Diskussion in Potsdam - Juli Zeh wirft Kanzler Scholz "Kita-Sprech" vor

Mi 31.01.24 | 14:33 Uhr
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Zwei Einzelbilder jeweils Olaf Scholz und Juli Zeh in einer Diskussionsrunde am 30.01.2024 (Quelle: Picture Alliance/Sebastian Rau)
Audio: rbb24 Inforadio | 30.01.2024 | Carl Winterhagen | Bild: Picture Alliance/Sebastian Rau

Kritische Bestsellerautorin trifft auf schwächelnden Kanzler: Im Potsdamer Nicolaisaal versuchte Juli Zeh, Olaf Scholz seine Sicht auf die politische Lage zu entlocken. Von Markus Woller

In Zeiten des Aufruhrs im ländlichen Raum war dieser Abend mit besonderen Erwartungen verbunden. Bestsellerautorin Juli Zeh trifft den, nach ihren Worten, "meistgescholtenen Mann des Landes", Bundeskanzler Olaf Scholz. Zeh gilt spätestens seit ihrem Erfolgsroman "Unterleuten" als Provinzversteherin, hat in den vergangenen Jahren mit öffentlicher Kritik an Kanzler und Umgang vieler Politiker mit der Landbevölkerung nicht gespart.

Heute versucht sie es zunächst mit einem wohligen Einstieg ins Gespräch: Man müsse sich auch dankbar zeigen, dass es Menschen wie Scholz gebe, die den Job überhaupt noch machen wollten, so Zeh. Für den Bundeskanzler bietet sie damit die Gelegenheit, sich etwas locker zu machen: Er spricht von den multiplen Krisen der vergangenen Jahre, von Zuversicht und seinem Vertrauen, dass "wenn man die richtigen Dinge tut, am Ende auch die Zustimmung bekommt". Woher er diese Zuversicht bei den katastrophalen Umfragewerte nimmt, bleibt offen.

Das ist der erste Moment dieses Abends, an dem Autorin Zeh und auch Moderator Harald Asel es verpassen, die Antworten des Kanzlers zu hinterfragen. Es wird nicht der letzte sein.

Zeh wirft Scholz falsche Ansprechhaltung vor

Der Nikolaisaal in Potsdam ist übervoll. Mehr als 700 zahlende Gäste aus dem Potsdamer Bildungsbürgertum müssen eine Weile warten, ehe Zeh dann doch zu ihrem Anliegen kommt: dem Entfremdungsprozess von Politik und weiten Teilen der Gesellschaft. Der Politik wirft sie vor, Bürger wie Kinder anzusprechen: von oben herab. Diese Infantilisierung von Wählern werde medial auch gefordert. Man müsse "sich ständig um die Bürger kümmern, sie auf Augenhöhe ansprechen, irgendwo abholen - als wären das alles verlorene Kinder, die von der Kita nicht allein nach Hause finden", so Zeh.

"Kita-Sprech" wirft sie dem Kanzler auch vor. Der wehrt sich zunächst. Er bemühe sich, solche Phrasen zu vermeiden, so Scholz. "Der 'Doppel-Wumms' ist doch von Ihnen, oder?", hält Zeh ihm entgegen. Der Kanzler lacht: "Da bin ich auch stolz drauf." Manchmal könne man Politik auch nicht in bürokratischen Begriffen vermitteln.

Einer Partei wie der SPD steht es nicht gut zu Gesicht, wenn da nur noch Akademiker sitzen

Juli Zeh, Autorin und Verfassungsrichterin in Brandenburg

Programmhinweis

Die Veranstaltung ist am Mittwoch (31.1.), um 19 Uhr in einer Sonderausgabe der Sendung "Forum" im rbb24 Inforadio zu hören. Einen einstündigen Mitschnitt gibt es außerdem am Sonntag, den 4.2., ab 11 Uhr dort zu hören.

Zeh empfindet Arbeiter im Bundestag als unterrepräsentiert

Als ganz massives Problem in diesem Zusammenhang sieht Zeh, dass zu wenige Unstudierte in den Bundestag gewählt werden. "Einer Partei wie der SPD steht es nicht gut zu Gesicht, wenn da nur noch Akademiker sitzen", sagt sie. Zwar könnten Akademiker auch Arbeiterinteressen glaubhaft vertreten, aber es werde zum Problem, wenn man ausschließlich von Menschen vertreten würde, die einer anderen politischen Klasse angehörten.

Scholz stimmt da zu, besteht aber darauf, es sich nicht so leicht machen zu können. Der Eindruck, dass deshalb nur Politik für eine bestimmte, urbane, woke Klientel gemacht werde, will Scholz nicht stehen lassen. Man vergesse, dass die meisten Abgeordneten des Bundestages aus ländlichen Wahlkreisen kämen und schon deshalb ein genaues Auge für diesen Raum hätten.

Einigkeit, dass Rechtsruck kein deutsches Phänomen sei

Das Thema AfD kommt überraschend spät aufs Tableau für einen Abend, in dem es um "Risse und Spannungen in der Gesellschaft" gehen soll - durch eine Zuschauerfrage. Man müsse dagegenhalten, findet Scholz. Dass Bürger aufstünden und zeigten, dass Demokraten in der Mehrheit seien, sei ermutigend.

Der Rechtsruck sei keine deutsche Erfindung, finden Zeh und Scholz gleichermaßen. In der ganzen Welt gebe es gerade ähnliche Bewegungen. Zeh analysiert, das sei wahrscheinlich eine normale Reaktion auf eine längere Phase der Veränderung, die Menschen oft auch persönlich in ihren Identitäten beträfe und verunsichere.

Die Schriftstellerin berichtet von ihren Erfahrungen aus ihrem brandenburgischen Dorf, in dem sie wohnt. Wenige seien dort rechtsextrem, viele wählten aber AfD. "Die Leute haben das Gefühl, sie wurden in den letzten Jahren, weil sie Corona-kritisch waren, weil sie Ukraine-kritisch waren, dann sehr pauschal einer Sorte von Mensch zugeschlagen", so Zeh. Diese Menschen würden sich dann sagen, "dann kann ich auch gleich die anderen wählen". Eine Zuschauerin findet, das sei eine Relativierung von dem, was jüngst über sogenannte "Remigrationspläne" bekannt geworden sei.

Kanzler hat entspannten Abend

Wie so oft an diesem Abend hört Scholz genau zu, stimmt zu: Man dürfe die Menschen nicht über einen Kamm scheren, man müsse politisch streiten, auch und gerade mit den Menschen, die den vielen Veränderungen, die da sind und noch kommen werden, kritisch gegenüberstünden. Nachfragen, warum dieser Dialog gerade nicht stattfindet oder warum er nicht zu Ergebnissen führt? An diesem Abend gibt es sie nicht.

Am Ende gehen nicht wenige Zuhörer mit gemischten Gefühlen nach Hause. Viele Themen haben die "Metaebene" nicht verlassen. Konkrete aktuelle Themen wie Migration, Ampelstreit, Bürgergeld spielten fast keine Rolle.

Der Kanzler winkt freundlich in den sich schnell leerenden Zuschauerraum. Er war in jüngster Zeit schon bei schwierigeren Veranstaltungen.

Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 31.01.2024, 19:30 Uhr

47 Kommentare

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  1. 47.

    Das Selbe könnte man sich auch fragen, wie ein Kinderbuchautor Wirtschaftsminister werden konnte.

  2. 46.

    Ich frage mich immer wieder, wie man einen der Korruption verdächtigten Anwalt zum Kanzlerkandidaten machen konnte.
    Aber wie der Fall Kurz zeigt ist Deutschland ja kein Einzelfall.
    Das nächste Disaster droht dann wenn der Ex Blackrock- Manager der CDU Deutschland den Rest gibt.

  3. 45.

    "... Gutes-KiTa-Gesetz gibt. Das geht aber nicht auf Olaf Scholz zurück, nein, nein, nein -das kommt aus dem Osten. ..."

    Ist dieser Zusatz - kommt aus dem Osten - wirklich notwendig?
    Kann man nicht mal einfach mit diesem Ost-West-Gedöns aufhören ...

    oder anders: bitte mit Ost-West-Nord-Süd-Gedöns anfangen ;-)

  4. 44.

    Kita Sprech na Mahlzeit, wenn die in der Kita auch so sprechen, kann bei Pisa nix anderes mehr bei rauskommen. Wer Schreibfehler findet darf die Schreibfehler gerne behalten.

  5. 43.

    "Eine Zuschauerin findet, das sei eine Relativierung von dem, was jüngst über sogenannte "Remigrationspläne" bekannt geworden sei."

    Das ist sogar eine unglaubliche Verharmlosung und nicht die erste Entgleisung von Zeh.

  6. 42.

    Der Aufruf ist grundsätzlich richtig, dem stehen nur die innerparteilichen Realitäten entgegen. Es gibt in den Parteien der Mitte, vor allem SPD, CDU und FDP sehr viele sehr vernünftige und fähige Köpfe an der Basis. Die kommen aber in den Parteiämtern einfach nicht höher, weil sie den Parteiführungen als Quertreiber gelten. Schon viel zu viele haben deshalb das Handtuch geworfen und sind ausgetreten. Nach oben gespült werden die Abnicker und Ja-Sager, die immer schön auf Führungslinie sind. Glaubt irgend jemand ernsthaft, das aktuelle Spitzenpersonal bei SPD und Grünen hätte es je an die Parteispitze geschafft, wenn innerparteiliche Demokratie wirklich heute noch funktionieren würde? Genau deshalb entfernen sich die Parteien ja auch immer mehr vom Wähler, weil sie deren Ängste, Wünsche und Nöte gar nicht mehr verstehen.

  7. 41.

    Merz oder Söder hätten tatsächlich wohl nichts besser gemacht. Das denke ich auch. Ausser, dass noch mehr Aufrüstung betrieben worden wäre oder Deutschland vielleicht sogar schon Kriegspartei wäre.

  8. 40.

    Sehr guter Kommentar, alle Punkte wurden aufgezählt, weswegen wir jetzt genau die Probleme haben. Aber Herr Merz meint ja die Lösung zu sein, oh man.....

  9. 39.

    Dann spricht der Kanzler nur Sie und Ihresgleichen an, wenn Sie alles verstehen und nicht zu denen, da Sie von sich aus meinen, etwas Anderes zu sein, als die, die Sie von ober herab mit "dass man mit manchen Bürgern schon in einfacher Sprache sprechen muß, damit sie es verstehen. ." disqualifizieren.

  10. 38.

    Ach Rosi, ....
    (Mehr fällt mir zu Ihren diversen Kommentaren nicht ein)

  11. 37.

    Ich habe das letzte Buch von Frau Zeh gelesen. Sie hätte dem Herrn Scholz auch gleich die Lage der Landwirt*innen erklären können - oder ihm ihr Buch überlassen. Vielleicht ahnte er dann, worum es geht. Ein Wunsch von mir wäre, wenn beide die Rollen tauschen würden - nur: ob ein Buch von Herrn Scholz ein Bestseller würde? Titelvorschlag hätte ich schon: "Vom Doppelwumms zum Rohkrepierer - Geschichten aus dem Kanzleramt"

  12. 36.

    Und man kann die innerliche Einstellung diesbezüglich ganz schnell erkennen. Immer wenn im Satz steht „wir müssen den Leuten da draußen...“, spätestens dann wissen alle wer wem was erklären muss.

  13. 35.

    Meine volle Zustimmung. Wer geglaubt hat, daß die Ampel in 2 Jahren die Fehler der 16jährigen Vorgängerregierung berichtigen kann, irrt ganz gewaltig. Ähnlich wie beim Berliner Senat - selbst 6 Jahre sind so schnell nicht aufzuarbeiten. Die deutsche Gründlichkeit (man nenne sie Bürokratie) tut ihr Übriges dazu.

  14. 34.

    Dann scheint es mit ihrer Allgemeinbildung aber nicht sehr weit zu sein !

  15. 32.

    Beispiel "Gute-KiTa-Gesetz" – Anspruch auf Papier, nix gut in Realität. So what?!?

  16. 31.

    Und das schon seit weit mehr als 2 Jahren. Warburg, Cum-Ex – nur ein Beispiel von vielen. Ich kann mich nicht mehr erinnern.

  17. 30.

    ...und an wen hättest du denn da so gedacht? Ich habe leider das Gefühl, wenn die heutigen Politiker 'da oben' angekommen sind ist das Volk vergessen:-( aber wie soll man auch allen gerecht werden?

  18. 28.

    Sehr geehrte Schriftstellerin, das Wort abholen kannte ich bis bis 2007 auch nicht. Und es ist eine Worthülse, die aus dem westdeutschen Sprachgebiet kam. Das erste Mal hörte ich es in einer Weiterbildung für Lehrkräfte.
    Im Allgmeinen wird die Floskel schon verstanden, denn sie drückt aus, dass man sich um (seine) Personen, mit denen man ein Ziel erreichen möchte, kümmern, Aufmerksam/Einsatz u.persönliches Engagement entgegenbringen muss.
    Ob die Erklärung vollständig oder richtig ist, mögen wortgewaltige 'Menschenversteher' beurteilen.
    Ich hoffe, das ich Ihnen ein bisschen helfen konnte. Und, nein, ich möchte Sie auf keinen Fall abholen.
    Obwohl es ja schon ein Gutes-KiTa-Gesetz gibt. Das geht aber nicht auf Olaf Scholz zurück, nein, nein, nein -das kommt aus dem Osten. Jedenfalls eine Politikerin aus der großen Stadt hat es erstmals über die Lippen gebracht. Es steht 1:1!

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