Berliner Ankunftszentrum für Geflüchtete - "Tegel ist kein Ort, den sich irgendjemand wünscht"
Auf das Ankunftszentrum für Geflüchtete in Berlin-Tegel gibt es mehr als eine Perspektive: Bewohner berichten von unzumutbaren Verhältnissen. Verantwortliche betonen, die Mitarbeiter der Massenunterkunft gäben ihr Bestes. Von Thorsten Gabriel und Franziska Hoppen
- Ursprünglich sollten Geflüchtete nur kurz in Tegel bleiben, inzwischen sind es oft viele Monate
- Mehr als 5.000 Menschen leben auf dem ehemaligen Flughafengelände – jetzt soll Platz für 7.000 geschaffen werden
- Zuletzt gab es Schlägereien und Vorwürfe gegen das Sicherheitspersonal
Nataliia Brovko hat es aus Tegel rausgeschafft. Neun Monate hat sie mit fremden Männern und Frauen auf engstem Raum gelebt. Seit einer Woche ist sie in einer neuen Unterkunft. Beim Verein "Schöneberg hilft" lässt sie sich jetzt beraten, wie es weitergeht.
Doch die Erinnerungen an Tegel sind noch frisch: "Wir lebten in ständigem Stress. Immer unter psychologischem Druck", sagt Brovko am Donnerstag bei einer Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus. Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und anderer Hilfsorganisationen hätten den Bewohnern gedroht, sie aus der Unterkunft in Tegel zu verweisen, wenn sie etwas falsch gemacht hätten. "Uns wurde klargemacht: Ihr fliegt hier raus und könnt unter der Brücke schlafen, wie Obdachlose."
Auch mit dem Sicherheitsdienst habe es immer wieder Probleme gegeben, sagt Brovko. Manchmal seien sie und ihre Mitbewohner nicht auf die Toilette gelassen worden. Oder die Security habe sich bei der Leitung über angebliche Beleidigungen beschwert, ohne überhaupt Ukrainisch zu verstehen.
Vorhänge statt Türen – Privatsphäre: null
Raus aus Tegel – so weit ist Angela Zaitseva noch nicht. Auch sie kam im vergangenen Jahr aus der Ukraine nach Berlin. Vom Hauptbahnhof ging es mit dem Bus nach Tegel, erinnert sie sich. Sie ging davon aus, dass ihr Aufenthalt dort maximal drei Monate dauern würde. Doch sie lebt immer noch dort.
Im Integrationsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses erzählt sie den Parlamentariern von den riesigen Hallen mit den engen Boxen: Fünf Etagenbetten pro Abteil, die Kunststoffwände gerade mal zwei Meter hoch, Vorhänge statt Türen. Privatsphäre gibt es – fast – nicht. Umziehen sei nur in der Dusche möglich. Das alles sei besonders belastend, nicht zuletzt für die vielen, die traumatisiert aus Kriegsgebieten nach Tegel kämen. Zaitseva kritisiert, es gebe in Tegel keine Psychologen, die sich um die Menschen kümmerten.
Zaitseva berichtet auch von Diebstahl, von Taschen- und Unterkunftskontrollen, die viele Flüchtlinge als erniedrigend empfänden – und davon, dass es mittlerweile auch Mäuse und Ratten auf dem Areal gebe. Dies hänge auch damit zusammen, dass zum Teil ältere Kriegsflüchtlinge ihr Mittagessen mit in die Boxen nähmen, es dort versteckten und es dann schimmele.
Hilfsorganisationen haben eine lange Liste von Missständen
Ähnliches bekommt auch Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin immer wieder zu hören. Sie erreichen auch Berichte von Menschen, die mit chronischen Erkrankungen in Tegel leben und die nicht adäquat unterstützt würden. "Es gibt auch die Extremform, dass Mütter mit ihren drei Tage alten Babys in gemischte Parzellen mit sechs anderen Männern gelegt werden", sagt Barnickel und fügt hinzu: "Ich habe vier Kinder entbunden, ich kann Ihnen sagen: Das ist kein Zustand."
Anne-Marie Braun nickt. Braun ist in der Initiative "Schöneberg hilft" aktiv und hat auch eine lange Liste von Missständen. Sie kritisiert vor allem, es gebe im Unterkunftszentrum in Tegel keine Geschlechtertrennung: "Ich versteh wirklich nicht, warum es notwendig ist, Männer und Frauen in gleichen Boxen, sogar in gleichen Betten schlafen zu lassen. Das ist mir unverständlich."
"Tegel ist kein Ort, den sich irgendjemand hier wünscht"
Nicht nur Betroffene und Helfende geben an diesem Nachmittag im Integrationsausschuss Auskunft. Auch Regierung und Verwaltung beziehen Stellung. Einigkeit besteht bei allen, wie es scheint, nur in einem Punkt: Niemand will eine Unterbringung, wie sie in Tegel Wirklichkeit ist. "Tegel ist kein Ort, den sich irgendjemand hier wünscht", versichert der designierte Präsident des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), Mark Seibert.
Den Berichten über unhaltbare Zustände hält Seibert entgegen: Es sei zwar nicht alles gut, aber alle gäben ihr Bestes. Natürlich gebe es Gewaltschutzkonzepte, Kinderbetreuung, ärztliche Versorgung. Außerdem sei Tegel "einzigartig", so Seibert. Eine solche Großunterkunft für 5.000 - und demnächst für bis zu 7.000 - Menschen gebe es kein zweites Mal in der Republik. "Selbstverständlich läuft bei einer Einrichtung dieser Größenordnung nicht immer alles rund. Aber wir zerren jeden Tag darum, dass es runder läuft."
Der Pool an Security-Mitarbeitern ist begrenzt
Beispielsweise beim in die Kritik geratenen Wachschutz. Auf Probleme habe man sofort reagiert. Aber man müsse realistisch bleiben, sagt Seibert. Würde man den Sicherheitsdienstleister wechseln, bliebe das Personal das Gleiche. Pro Schicht würden 250 Menschen benötigt und der Pool an Security-Leuten sei begrenzt.
Auf den Vorwurf, es gebe in Tegel keine Geschlechtertrennung bei der Unterbringung geht die Leiterin des Ankunftszentrums, Kleopatra Tümmler ein. Sie versichert, es werde durchaus separiert. "Es gibt Bereiche für allein reisende Frauen, es gibt Bereiche für Familien mit Kindern, es gibt Bereiche für allein reisende Frauen mit Kindern und so weiter", zählt sie auf. Angesichts der hohen Zahl an Menschen, die in Tegel untergebracht seien, bleibe dies aber eine Herausforderung.
Flüchtlingsrat: Für mehr Aufklärung sorgen
Nach zwei Stunden Anhörung meint man, es gebe so etwas wie zwei Wahrheiten über Tegel. "Frau Tümmler und Herr Seibert, Sie versichern ja beide – und ich finde, auch auf eine sympathische Art und sehr glaubhaft –, dass eigentlich alles gut ist, soweit, wie es im Schlechten halt gut sein kann", stellt Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat bilanzierend fest – um dann hinterherzuschieben: "Ich frage mich aber: Wenn es alle diese wunderbaren Angebote gibt, wie ist es möglich, dass Frau Zaidseva seit sieben Monaten in Tegel lebt und sagt: 'Es gibt keine psychologische Unterstützung‘ und Frau Tümmler sagt: 'Es gibt die'?"
Barnickel überlegt kurz und sagt dann: "Es kann sein: Beide Perspektiven stimmen und es gibt nur eine schlechte Aufklärung darüber, was es eigentlich für Angebote gibt." Das gibt sie den Verantwortlichen als Hausaufgabe mit: für mehr Aufklärung sorgen.
Betreiberverträge mit dem Deutschen Roten Kreuz überarbeitet
Der designierte LAF-Präsident verweist unterdessen darauf, dass das Land gerade nochmal die Betreiberverträge mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) nachgebessert habe. Jetzt dürften auch andere Hilfsorganisationen in Tegel mit unterstützen. Das hatten verschiedene Initiativen lange gefordert. In welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen das künftig der Fall sein dürfte, muss sich allerdings erst noch zeigen.
Auch wenn sich die Situation an vielen Stellen weiter verbessern sollte, steht am Ende die Erkenntnis: Die Unterbringung in Tegel bleibt eine Notlösung – mit Betonung auf Not.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.12.2023, 06:20 Uhr