Interview | Soziologe zu Protesten gegen Rechts - "Wenn es um Straßenprotest geht, die größte Massenbewegung der Bundesrepublik"
Seit einem Monat gibt es eine neue Protestwelle in Deutschland: Je nach Ort gehen bis zu hunderttausende Menschen "gegen Rechts" auf die Straße. Soziologe Dieter Rucht erklärt im Interview, was die Proteste bewirken könnten und was eher nicht.
rbb|24: Herr Rucht, Die Protestwelle mit Demonstrationen "gegen Rechts" ist noch recht neu, dennoch: Sehen wir hier im Vergleich zu früheren Protesten, wie beispielsweise der anfänglichen Klimabewegung, eine neue Dimension?
Dieter Rucht: Ja, das ist schon eine neue Größenordnung. Ich glaube, wenn es um Straßenprotest geht, ist das die größte Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Man muss ein bisschen vorsichtig sein mit solchen Superlativen, aber ich glaube, diese Einschätzung kann man rechtfertigen.
Was ist denn anders als bei anderen großen Protesten, was macht diese Bewegung so groß?
Rein quantitativ gesehen sind jetzt zusammengezählt schon mehrere Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Man muss außerdem sehen, dass es ein flächendeckender Protest ist: Auch kleinere Gemeinden, mittelgroße Städte, Kleinstädte sind von dieser Protestwelle erreicht worden. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass das Spektrum der Protestierenden ziemlich breit ist - zumindest so weit man das jetzt schon anhand vom Augenschein und den Schildern die gezeigt werden, beurteilen kann. Es reicht von links außen bis weit über die Mitte ins konservative Lager hinein. Natürlich: die Rechtsradikalen, die sind da nicht dabei.
Ist es tatsächlich die vielbeschworene politische Mitte, die da jetzt auf die Straße geht?
Die Mitte ist auch dabei, aber sie ist jetzt nicht der einzige Träger. Ich denke schon, dass ein guter Teil der Protestierenden sich eher links von der Mitte verorten lässt, auch liberale Leute sind da natürlich dabei. Aber es ist eben auch erkennbar, dass Leute, die konservativ orientiert sind, dazu aufrufen oder mit unterstützen. Man sieht ja auch bei den Politikern, die sich als Privatpersonen angeschlossen haben, dass da durchaus welche aus der Union mit dabei sind.
Würden Sie sagen, dass es eine Qualität dieser Proteste ist, Menschen zu mobilisieren, auf die Straßen zu bringen, die vorher nicht an Demos teilgenommen haben?
Es gibt dazu noch keine Befragung. Es ist aber zu vermuten, dass ein Teil der Leute, die ein bisschen in Wartestellung waren und sagten, es müsste doch etwas passieren - dass die jetzt sagen: Ja, es passiert etwas und ich bin mit dabei. Es gibt auch so eine Art Ansteckungseffekt. Wenn man Abend für Abend oder Wochenende für Wochenende die Zahlen über die Medien mitgeteilt bekommt, dann sagen sich Menschen: Das können wir in unserer Gemeinde doch auch machen. Man bestärkt sich quasi wechselseitig und kann sich dann noch mal in der medialen Resonanz betrachten.
Proteste in Gemeinden ist ein gutes Stichwort. Auch das ist ja eine neue Dimension: Sonst finden Proteste meist vor allem in größeren Städten statt. Jetzt sind in vielen kleinen Städten und Gemeinden Leute auf die Straße gegangen. Was hat es damit auf sich?
Das heißt erst mal, dass die Unzufriedenheit über das, was politisch läuft, verbreitet ist, vor allen Dingen darüber, was auf der rechten Seite läuft. Und, dass das eben nicht nur beschränkt ist auf die ohnehin politisch Aktiven und Interessierten, sondern eben auch Kreise erfasst, die sich vielleicht in der Vergangenheit bedeckt gehalten haben. Bemerkenswert ist, dass im Osten, in Städten, wo eigentlich die AfD schon so etwas wie die Hoheit hat, sich Leute auf die Straße trauen. Da ist ja dann doch erheblich mehr Mut gefordert als im Westen, wo man ohne Probleme demonstrieren kann. In einigen Gemeinden in den östlichen Bundesländern ist es da schon sehr viel schwieriger: Man kennt sich, man ist vielleicht auch Anfeindungen ausgesetzt, und dennoch gehen die Leute jetzt auf die Straße.
Was schätzen Sie: Wie lange werden wir die Demos in dieser Form noch sehen und wann ebbt die Resonanz ab?
Ich kann da jetzt auch nur raten, aber ich denke, die größere Welle geht vielleicht noch zwei, drei Wochen. Danach wird es an einzelnen Orten weitergehen, wo besonders Aktive unterwegs sind. Insgesamt ist es allerdings auch so, dass sich da ein neues Bündnis formiert: "Hand in Hand" ist die Bezeichnung für dieses Bündnis. Interessant ist zum einen die Breite der Organisationen, die sich dem angeschlossen haben - derzeit sind es etwa 800 Gruppen und Organisationen. Es sind Sportverbände dabei, natürlich politische Gruppen, da sind aber auch vermeintlich völlig unpolitische Gruppen dabei. Dann gibt es die Omas gegen rechts und so weiter.
Irgendwann stellt sich dann aber auch immer die Frage nach den politischen Effekten von Protestbewegungen. Eine Kernforderung dieser Proteste ist, dass die Bundesregierung das AfD-Verbot prüfen soll. Was passiert, wenn die Bundesregierung sich nicht dazu entschließt, das zu tun?
So ein Prüfverfahren dauert erfahrungsgemäß Jahre. Das hat bei der NPD fünf Jahre gedauert und ist dann sozusagen negativ im Sinne derer ausgegangen, die eine Entscheidung gegen die NPD haben wollten. Darauf zu warten ist glaube ich nicht opportun. Nein, die Leute müssen schon jetzt und auch bei den anstehenden Wahlen Flagge zeigen. Das ist das Mittel der Wahl und das kann und sollte eigentlich nicht juristisch geregelt werden, sondern das ist eine Frage der Politik, auch eine Frage der Zivilgesellschaft, die sich da mündig zeigt und ihre Position klar macht.
Wahlen sind ein gutes Stichwort: In diesem Jahr stehen einige an. Die Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern allerdings erst im Herbst. Hat so eine Protestwelle dann überhaupt noch einen Einfluss, wenn sie bis dahin wieder abgeebbt ist?
Das ist schwer zu sagen, wie sich das auswirken wird. Die Leute gehen zur Wahl und machen dann an einer Stelle ein Kreuz. Dahinter steht aber ein ganzes Bündel von Faktoren: Was haben sie in der Vergangenheit gewählt - gibt es da schon eine gewisse Bindung und Tradition? Wie wird das Führungspersonal eingeschätzt? Was bieten die Konkurrenten? Was steht im Parteiprogramm? Glaubt man den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, die sich da zur Wahl stellen? Also da ist nicht nur ein Thema im Vordergrund und deshalb ist es schwierig, zum jetzigen Zeitpunkt zu sagen, ob sich das in irgendeiner Weise auf das Wahlverhalten auswirken wird.
Kann man denn mit solchen Demonstrationen auch Menschen, die sich zwischen sehr konservativ bis rechtsextrem äußern, umstimmen und so dem Rechtsruck auch tatsächlich entgegenwirken?
Also, da bin ich skeptisch. Es gibt ein gefestigtes Lager von Leuten, die sehr genau wissen, warum sie die AfD oder ähnliche Gruppierungen wählen. Dann gibt es Leute, die vielleicht als Protestwähler das mal punktuell oder phasenweise tun. Und es gibt Leute, die nicht so recht überzeugt sind, aber erst mal sagen: "Ich habe eine Tendenz, da gibt es auch Elemente, die ich gut und richtig finde und deshalb will ich die Partei". Aber ich glaube nicht, dass jetzt viele von der AfD abspringen und dann das Lager gleichsam wechseln. Im Gegenteil: Ich glaube sogar, dass es eher zu einer Verhärtung der Fronten kommt. Das heißt, die Leute werden jetzt auf beiden Seiten trotziger auftreten und die einen oder anderen auf die eine oder andere Seite ziehen. Wie sich das unterm Strich auswirkt, also ob die AfD verliert oder gewinnt, das ist durchaus offen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Ann Kristin Schenten und Jenny Barke für den rbb24 Inforadio Podcast "Newsjunkies". Die komplette Folge zum Thema können Sie hier nachhören. Die hier zu lesende Fassung des Gesprächs mit Dieter Rucht ist eine transkribierte und leicht gekürzte Fassung des Originalgesprächs.
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.02.2024, 18:30 Uhr
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