Wintersport in Brandenburg - "Zwölf Monate springen? Kein Problem"
Das flache Brandenburg blickt zurück auf eine lange Wintersport-Tradition. Doch die warmen Winter werden zunehmend zum Problem. Die Skispringer aus Bad Freienwalde haben eine Lösung gefunden. Andere Disziplinen haben es schwerer. Von Shea Westhoff
Oben auf dem 40 Meter hohen Sprungturm in Bad Freienwalde (Märkisch-Oderland), auf dem Startbalken, sitzt Florian Fechner in einem bronzefarben schimmernden Ganzkörper-Skisprunganzug. Der Höhenunterschied von der Turmspitze bis ins Tal beträgt fast 100 Meter. Gleich wird sich der 13-Jährige auf seinen Skiern hinunterstürzen.
Von hier oben sieht es aus wie ein gepunktetes Wimmelbild: die rund 200 Skisprung-Begeisterten, die unten im Tal den alljährlichen "Wintersport-Tag" mit Glühwein und Bockwurst auf dem Gelände des WSV 1923 zelebrieren.
Die Süddeutschen wundern sich
In diesem Jahr gibt es einen ganz besonderen Anlass, denn der Verein feiert seine Gründung vor 100 Jahren. Heute betreibt der WSV eine äußerst erfolgreiche Nachwuchsarbeit, listet derzeit 27 aktive Springer. Damit zählt man Vereinsangaben zufolge zu den leistungsstärksten Stützpunkten im Nachwuchsbereich. Aktuell sind davon drei Talente in die Elite-Bundesstützpunkte entsendet.
Auch Florian Fechner möchte auf eine der Eliteschulen und Profi-Skiflieger werden und damit die Brandenburger Erfolgsgeschichte fortschreiben. Er zieht seine orange getönte Skibrille auf.
Noch eine Frage, bevor er hinab ins Tal fliegt: Sind all die bayrischen und schwäbischen und badischen Jugendlichen bei nationalen Schüler-Cups nicht eigentlich sehr überrascht, mit jemandem aus dem ansonsten recht platten Brandenburg zu konkurrieren? Das komme vor, sagt er. "Wir sind ja auch das nördlichste Skisprung-Gebiet in Deutschland. Es gibt selten Schnee hier."
Auch an diesem Tag, einem Sonntag, herrschen milde neun Grad Außentemperatur. Die Sonne ist gerade durch die graue Wolkendecke gebrochen. Unten im Tal: nicht etwa weißer Puderschnee, sondern ein saftig grüner Rasen.
12 Monate Skispringen ohne Schnee
Genau dafür ist man hier ausgerüstet. Die Skispringer fahren auf keiner beschneiten Schanze, sondern in bewässerten Keramik-Spuren, unten landen sie statt auf Schnee auf Kunststoff-Matten - und der dahinterliegende Auslauf ist eine weite Wiese. Es ist das Konzept in Bad Freienwalde, und es funktioniert.
Florian Fechner geht nun in die Hocke, nimmt Schwung auf, beschleunigt, peitscht die Rampe hinunter, stößt sich vom Schanzentisch ab und liegt nun, den Körper nach vorn gelehnt, in der Luft. Die eben noch ausgelassene Schar im Tal richtet ihren Blick nun gebannt nach oben. "Florian, fliiiieg", ruft der Fest-Moderator ins Mikrofon. Und der 13-Jährige fliegt soweit er kann, landet perfekt, bei 63 Metern. Applaus.
Es gibt heute keinen Titel zu gewinnen, es ist ein Schau-Fliegen. Doch sichtlich stolz ist man hier auf seinen Verein und die Nachwuchsspringer.
Einer der Begeisterten im Publikum ist Dieter Bosse. Einst war er Hotelier und Besitzer eines Vier-Sterne-Hotels in Bad Freienwalde. Seine Leidenschaft gilt dem Skispringen. Nachdem dieses zu DDR-Zeiten zunehmend eingeschlafen war und die bestehenden Schanzen von den sowjetischen Streitkräften zurück- und abgebaut worden waren, war er einer derjenigen, die das Springen im Jahr 2001 wieder aufleben lassen wollten.
Er sammelte Unterstützer, Geldgeber, ließ mit Mitstreitern nach und nach vier Sprungschanzen in den Bad Freienwalder Papengrund bauen: zuerst die kleinen 10- und 20-Meter-Schanzen, zuletzt im Jahr 2008 die große 60 Meter lange Schanze, von der auch Florian Fechner springt.
Bosse sagt stolz, dass ihm ein DSV-Nationaltrainer erzählt habe, in welch vorteilhafter Lage Bad Freienwalde doch sei, dass man hier ganzjährig springen könne. In vielen klassischen Wintersport-Regionen müsse künstlich beschneit werden und dafür zusätzliche Schnee-Haltenetze angebracht werden. "Wenn da aber nun kein Schnee ist, können diese Schanzen auch nicht besprungen werden", sagt Bosse. "Somit haben wir in Brandenburg einen super Standort. 12 Monate springen? Kein Problem."
Klimaforscher alarmiert
In anderen Wintersport-Regionen, vor allem in solchen, die auf den Breitensport setzen, macht sich die globale Erderwärmung zunehmend bemerkbar. Die Schneefallgrenze steigt. "Die Wintersaison startet immer später und hört früher auf", sagt Maximilian Witting, der an der Münchner Ludwigs-Maximilian-Universität zum Klima- und Umweltwandel forscht. Das sei für Wintersport-Orte ein Problem, denn das lukrative Geschäft in den Weihnachtsferien werde immer unsicherer. Die Folgen: ein "Konzentrationsprozess", wie Witting es ausdrückt. Der Wintersport werde sich zunehmend auf immer weniger Orte konzentrieren, die höher liegen.
Das könnte auch für einen Standort wie Bad Freienwalde zum Problem werden, auch wenn dieser ganzjährig auf Sport ohne Schnee setzt. Skispringen ist nun mal ein Wintersport, Kinder werden über die Berührung mit echtem Schnee, mit echtem Eis dafür begeistert. Der Wintersport habe tatsächlich ein Nachwuchsproblem, sagt Witting: Die Anfahrten zu Schneegebieten würden weiter, dadurch teurer, es werde somit beispielsweise komplizierter, Skifreizeiten anzubieten. "Die Basis wird kleiner." Das dürfte über kurz oder lang auch Brandenburg zu spüren bekommen.
"Nicht mehr den Schnee wie vor 20 Jahren"
Der Brandenburger Landes-Skiverband ist derzeit im Aufwind, konnte in den vergangenen Jahren sogar Zuwachs erzielen, wie der Landespräsident Robert Busch betont. Trotzdem macht er sich angesichts des erneut weitgehend ausbleibenden Schnees keine Illusionen: "Es ist wirklich problematisch in diesem Jahr."
So mussten die Landesmeisterschaften im Langlauf bereits mangels Schnees abgesagt werden. Und in Oberwiesenthal, im Februar Austragungsort der Landesmeisterschaften im Ski Alpin und Snowboard [lsv-brd.de], liege bislang auch noch kein Schnee.
"Hier im Flachland werden wir nicht mehr den Schnee haben, den wir vor 20 Jahren hatten", sagt er. "Und da muss man gucken, wie man das kompensiert." Doch der Verband sei gut dabei. Skispringen auf Matten und Langlauf auf Matten gebe es bereits, außerdem einen Skisimulator in Kolzenburg. Allerdings betont Busch, dass Snowboard oder Abfahrt ohne Schnee schlicht nicht denkbar seien.
Es sind Gedanken, die sich der WSV-Klubpräsident Dieter Bosse nicht machen muss, das Skispringen ist für zwölf Monate schneefreie Zeit ausgelegt. Den Standort Bad Freienwalde hält er dabei für ideal. "Wir liegen vor den Toren Berlins, das Umfeld ist auch gut. Wir akquirieren ja Kinder und Nachwuchssportler aus der ganzen Region, einschließlich der Hauptstadt."
Weltcup-Auftakt 22/23 auf Matten
Die 13 Jahre alte Nachwuchshoffnung Florian Fechner steigt wieder auf die Schanze, um zum nächsten Sprung anzusetzen, auf Matten, bei neun Grad Außentemperatur.
Der Junge aus Bad Freienwalde macht es damit nicht anders als die Profi-Skispringer zu Beginn der aktuellen Weltcup-Saison. Die mussten im polnischen Wisla bereits Anfang November mit der Turnierzeit beginnen, um den Terminen der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 auszuweichen. Doch es war viel zu warm, selbst für Kunstschnee. Und so flogen die Springer erstmals auf grünen Matten.
Sendung: Antenne Brandenburg, 18.01.2023, 9:20Uhr