Nach Angriff auf Israel - Was tun gegen den Antisemitismus an Berliner Schulen?
Seit dem Wochenende laufen bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) die Telefone heiß: Lehrer bitten um Beratung, wie sie mit ihren Schülern im Nahost-Konflikt vermitteln. Sie befürchten schlimmere Eskalationen. Von Jenny Barke
Als am Montag ein 14-Jähriger in eine Palästina-Flagge eingewickelt in seiner Neuköllner Schule erscheint, eskaliert sofort der Konflikt: Ein 61-Jähriger Lehrer verbietet ihm das Tragen politischer Symbole, daraufhin greift ein 15-jähriger Schüler ein, stößt den Lehrer am Kopf, dieser wehrt sich, gibt ihm eine Ohrfeige. Wegen der Handgreiflichkeiten sind nun sowohl Lehrer als auch Schüler suspendiert.
Der Vorfall zeigt auf besonders dramatische Weise, wie der Nahost-Konflikt den Alltag vieler Berliner Schulen bestimmt. Nicht immer verlaufen die Konflikte so gewalttätig und doch können viele Lehrerinnen und Lehrer von Ausnahmesituationen berichten, sagt Desirée Galert, Projektleiterin bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen berät sie Lehrkräfte und vermittelt unter Schülerinnen und Schülern. Seit dem Angriff auf Israel hatte sie keine ruhige Minute mehr: "Die Telefone klingeln heiß, wir bekommen von allen Seiten E-Mails, Bitten um persönliche Gespräche. Ich bin eigentlich gerade ununterbrochen dabei, die zu beantworten, zu beruhigen. Da sind viele Emotionen und Chaos teilweise dabei."
Sorge vor Reaktion bei Gedenkminuten
Nicht nur aus Kreuzberg und Neukölln, sondern aus ganz Berlin melden sich Lehrkräfte: Schüler jubelten der radikal-islamische Hamas zu, äußerten sich antisemitisch, nicht selten komme es zu lauten Streitigkeiten und Rangeleien.
Dervis Hizarci ist Vorstandsvorsitzender der KIgA und selbst ehemaliger Lehrer. Er erlebt teils überforderte Kollegen, eine stellvertretende Schulleiterin habe zum Beispiel Angst gehabt, dass eine Gedenkminute für die Opfer in Israel eher zu Wut und Ausschreitungen der Schüler führt: "Ich habe gesagt: 'Wie schätzt du denn die Situation ein? Glaubst du, da wird es Störungen geben?', und sie antwortete: 'Mit Sicherheit!'. Dann kann ich nur sagen: 'Ja sorry, vielleicht nicht mit der Gedenkminute anfangen, sondern erst einmal diese Emotionen auffangen und diese Kinder irgendwo abholen.'"
Und Hizarci gibt konkrete Handlungsanweisungen: Wichtig sei, den Kindern und Jugendlichen erst einmal auf Augenhöhe zu begegnen. Fragen, wie sie das Wochenende erlebt hätten. Auch Emotionen wie Wut, Angst, Hass zulassen. Und dann auf der Sachebene sortieren: Was ist die Hamas? Was ist Terror? Was ist Krieg?
Widersprüche aushalten und damit arbeiten
Das sei auch deshalb für Lehrerinnen und Lehrer nicht immer leicht, weil sie selbst mit einer emotionalen Haltung in den Konflikt gehen, sagt der Ex-Lehrer Hizarci. "Viele Lehrerinnen und Lehrer haben das Wochenende damit verbracht, sich Nachrichten anzuschauen, was in Israel passiert ist und sind sehr betroffen von den schrecklichen Bildern." Dann kämen sie in die Schule und sähen Kinder und Jugendliche, die sich solidarisch mit der anderen Seite zeigten, gleichzeitig aber auch keine Empathie zeigten für das Leid und den Schmerz der Israelis.
So sei es auch dem 61-Jährigen an dem Neuköllner Gymnasium passiert: Ein selbst emotional betroffener Lehrer sei mit den Schülern zusammengeprallt. Um das zu verhindern, brauche es eine sogenannte Widerspruchstoleranz auf beiden Seiten: Also die Schüler sensibilisieren, was Antisemitismus ist und gleichzeitig akzeptieren, dass sie auf Grund eigener Diskriminierungserfahrung wütend sind.
Beratung für Lehrer und Schüler
Natürlich sei es eine Gratwanderung, einerseits ein offenes Ohr zu haben und andererseits Grenzen zu setzen - so Desirée Galert: "Wir müssen schauen: Wo sind die Emotionen gerade und wie bekommen wir die Situation in den Griff? Hilft da wirklich ein Tadel in dem Moment oder eher, Luft rauszunehmen, Gesprächsangebote für die Schüler zu schaffen?" Gleichzeitig sei es genauso wichtig, zu intervenieren, wenn menschenverachtende Äußerungen fallen oder es gar eine strafrechtliche Relevanz hat oder es zum Aufruf von Gewalt gegen Gruppen kommt. Doch auch hier müsse erst mit Augenmaß gemessen werden: Wissen die Schüler, welche Symbole verboten sind? Dass Volksverhetzung eine Straftat ist? Aufklärung sei das A und O.
Viele Lehrkräfte seien froh über solche Tipps. Der KIgA steht deshalb eine arbeitsreiche Woche bevor. Sie organisiert Workshops, Beratungstermine, vermittelt in Schulen. Auch mit den Schülern selbst tritt sie in Kontakt, versucht die Konfliktparteien aufeinander zuzubewegen. In geschützten Räumen ohne Lehrer oder Eltern versuchen sie, Verständnis zu zeigen, Emotionen zu spiegeln und aufzuklären.
Angst vor weiterer Eskalation nach Offensive Israels
Vorstandsvorsitzender Dervis Hizarci spricht einerseits von einer ganz neuen Dimension eines Konflikts, der die Berliner Schulen erreicht. Andererseits sieht er die größte Eskalationsstufe noch nicht erreicht. "Sobald Israel die Offensive startet, werden wir sehen, das noch mal eine neue Emotionswelle auf uns zukommen wird", warnt er. Deshalb sei es umso wichtiger, so früh wie möglich zu intervenieren. Eigentlich sei diese Arbeit am wichtigsten in Friedenszeiten, wenn die Emotionen nicht so hochgekocht sind.
Den Lehrerinnen und Lehrern gibt er in akuten Krisen immer mit auf den Weg: Man könne den Nahost-Konflikt nicht aus Berliner Schulen heraus lösen. Nur versuchen, Kindern und Jugendlichen eine Haltung gegen Antisemitismus und einen differenzierten Blick zum Nahost-Konflikt mitzugeben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 10.10.2023, 16 Uhr