Thierse feiert 80. Geburtstag - Der streitbare Geist der SPD
Als Ostdeutscher, Sozialdemokrat und Katholik hat er sich selbst als eine "kurios kostbare Mischung" bezeichnet. Es gebe immer noch viele, die ihn für einen Pastor hielten - liegt vermutlich an seinem berühmten Bart. Am Sonntag wird Wolfgang Thierse 80 Jahre alt.
80 Jahre wird Wolfgang Thierse am Sonntag alt, politikmüde ist er bis heute nicht, auch ohne öffentliche Ämter. Er, der sich fast sein ganzes Leben lang eingemischt, Haltung bezogen, Kompromisse gesucht, aber auch Kritik eingesteckt hat. Thierse äußert sich auch heute noch zu politischen Themen, bürstet auch mal gegen den Strich und geht keiner Debatte aus dem Weg. So auch im vergangenen Frühjahr als er eine Erklärung zum russischen Krieg gegen die Ukraine unterzeichnete, in der auch eine "politische Perspektive" gefordert wird.
"Ich halte militärische Solidarität mit der Ukraine für absolut richtig und notwendig. Aber zugleich halte ich es für sinnvoll, dass wir über den Krieg hinaus denken, wie aussichtslos das zunächst auch erscheint. Aber nur zu sagen 'Krieg, Krieg, Krieg', nichts anders, das scheint mir nicht auszureichen", sagte Thierse und wurde für seine Beteiligung an der Erklärung auch kritisiert.
"Da wird man regelrecht nach oben geschleudert"
Auch für einen Gastbeitrag in der "FAZ" bekam er Gegenwind, auch aus seiner eigenen Partei, was er - ganz Thierse - bewusst in Kauf nimmt. Er bezeichnete es als "problematisch", Diversität "zum Ziel aller sozialen und kulturellen Anstrengungen zu erhöhen". Die SPD habe schon große Teile der Arbeiterschaft verloren, stellte Thierse fest: "Wollen wir jetzt auch noch alle die ausschließen und verlieren, die das Gendersternchen nicht mitsprechen wollen und können?" Thierse versteht sich als Mahner, man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man feststellt: So sieht er sich auch ganz gern.
Ohne Zweifel aber ist er eine der prominentesten Stimmen der Menschen aus den östlichen Bundesländern. Dass er im Sog der Wende Politiker geworden ist, verwundert den studierten Kulturwissenschaftler noch Jahre später, wie er erzählte. "Das sind revolutionäre Umstände, da wird man regelrecht nach oben geschleudert. Das war dieses wunderbare Jahr 1989/90. Das war so", sagte er einmal.
"Das richtige Leben im falschen System"
Geboren wird Wolfgang Thierse 1943 in Breslau, nach dem Krieg wird seine Familie vertrieben und siedelt ins südthüringische Eisfeld über. Als hochdeutsch sprechender Katholik fällt Thierse dort zwangsläufig auf. Er lernt Schriftsetzer, geht nach Berlin und studiert an der Humboldt-Universität Kulturwissenschaften und Germanistik. Er lernt, präzise mit Worten umzugehen. Später arbeitet er im Kulturministerium der DDR, zuständig für "architekturbezogene Kunst".
Als er sich weigert, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann begrüßt wird, wird Thierse entlassen. "Ich bin weder mein Leben lang ein Widerstandskämpfer gegen die SED-Herrschaft gewesen, noch habe ich mich jemals mit dieser Herrschaft identifizieren können oder wollen. Darin stehe ich für vermutlich eine große Mehrheit meiner Landsleute in den ostdeutschen Ländern. Es gab das wirklich: Das richtige Leben im falschen System", erklärt er sich später bei einer Rede.
Thierse "überwintert" in der Akademie der Wissenschaften, arbeitet an Drehbüchern für Dokumentarfilme und bleibt parteilos, bis 1989. Noch im Oktober tritt der Katholik dem Neuen Forum bei, wechselt wenige Monate später zur Sozialdemokratischen Partei der DDR. Er wird deren Vorsitzender und Fraktionschef in der ersten frei gewählten Volkskammer. "Es war die intensivste politische Zeit meines Lebens. Diese Volkskammer war ein wirklich fleißiges Parlament", erinnerte er sich. Im Dezember 1990 wird er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bonner Bundestag. Zwei Jahre später sagt er, seine "größte Enttäuschung" rühre "aus der Massivität des Versuchs, das Bisherige der Bonner Republik bruchlos fortzusetzen".
Sitzblockade gegen rechte Demo
Den Höhepunkt seiner politischen Karriere erlebt Wolfgang Thierse dann 1998: Er wird als erster Ostdeutscher in das zweithöchste Staatsamt gewählt, zum Bundestagspräsidenten. Es gibt nicht viele Ostdeutsche, die es bis in die wichtigsten politischen Ämter geschafft haben: Merkel, Gauck – und dann kommt auch schon Thierse. Anders als Merkel spricht er die Probleme, Verwerfungen und Verletzungen in Ostdeutschland immer wieder offen an. Er geht auch seinen Landsleuten auf die Nerven, weil er sie nicht schont: "Weil ich nicht glaube, dass man ihnen hilft, wenn man ihre Vorwürfe und ihr Jammern verstärkt", sagte der SPD-Politiker.
Eines seiner wichtigsten Anliegen ist in dieser Zeit und auch später der Kampf gegen den Rechtsextremismus. 2010 nimmt der SPD-Politiker an einer Sitzblockade gegen eine NPD-Kundgebung in Berlin teil. "Es geht immer auch darum, dass Bürger sich dagegen wehren, dass Rechtsextreme ihre Straßen und Plätze in Besitz nehmen. Und wenn man das als Politiker öffentlich sagt, dann muss man sich an seine eigene Aufforderung halten, gegebenenfalls mittun und sich nicht in die Büsche schlagen", beschrieb er damals seine Gründe, sich zu engagieren. Thierse wird auch einer der wichtigsten Fürsprecher eines "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" in Berlin und zwar in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor. Auch das ist damals nicht unumstritten.
80 Jahre scharfe Zunge
Die Sphäre des Relativen
2002 gewinnt die rot-grüne Koalition die Bundestagswahl nur knapp, auch Thierses Rückhalt schwindet allmählich. In seine zweite Amtszeit wird er mit nur noch 56 Prozent der Stimmen gewählt. Er erlebt, wie die SPD durch Schröders heftig umstrittene "Agenda 2010" auf harten Widerstand stößt – auch in den eigenen Reihen. Ihren Status als "Partei der sozialen Gerechtigkeit" sieht Thierse durch Hartz-IV und weitere Arbeitsmarktreformen aber nicht berührt, wie er damals sagt. Er verteidigt die harten Einschnitte.
2009 verliert er sein Direktmandat im Ost-Berliner Wahlkreis Pankow-Prenzlauer Berg-Weißensee, wo er seit 1972 mit seiner Familie in der gleichen Altbauwohnung lebt. Über die Berliner Landesliste schafft er es noch einmal in den Bundestag, 2012 erklärt er dann, dass er aus Altersgründen nicht mehr kandidiert. Eine Rolle hat auch der fehlende Rückhalt im Kreisverband gespielt, der einen Generationenwechsel bevorzugt.
Die Sphäre des Relativen
Bis heute hat Thierse zahlreiche Ehrenämter. Er gehört zum Beispiel dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an und leitet den Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Das mache viel Arbeit, aber er lerne auch viel dabei. Die Kirche beschäftigt ihn noch immer sehr: Nach seiner Überzeugung hat sie nur eine ökumenische, also gemeinsame Zukunft - oder gar keine.
Bei einem Interview mit dem "SZ-Magazin" wenige Monate vor dem Abschied aus dem Parlament zog Thierse ein bitteres Fazit. Er erlebe einen "abgrundtiefen Respektverlust von demokratischen Politikern", sagte er da. Es seien die Maßstäbe verloren gegangen, "Boulevardisierung und Hysterisierung der Kommunikation durch einen beträchtlichen Teil der Medien" dominierten immer mehr. Nach seinem Verständnis gehe es in der Politik nicht um Wahrheit, sondern "um bessere oder schlechtere Lösungen". Politik, das sei die Sphäre des Relativen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.10.2023, 6 Uhr