Kunst im öffentlichen Raum - Im Bärendienst - nicht nur bei der Berlinale

Ob auf der Berlinale, an der Autobahn als Willkommensgruß oder als Berliner-Wappentier: Am Bären kommt hier niemand vorbei. Pelzige Charakterdarsteller sind überall in der Stadt zu bewundern - Julia Sie-Yong Fischer hat sich umgeschaut.
Wer war zuerst da: Berlin oder der Bär? Die Sprachwissenschaft widerlegt eine populäre Annahme, dass sich das Wappentier von dem Stadtnamen wie beispielsweise bei der Stadt Bern ableiten ließe. Das alte slawische Wort für die Hauptstadt "br ’lo" bzw. "berlo" mit der Bedeutung "Sumpf" oder "Morast" sollte wohl eher auf das matschige Terrain hinweisen. Auch wenn die brummenden Wesen schon vor der Besiedlung hier sicher heimisch waren.
Eine weitere Spur führt zum Markgrafen von Brandenburg, Albrecht dem Bären (1100-1170). Er gründete in der Region viele Städte und begünstigte damit die Entstehung Berlins geopolitisch. Endgültig bestätigt ist jedoch keine dieser Theorien. Gesichert ist allein die erste urkundliche Erwähnung des Bären als Berliner Wappentier in einem Ratsbeschluss vom 22. März 1280. Seitdem ziert der Bär seitlich stehend und mit herausgestreckter roter Zunge sämtliche stadteigenen Dokumente und Fahnen. Auch der Handel kam auf den Bären und integrierte ihn in Logos und Reklamen.

Dit is "Bär-lin"
Abgesehen von der symbolischen und dekorativen Bedeutung sind die Bären schon rein physisch aus Berlin nicht mehr wegzudenken. Ob Knut, Pit und Paule oder Leni und Lotte: Zahlreiche Besucher:innen strömen nur ihretwegen in Zoo und Tierpark.

Aber auch nichtlebendige Exemplare stehen als bunte, kommerzielle Buddy Bären vor fast jedem größeren Geschäft. Ein Blickfang für Tourist:innen und eine im wortwörtlichen Sinne eher oberflächliche Angelegenheit. Dabei gab es doch schon vorher zahlreiche individuell und ausdrucksstark gestaltete Skulpturen und Plastiken des tierischen Lieblings: Angeblich sollen es über hundert im Raum Berlin sein. Der bekannteste von ihnen ist der Bär (1956) der Berliner Bildhauerin Renée Sintenis (1888-1965): Er stand Modell für die Berlinale-Trophäen.
Bei einem Spaziergang durch die Berliner Bezirke lassen sich aber weitere brummige Kiezindividuuen antreffen.

Der treue Spielgefährte
Etwas traurig steht der kleine Bronzebär (1965/66) der Bildhauerin Birgit Horota (1936-2021) vor einem Spielplatz auf dem Humannplatz am Prenzlauer Berg. Zögerlich macht er einen Schritt nach vorne, wobei sein Blick aus seinen nachgezeichneten Lidern freundlich, aber etwas misstrauisch ist. Kleinkinder können hervorragend auf ihn klettern, deswegen ist die patinierte Oberfläche an den beliebten Greifstellen wie Nase und Ohren blank poliert. Nur einmal verschwand er zwischendurch wegen Diebstahls, konnte aber zum Glück wieder gefunden werden.

Der Pubertierende
Das lümmelnde Bärchen (1987) sitzt auf einer Stehle und schaut schräg hoch in den Himmel. Sein linker Arm fasst zwischen die Beine und stabilisiert seinen lässigen Sitz. Seine Fellstruktur ist erstaunlich detailliert in den groben Sandstein eingeritzt. Die Schnauze wirkt lang und schmal im Vergleich zum kräftigen Körper. Die Blicke der anderen meidet das Tier, eventuell ist da auch ein wenig Verunsicherung im Spiel. Dieser Bär wirkt wie ein pubertierender Jugendlicher: vor allem mit sich selbst beschäftigt. Seine Popularität scheint dennoch ungebrochen: "Unser Lieblingsbärchen" nennt eine vorbeigehende Passantin die Skulptur. Bildhauer Nikolaus Bode (*1938) soll vorbereitende Skizzen beim Bärenzwinger am Märkischen Museum von lebendigen Exemplaren angefertigt haben.

Der Introvertierte
Diesen Eisbär (2004) hat Stephan Horota (1932-2024), der Ehemann von Birgit Horota, mit zwei weiteren Ensembles im Prenzlauer Berg erschaffen. Das aus Marmor geschlagene Tierchen ist ein verschlossenes Exemplar. Wie ein kleines, elendiges Paket kauert er mit seinen Armen zwischen den Beinen, mit schwerem Kopf und geschlossenen Augen auf einem niedrigen Sockel am Rande eines Spielplatzes. Völlig erschöpft und schwach scheint er sich in sich oder vor sich selbst verstecken zu wollen. Dabei gilt der Eisbär unter seinesgleichen als jener aggressive Karnivore, der durch die eingeschränkte Vegetation seines Habitats durchaus proaktiv werden muss. Der wahrscheinlich bekannteste Berliner Eisbär ist nach wie vor Knut (2006-2011) aus dem Zoo, an den das Bärchen von Horota auch unweigerlich denken lässt. Irgendwie liebenswert, irgendwie traurig.

Die überwältigte Mutter
Naturgetreu liegt die Bärin (1929) auf dem Rücken und versorgt ihren großen Wurf von vier eifrig saugenden Jungen. Ihr Blick wirkt leicht gleichgültig und finster, die kräftezehrende Mutterschaft spiegelt sich in ihrem angestrengten Gesicht. Die Bärenmutter ist auch das Symbol der selbstlosen und ultimativ beschützenden Erziehungsberechtigten: Über zwei Jahre können Bärenkinder bei ihrer Erzeugerin verweilen, bevor sie selbstständig werden. Hugo Lederer (1871-1940) hat die Brunnenskulptur geschaffen, das Säugetier wurde ursprünglich zur Einweihung des Zehlendorfer Rathauses aufgestellt. In der jetzigen Position vor dem Finanzamt bekommt die Szene einen ungewollt komischen Eindruck: Wer wird hier von wem gemolken?

Der Aufgeschlossene
Der kleine aus Kunststein gegossene Bär mit Ball (1972) steht passenderweise auf einem Spielplatz. Der thüringische Bildhauer Erich Wurzer (1913-86) hat sich bei seiner Tierdarstellung für ein aufgewecktes, zugewandtes Erscheinungsbild entschieden. Das Bärchen lädt nicht nur zum Aufsitzen ein, sondern auch zum Spiel. Ein ausgesprochen fröhliches Exemplar, mit direktem Blick und einem offenen Lächeln. Der ausgeprägte Spieltrieb ist nicht nur der Jugend vorbehalten, sie ist auch ein Zeichen der Intelligenz des Bärentieres.

Die "Disneybären"
Den Eingang zum Siedlungsblock Grazer Damm in Tempelhof flankieren und markieren zwei lebensgroße Bärenfiguren: zwei aus Kunststein gegossene, eher jüngere Tiere (1938-40). Einer schaut neugierig etwas einfältig nach links, während der andere an seiner (womöglich honigbesudelten) Pfote schleckt. Auffällig scheint ihre fast comicartige Gestaltung, die platten Füße und Hände erinnern leicht an Enten. Die Köpfe wirken riesig zu den schmalen nach hinten ausufernden Torsi. In der NS-Zeit wurden sie vermutlich im Zuge des Siedlungsbaus am Grazer Damm beim Bildhauer Karl Wenke (1911-1971) beauftragt. Zur selben Zeit eröffnete 1939 der Bärenzwinger am Märkischen Museum mit Lebendexemplaren, der erst 2015 mit Bärin Schnutes Tod sein Ende finden sollte. Die Stärke und Überlegenheit, die die Nazis in dem Bären repräsentativ für ihr totalitäres Weltbild sahen, lässt sich hier nicht so wirklich ableiten. Aber das ist vielleicht genau so irritierend wie die Vorliebe Adolf Hitlers für die verträumte und naive Trickfilmwelt Walt Disneys.

Der Yogibär
Der Bär auf der Kugel (1910) des Berliner Bildhauers Richard Hegemann (1880-n.a.) sitzt nicht nur recht unbequem auf einer Kugel. Er dehnt auch seine Beine, als seien sie nicht aus gegossenem Kunststein, sondern aus Gummi. Dabei ist seine Körperhaltung bucklig entspannt, der Blick geht ins Leere. Das längliche Gesicht hat eine erstaunlich menschlich gezeichnete Augenpartie. Statt Fellstruktur sieht die Oberfläche hautähnlich aus und wirft regelrecht Falten. Auf der Kugel kriecht vor ihm ein Salamander, dessen Kopf stark beschädigt wurde. Ob das Reptil ein alchemistisches Zeichen oder ein Symbol für Zerstörung und Reinkarnation sein könnte, ist auch in Kombination mit dem Bären höchst unklar. Die gesamte Szenerie erweckt einen gruseligen Eindruck, vor allem weil das Tier wie ein verkleideter Mensch erscheint. Die Platzierung auf dem Mittelstreifen der Wiltingerstraße wirkt unentschieden und beliebig. Das könnte an dem Standorttausch 1980 mit der Kugelläuferin am Zeltinger Platz oder an einem Auffahrunfall von 2020 liegen.
Seit Anbeginn der Menschheit ...
Der Bär - wir finden ihn heute überall in der Stadt. Doch seine Bedeutung für den Menschen ist uralt. Schon seit Anbeginn der Menschheit wird sein Umriss im Sternbild des Großen Bären gesehen, einem himmlischen Sammelpunkt. Da er aufrecht auf zwei Beinen gehen kann und angeblich gehäutet überraschend human aussieht, stellt er den Stammesvater für die japanischen Ureinwohner:innen Ainu dar.
Eher angsteinflößend tritt er zornig und gierig in der Bibel in Erscheinung, teilweise sogar als Vertreter für den Teufel. Seinem Charakter wird aus menschlicher Perspektive Treue, Gutmütigkeit, Grausamkeit, Mut, Faulheit, (Neu)gier, Eigensinn, Hilfsbereitschaft und Gleichgültigkeit zugeschrieben.
Auch in der Natur zeigt er sich facettenreich. Vom reinen Fleischfresser (Eisbär) bis zum Veganer (Pandabär) vertilgt er je nach Art und Umgebung eigentlich alles mit Bärenhunger. Schwimmen, klettern, aufrecht gehen - motorisch hat er seine stabile Körpermasse ziemlich im Griff.
Aber in Filmen und Büchern spielt er für Kinder als gutmütiger Paddington, Pu oder Balu oft den sympathischen Tollpatsch. Für die Unterhaltung von Volljährigen besetzt er wiederum die Rolle des jagenden Kontrahenten, die wie in der Realität für den Braunbären Bruno 2008 tödlich endete.
Der Bär ist ein Wesen voller Überraschungen und vermeintlicher Gegensätze. Ist es denn da verwunderlich, dass genau dieses Tier Berlin repräsentieren soll?
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