Polizei teilte am Mittwoch mit, das Landeskriminalamt befasse sich derzeit mit über 740 Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt. Bei der Staatsanwaltschaft Berlin gibt es laut Auskunft der Pressestelle bislang ein entsprechendes Ermittlungsverfahren, neben dem Ermittlungsverfahren zum Brandanschlag auf die Synagoge in der Berliner Brunnenstraße, das die Generalstaatsanwaltschaft führt.
Dank an die Personenschützer
Auch Seyran Ates hat große Angst vor der Massivität der Bedrohungen. Sie habe den Eindruck, dass sich sogar in Deutschland eine Art "Blutrausch" breit mache, besonders unter jungen Männern. Doch ihre eigene Angst sei nichts gegen das Leid der Zivilbevölkerung im Nahen Osten, besonders auch im Gaza-Streifen: "Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass wir in einem System leben, in dem es Personenschutz gibt für Menschen wie mich. Ich bete jeden Tag für die Personenschützer. Und ich bin dankbar, dass dieser Staat mich beschützt."
Sendung: rbb24 Abendschau, 26.10.2023, 19:30 Uhr