Konzertkritik | Etran de L'Aïr im Gretchen - Ja, ich will!

Mi 19.06.24 | 08:34 Uhr | Von Jakob Bauer
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Pressefoto: Etran de L'Aïr (Quelle: Larry Hirshowitz)
Audio: rbb24 | 19.06.2024 | Jakob Bauer | Bild: Larry Hirshowitz

Ein Hauch von Sahara wehte am Dienstag durch Berlin-Kreuzberg: Die Sahara-Rock-Band Etran de L’Aïr aus dem Niger hat am Abend ein Konzert im Berliner Gretchen gespielt. Die beste Hochzeitsband, die Jakob Bauer bisher in seinem Leben gehört hat.

Wenn man an deutsche Hochzeitsbands denkt, dann denkt man im besten Fall vielleicht an einen schmissigen Mix aus Disco, Rock und Pop. Im schlechtesten Fall an einen drögen Alleinunterhalter, der in der Ecke gelangweilt routiniert auf seinem Keyboard herumdrückt. Auch Etran de L‘Aïr sind eine Hochzeitsband. Allerdings eine aus der Sahara. Und da klingt das anders, und zwar ganz gewaltig.

Die etwas andere Hochzeits-Musik als kulturelle Praxis

Etran de L’Aïr kommen aus Agadez im Niger, einer der Hauptstädte des Sahara-Rock, auch bekannt als "Desert Blues". Der Musikstil ist eng verbunden mit dem nomadischen Volk der Tuareg aus der Sahara Region, eine der bekanntesten Bands in Deutschland ist Tinariwen. Grob gesagt ist der Sahara-Rock eine Mischung aus Blues- und Rock-Elementen mit afrikanischen Klängen und Harmonien und Rhythmen aus dem mittleren Osten. In der Region, aus der Etran de L’Aïr stammen, hat dieser Musikstil eine rituelle und soziale Bedeutung, er ist eng verbunden mit traditionellen Festen und Feiern. Man kann davon leben, als Hochzeitsband zu spielen. Und man kann nach Deutschland kommen und an einem schwülen Dienstag-Abend mit Leichtigkeit das Berliner Publikum im Gretchen innerhalb von wenigen Sekunden in Ekstase versetzen.

Weite Gewänder im Techno-Club

Für die Ekstase auf Knopfdruck verantwortlich sind die vier Männer auf der Bühne. Mit ihren weiten, weißen Gewändern und den hübsch verzierten Turbanen passen sie optisch so gar nicht in den hippen Nacht-Club und zum legeren Publikum. Aber die Musik wischt jedes Fremdeln sofort zur Seite. Etran de L’Aïr verbinden afrikanische Rhythmen und Tonfolgen mit verzerrten, funkelnden Rock-Gitarren und einem Schlagzeug, das unermüdlich und unerbittlich alle im Raum dazu anfeuert, sich zumindest ein bisschen zu bewegen. Man kann nicht nicht mitwippen und der Großteil des Publikums wabert weit ausladend und in Trance vor sich hin.

Und nochmal! Unnd nochmal!! Unnnnd nochmal!!!

Das Rezept ist dabei bei jedem Song ähnlich: Die Titel basieren auf zwei oder drei Tönen, die sich immer wiederholen. Es sind eigentlich Loops, aber trotzdem passiert dauernd irgendwas. Die Gitarren wühlen wild herum, umarmen und umschmeicheln sich, setzen hier noch einen Tupfer, da ein neues kleines Motiv. Die Rhythmen überlagern sich, eine Liedzeile wird von allen abwechselnd gesungen und man wird immer mehr und mehr reingesogen. Und wenn dann der Drummer auf sein Crah-Becken ballert als gäb’s kein Morgen, dann gibt man endgültig den schwachen Versuch auf, Etran de L’Aïr hier so etwas kleingeistiges wie "Redundanz" unterstellen zu wollen.

Kann mal jemand eben schnell heiraten?

Angenommen, man starrt benebelt von irgendwelchen Substanzen auf eine Tapete mit Kringeln drauf und die Kringel fangen an sich zu bewegen, spiralförmig wirbeln sie umher und umschlingen einen. Das ist ungefähr der Vibe, den die Musik von Etran de L’Aïr auslöst. Die Stimmung, die sich auf das jubelnde, schwitzende Publikum überträgt, das sich hier gedankenverloren und beseelt durch den Abend tanzt. Man möchte glatt 18 Hochzeiten in Agadez planen, um diese Band noch möglichst oft zu sehen. Wahnsinn.

Sendung: rbb24 Inforadio, 19.06.2024, 7:55 Uhr

Beitrag von Jakob Bauer

5 Kommentare

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  1. 5.

    Dem kann ich nur zustimmen. Ist doch normal, daß Die Kids sich anschreien lassen. Und das mit Lust.

  2. 4.

    ich finde diese Kritik übergriffig. Das ist nicht objektiv, sondern höchst tendenziell. Er hat die Ironie der band nicht begriffen!

  3. 3.

    Höre zum ersten Mal diese Band u.bei geschlossenen Augen sehe ich mich versetzt mitten in der Wüste, sitzend am Feuer Teetrinkend.

  4. 2.

    Die Ironie auf dem Foto ist geil.

  5. 1.

    "18 Hochzeiten in Agadez"! Ein toller, sehr stimmungsvoller Beitrag:)))

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