Pride-House Berlin - EM-Feeling, aber stressfrei
Fanmeilen - das heißt zu viele Menschen, zu viele Privatgespräche. Das Pride-House hat im Moabiter Poststadion einen Safe Space geschaffen. Für queere Fans und einen Public-Viewing-Muffel. Von Toni Lukic
Mittwoch kurz vor fünf, Ecke Spreeweg, John-Foster-Dulles-Allee, gegenüber vom Schloss Bellevue. Die Straße ist nass, es hat mehrere Stunden geregnet. Jugendliche in Trikots und Paare mit Vornamen-Flock auf den nagelneuen Deutschland-Laibchen gehen im Stechschritt Richtung Fanmeile. Die Stimmung ist aufgeregt, hektisch. Alle wollen schnell zum Deutschland-Ungarn-Spiel. Ein Fahrradfahrer mit "Müller" auf dem Rücken wird von einem Mercedes AMG geschnitten und beleidigt den Besitzer als "Ober-Arschloch". Deutschland ist in Spieltags-Form.
Ich fahre in die entgegengesetzte Richtung nach Moabit. Das "Pride House Berlin" lädt zum Public Viewing im Poststadion ein. Queeren Menschen und ihren Verbündeten soll hier ein Safe Space angeboten werden, um Fußball mit einem sicheren Gefühl zu schauen. Homosexualität im Fußball, das ist im Jahr 2024 immer noch weit weg von jeder Form von Selbstverständlichkeit.
In einer Umfrage im Auftrag von SID gaben 54,2 Prozent an, schon mal Zeuge eines homofeindlichen Vorfalls im Profifußball gewesen zu sein [fanq.com]. Verständlich, dass manche zum Beispiel nicht ins Stadion gehen, obwohl sie als Fan Fußball schauen wollen.
Berlins drittgrößtes Public Viewing
Als ich in das Poststadion einbiege, bin ich noch etwas skeptisch. Nicht wegen des Konzepts, ich mag einfach keine Public Viewings. Anstehen für teures Bier oder eine fade Wurst, Privatgespräche im Nacken, während der Ton aus der Übertragung im Himmel verfliegt - auf all das verzichte ich gerne. Im Stadion stehe ich gerne, nicht aber in einer Menschenmasse, um an Köpfen vorbei hoch zu einer Leinwand zu glotzen. Fußball aus dem Fernseher genießt man nur im Sitzen, am liebsten zu Hause oder in der Kneipe und, wenn das Wetter gut ist, am Späti. Die Aussicht, auf Berlins drittgrößtes Public Viewing zu gehen, berauscht mich nicht gerade. Trotzdem suche ich nach einer Alternative, mit Freunden Fußball zu gucken.
Beruhigendes Panorama ohne Fanmeilen-Stress
Vor dem Stadion ist die Stimmung sehr entspannt. Menschen spielen Tischtennis, unterhalten sich und trinken Bier. Aus Wagen werden Bier vom Fass (6,50 Euro mit 2 Euro Pfand)und Köfte, Sucuk, Falafel und Halloumi im Fladenbrot für sechs Euro verkauft. Die Geflügelwurst ist in Ordnung. Meine späteren Sitz-Nachbarinnen schwören allerdings auf die Pommes.
Das Spiel gegen Ungarn verfolgen wir auf der Haupttribüne des Poststadions. Die Leinwand ist schätzungsweise fünf mal drei Meter breit. Für die 800 anwesenden Fans fällt sie doch etwas klein aus. Die Tribüne hat sogar Platz für 1.400 Menschen. Dennoch ist der Ausblick mehr als lohnend. Das Waldstück hinter dem linken Tor und die Bäume hinter der Gegengerade liefern ein richtig schönes und beruhigendes Panorama.
Rauchen und pöbeln verboten
Um mich herum werden mitgebrachte Packungen mit Gummi-Bonbons und Schokobällchen in Fußball-Optik verteilt. Hinter mir wird gut hörbar über alles gesprochen, aber nicht über Fußball. Live im Stadion oder in der Kneipe hätte ich die Person darauf hingewiesen, dass nicht der ganze Block wissen muss, warum nach einem Jahr Berlin die Erinnerungen an das Erasmus-Jahr in Valencia einfach unglaublich weit weg erscheinen.
Aber in diesem Setting verdampft jede Form von Pöbelei und Fußball-Wut. Ich freue mich einfach, dass Leute mit einem Lächeln entspannt Fußball gucken konnten. Rauchen ist auf der Tribüne nicht erlaubt, was wenig problematisch ist, wenn man sich nicht wie sonst mit zehn Zigaretten verbissen in ein Spiel steigern muss, um sich beim Fußball zu spüren. Das DFB-Team spielt souverän, ein Nagelbeißer ist das hier nicht.
Ansonsten: Alles wie immer
Ansonsten ist alles wie immer, wenn Deutschland gewinnt: Ein paar Versprengte singen die Nationalhymne mit, Anfeuerungsrufe oder Gesänge gibt es keine, dafür ist die Stimmung bei Großchancen oder Toren außerordentlich. Und zwischendurch wird gefachsimpelt, welcher deutsche Spieler am besten aussieht (Das Urteil meiner Nachbarin: "Musiala. Gib dem nochmal zwei, drei Jahre. Aber die kommen alle nicht an den Zehner von Ungarn ran.")
Nach Abpfiff fahre ich über die Straße des 17. Juni nach Hause. Ich schlängele ich mich zwischen hupende Autos und Deutschland-Flaggen-schwenkende Touristen durch. Noch bin ich nicht bereit für die ganz große Schland-Ekstase mit Menschenmassen. Es ist immer noch Gruppenphase. Mal schauen, wie es in Richtung Titelgewinn aussehen wird. In der Fußball-Oase "Pride House" werde ich sicherlich nochmal entspannt ein Vorrundenspiel sehen. Jetzt geht es erstmal nach Hause, in Ruhe die Highlights analysieren.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.06.2024, 16:15 Uhr