Theaterkritik | "Dämonen (Berlin)" am Maxim Gorki Theater - Vom Verschwinden im Moloch

Das Publikum sitzt wie im Kino im Theatersaal und schaut auf eine Leinwand – während das Ensemble von Kameras verfolgt durch die Stadt zieht. Beim Live-Film "Dämonen (Berlin)" entstehen fantastisch düstere Bilder. Zu erzählen hat der fast dreistündige Abend aber wenig. Von Barbarba Behrendt
"Alles, was Sie heute Abend sehen, ist live", erklärt Kinan Hmeidan noch von der Bühne des Maxim Gorki Theaters aus, während das Publikum es sich ausnahmsweise mit Getränken im Saal gemütlich macht wie im Kino. Fast drei Stunden lang wird diese Live-Kamera-Fahrt durch Berlin dauern, die in Echtzeit ins Theater projiziert wird – nun ja, fast in Echtzeit. Denn die digitalen Signale brauchen 15 Sekunden, bis sie von der Straße im Saal ankommen. Deshalb zählt Hmeidan den Countdown herunter, bis das erste Bild auf der Leinwand erscheint: Hmeidan, wie er auf de Bühne steht und von 15 bis Null zählt.
Schwindelerregend wie ein Kafka-Roman
Dann rast der Abend los. Zuerst geht es zu treibenden Beats in schwindelerregenden Einstellungen treppauf treppab durchs Theater, als wäre es ein lebendig gewordenes Kunstwerk von M. C. Escher, stets den Schauspieler:innen auf den Fersen, die plötzlich hinter Türen verschwinden wie in einem Kafka-Roman. Aufatmen auch bei den Zuschauenden, als es endlich, endlich raus aus dem Theater-Gefängnis und rein in die Sommernacht in Schwarz-Weiß-Bildern geht.
Hier folgt die Kamera den fünf lange stumm bleibenden Schauspieler:innen, die in schwarzen Anzügen wie dunkle Soldaten schnellen Schritts durch die Stadt patrouillieren. Später werden sie sich zu grellen Clowns verwandeln, die wie Fremdkörper durch den falschen Film Berlin ziehen.
Atmosphärisch dichte Bilder
Die Präzision, mit der die beiden Kameramänner Jelïn Nichele und Robin Nidecker atmosphärisch dichte Bilder in den immer richtigen Einstellungen einfangen, ist fesselnd. Am beeindruckendsten sind die Kamerafahrten in den U-Bahn-Schächten. Die Filmemacher verzerren die Perspektiven, spielen mit der Architektur, lassen die Schauspieler:innen entlang von Säulen auf dem Kopf gehen – bis man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Expressionistische Film-Vorbilder schwingen mit. Bis plötzlich inmitten der Schwarz-Weiß-Ästhetik eine quietschgelbe U-Bahn einfährt und die Filmemacher Farbe in die Bilder knallen, dass es einen fast umhaut.
Obwohl die Präsenz des Ensembles auf der Bühne fehlt, bekommen die Filmbilder, bekommt die Reise durch die Nacht einen eigenen Drive und Rhythmus. Nur: Inhaltlich kann der Abend mit diesen exquisiten Bildern nicht mithalten.
Die Stadt: Ort des Wahnsinns und der Einsamkeit
Die titelgebenden Dämonen stehen für allerhand böse Geister, die Menschen in der Großstadt heimsuchen. Die Stadt als Moloch, der in den Wahnsinn und in die Depression treibt. Ort der Einsamkeit, der Anonymität.
Der Beginn, bei dem jede:r Spieler:in eine kleine Geschichte erzählt, die autobiografisch sein könnte, ist dabei noch vielversprechend. Meret Mundwiler etwa zeigt auf ein Haus und erzählt vom Büro einer Sterbehilfe-Organisation, wo sie mit einem Freund vorgesprochen habe, der unheilbar krank ist. Tim Freudensprung spricht über einen traumatischen Krankenhausaufenthalt. Krankheit, Einsamkeit, Sterben, Tod ziehen sich durch diese Episoden.
Der Text verliert sich im ungefähren Raunen
Doch dann möchte sich der Text irgendwo zwischen Existenzialismus und Expressionismus à la Alfred Döblins verorten – verliert sich aber mehr und mehr im ungefähren Raunen. Vom spurlosen Verschwinden von Menschen ist die Rede, vom Nicht-Dazugehören, vom Verlust der Erinnerung, während die Schauspieler:innen durch Mitte laufen, am Bahnhof Friedrichstraße vorbei, mit der U-Bahn zur Karl-Marx-Allee fahren, zum Alexanderplatz hasten, im Gorki-Bus zum Potsdamer Platz kutschiert werden und schließlich zum Schlussapplaus auf die Theaterbühne treten.
Mit Berlin, mit seiner Geschichte, seinen Einwohner:innen hat das reichlich wenig zu tun. Der Abend beleuchtet die Metropole als solche, der Text könnte genauso gut in Hamburg, New York oder Paris gesprochen werden. Sebastian Nübling und Boris Nikitin haben das Projekt bereits 2022 in Basel inszeniert – die neue Fassung sollte jetzt spezifisch auf Berlin zugeschnitten sein, doch davon merkt man: nichts.
Mit Berlin hat das wenig zu tun
Im Gegenteil: Die Inszenierung wirkt wie das Gastspiel einer ortsfremden Truppe, die ausschließlich Touristen-Orte kennt und basht. Mit der Realität der Menschen, die hier leben, hat das wenig zu tun. Und auch ein Aufeinandertreffen, ein Austausch von Passant:innen und Ensemble findet nicht statt. Stattdessen schreien sich die Schauspieler:innen mit ihren Clownsnasen auf der Potsdamer Straße an – während die Tourist:innen bereitwillig Platz machen für die "Kunstaktion", als die das Ganze deutlich zu erkennen ist.
Entgegen der Behauptung des Programmzettels spielt die bewegte Geschichte Berlins keine Rolle. Es werden keine konkreten historischen Spuren verfolgt, sondern lediglich tote Touristenorte vorgeführt, die es in jeder Stadt zu finden gibt.
Und trotz des diversen Gorki-Ensembles aus unterschiedlichen Herkunftsländern wird das Fremdsein in der Stadt nur unpersönlich, ungefähr und oberflächlich gestreift. Schade. Die Stadt und die Schauspieler:innen hätten so viel mehr zu erzählen.
Sendung: Radio3, 29.06.2024, 7:40 Uhr
Nächster Artikel
Berliner Kulturszene - Trifft der Boykott des "Metropol" die AfD - oder die Musikszene selbst?
Messerattacke in Charlottenburg - Von Polizei angeschossener Angreifer im Krankenhaus gestorben
Ankündigung des Berliner Senats - Bauarbeiten für Freitreppe am Humboldt-Forum sollen im Spätsommer beginnen
Bauarbeiten an A100-Brücken - Westendbrücke ist angeknabbert, Ringbahnbrücke bereits durchgeknabbert
Forschung, Therapie, Rausch - Wie LSD-Derivate die Grenzen der Drogenpolitik aufzeigen
Die Geschichte von LSD - Der Rausch im Roggen
Eichwalde in Dahme-Spreewald - Mutmaßlicher Taschendieb stirbt bei Polizeieinsatz
Berlin-Mitte - Hunderte Menschen demonstrieren gegen Erdogan-Regierung
3. Fußball-Liga - Cottbus erlebt beim BVB II nächsten Dämpfer im Aufstiegsrennen
Verkehrsunfall - Mann bei Zusammenstoß mit Tram in Berlin-Biesdorf lebensgefährlich verletzt
Debatte um Tesla-Unternehmer - Ex-Wirtschaftsminister Steinbach äußert sich kritisch über Musks aktuelle Rolle
Basketball-Bundesliga - Alba Berlin feiert wichtigen Erfolg in Ludwigsburg
4:0 gegen Ingolstadt - Union Berlin macht großen Schritt in Richtung Aufstieg
Naturtourismus in der Prignitz - Von Rangertouren mit dem Solarboot bis zum Survival-Training
Saisonaus abgewendet - Alba Berlins Basketballerinnen wahren mit Comeback in Saarlouis Finalchance
Worst Case in der Bundesliga - Das wären die Folgen, wenn Alba Berlin die BBL-Playoffs verpasst
Gastspiel am Maxim Gorki Theater - Zurück in Buchenwald
Zum zweiten Mal - Berliner Schwimmerin Elena Semechin ist Parasportlerin des Jahres
Eisbär Kai Wissmann vor Finalserie - "Wir wollen es für Tobias und mit ihm schaffen"
Vorsitzender der Berliner Enquetekommission - Streit um Umgang mit AfD im Bundestag: Saleh kritisiert Spahn
Auswärtssieg bei RB Leipzig - Viktoria Berlin feiert Vorentscheidung im Aufstiegsrennen zur 2. Bundesliga
Erster Ostermarsch - Friedensbewegung demonstriert in Potsdam
Siegesserie gerissen - Hertha BSC schaltet beim 1:1 gegen Darmstadt zu spät in den Offensivmodus
1:1-Unentschieden gegen Darmstadt - Hertha findet zu neuer Stabilität
Selbstversuch - Mit dem Heimwegtelefon nachts durch Brandenburg
Berliner Nahverkehr - Wie die BVG mit Bettlern umgeht - und wie es andere Städte machen
Playoffs der Volleyball-Bundesliga - BR Volleys spazieren mit Sweep gegen Giesen ins Finale
A100 in Berlin - Abriss der maroden Autobahnbrücke hat begonnen
Berlin-Marzahn - Unbekannter soll 34-Jährigem ins Gesicht geschossen haben
Straßenradrennen - Berliner Schachmann holt starken dritten Platz bei Baskenland-Rundfahrt
Berliner U-Bahnlinie - Die U12 ist viel mehr als eine Lückenfüllerin
Kompliziertes Angebot der Liga - Alba Berlin kann auch die kommenden Jahre in der Euroleague spielen - theoretisch
Neuer Comedy-Club "Punch Line" - Zum Lachen in den Keller
Interview | Sportdirektorin von Viktoria Berlin - "Es ist unbedingt wichtig, dass wir den Aufstieg in dieser Saison schaffen"
Premiere am Berliner Ensemble - Warten auf die Souffleuse
Regionalliga Nordost - BFC Dynamo geht bei Spitzenreiter Lok Leipzig unter - auch Luckenwalde verliert
Fragen und Antworten - Wie es bei einem Abstieg mit Turbine Potsdam weitergehen könnte
Interview | Clärchens Ballhaus - "Ich hatte das Gefühl, hier tanzen noch die Generationen vor mir"
Haftbefehl erlassen - Mann fährt mit lebloser Frau auf Beifahrersitz durch Berlin-Moabit
0:0 beim Meister - Favoritenschreck Union Berlin schlägt auch in Leverkusen zu
Staatsanwaltschaft ermittelt - 15-jähriger Berliner soll mit Drohmail Schulausfall in Duisburg ausgelöst haben
Rundfunkratssitzung - Fall Gelbhaar: rbb wehrt sich gegen Kritik des Berliner Senats
Regionalliga Nordost - SV Babelsberg bleibt torlos bei Niederlage gegen den Halleschen FC
Fahrrad-Demo in Berlin - "Fridays for Future" protestiert vor Parteizentralen gegen Koalitionsvertrag
Regionalliga Nordost - Herthas Zweitvertretung verliert deutlich, Altglienicke gewinnt
Amt für Statistik - Mehr als 200.000 Berliner und Brandenburger waren noch nie im Internet
Staatsanwaltschaft - Obduktion bestätigt gewaltsamen Tod von Mann in Berlin-Reinickendorf
Potsdams Oberbürgermeister - Disziplinarverfahren gegen Schubert wieder aufgenommen
Innenministerium - 70 Prozent mehr politisch motivierte Straftaten in Brandenburg erfasst
Landesregierung Brandenburg - Bildungsministerium äußert Skepsis über Zivilschutz-Übungen an Schulen
Berlin-Altglienicke - Reizgas in BVG-Bus versprüht - Baby verletzt
Zughersteller - Stadler gibt Standortgarantie für Berlin-Pankow bis 2032
Zwei Yoko-Ono-Ausstellungen in Berlin - Kunst ohne Ego
Fußball-Bundesliga - Abstieg so gut wie besiegelt: Turbine Potsdam verliert in Jena
Verwaltungsgericht Berlin - Aktivist kann nach pro-palästinensischem Protest vorerst in Deutschland bleiben
Grenzüberschreitende Kunst - Kulturzug zwischen Berlin und Wrocław geht in zehnte Saison
Betrug mit Scheinfirmen - Wie kriminelle Netzwerke die Sozialkassen plündern
Fatou im Berliner Zoo - Der wohl älteste Gorilla der Welt feiert 68. Geburtstag
Märkisch-Oderland - MKS-Sperrzone rund um Hönow wird doch nicht aufgehoben
Berlin-Westend - Vier Menschen bei Autounfall am Kaiserdamm verletzt
Identität unklar - Wasserleiche am Winterhafen in Frankfurt (Oder) entdeckt
Raubtier - Bundesrat will nach Brandenburger Initiative Schutz von Wölfen senken