Theaterkritik | "Ciao" am Maxim Gorki Theater - Ein rührendes Rockkonzert für Gorki-Fans
"Ciao" heißt der Kollektiv-Abend der Schauspieler Emre Aksızoğlu, Knut Berger, Jonas Dassler und Taner Şahintürk, mit dem sie die Spielzeit verabschieden. "Ciao" heißt aber auch die Boyband, die sie auf der Bühne formieren. Von Barbara Behrendt
Wen sieht man nie auf der Bühne? Den Regieassistenten. Und weil dieser Abend manche geltende Regel übers Theater aushebeln will, beginnt die Inszenierung "Ciao" am Maxim Gorki Theater ungewöhnlich: Der Regieassistent tritt auf die Bühne, um sich zu verabschieden – er verlässt zum Ende der Spielzeit das Haus.
Im schicken Glitzerkleid hat er einen einmaligen Auftritt: Er holt die Souffleuse zu sich und zusammen singen sie Billie Eilishs "What was I made for". Als "Supporting Act" des Abends widmen sie den Song allen unsichtbaren Bühnenberufen, allen Kostümbildner:innen und Inspizient:innen, Dramaturgieassistent:innen und was es sonst noch so an Berufen hinter der Bühne gibt.
Schon jetzt tobt der Saal, voll von eben diesen Menschen mit den "unsichtbaren" Berufen, außerdem von Fans und Familien der vier Schauspieler, die gleich als "Main Act" die Bühne betreten werden. Die Berge von Kuscheltieren, die jetzt verteilt werden, um die Band zu "supporten", fliegen später unter Tränen und Jubel auf die Bühne zurück.
Die Boyband "Ciao" im Minderheitenwettbewerb
Und dann kommt sie, die Boygroup "Ciao": Knut Berger, Jonas Dassler, Emre Aksızoğlu und Taner Şahintürk – die hier nicht nur auf der Bühne stehen, sondern auch für Musik, Text, Kostüm und Regie zuständig sind. Schon auf dem Programmzettel posieren sie à la Backstreet Boys in den 90ern. In schrecklichen schlumpfblauen Leggins, Leopardenhemdchen und Bomberjacken.
Kein Wunder, dass sie sich übers Outfit in die Haare kriegen - und dann bei einem ganz anderen Thema landen: Warum, fragt Knut Berger, ist ausgerechnet Jonas Dassler, Vertreter der weißen, privilegierten Mehrheitsgesellschaft, nun schon wieder der Frontmann, dem alle Herzen zufliegen? Als schwuler Mann zählt Berger sich zur gleichen diskriminierten Minderheit wie Taner Şahintürk und Emre Aksızoğlu. Der Beginn eines selbstironischen Minderheitenwettbewerbs.
Abschiede von Missständen – und von geliebten Menschen
Der Band-Auftritt bildet den Rahmen für viele kleine Erzählungen. Es geht um Abschiede von gesellschaftspolitischen Missständen: Schubladendenken, Diskriminierung, Rassismus, Patriarchat, überkommene Vorstellungen von Männlichkeit. Aber auch um Abschiede von geliebten Menschen, vor allem von den Müttern und Großmüttern.
Knut Berger widmet seiner Schwester, wichtigste weibliche Person in seinem Leben, wie er sagt, einen Song von Gladis Knight. Taner Şahintürk röhrt "Don’t stop believing" von der amerikanischen Rockband Journey. Das Publikum wird zum Mitsingen animiert und stimmt euphorisch ein.
Kein Gorki-Abend ohne Wut-Monologe
Doch ohne lange Monologe, die sich die vier auf den Leib geschrieben haben, geht es am Gorki nicht. Es sind hoch emotionale, sehr persönliche Geschichten. Jonas Dassler erzählt vom Tod seiner geliebten Großmutter, Knut Berger vom schwierigen Leben seiner behinderten Mutter. Taner Şahintürk spricht in einer Comedy-Szene mit Gott über die Unfähigkeit des Menschen. Und Emre Aksızoğlu wütet über Diskriminierung im nicht-progressiven Deutschland, wo es nicht vorangehe.
Anrührend die Szene, in der alle vier für ihre Mütter etwas "verabschieden". Den Schmerz darüber, dass sie nicht das Leben in Deutschland leben konnten, das sie sich gewünscht hatten zum Beispiel. Taner Şahintürk bricht die Stimme, er muss unter Tränen mehrfach ansetzen. Zwischendurch formieren die vier Schauspieler auch mal einen antiken Chor, den sie abschaffen, weil er die Story immer aus der falschen Perspektive erzählt – ein schöner Seitenhieb auf die 2.500 Jahre alte Dramengeschichte, geschrieben von den Siegern der Geschichte.
Rudimentäre Stoffsammlung
Insgesamt ist es ein Abend in gewohntem Gorki-Stil: autofiktionale Geschichten, wütende Monologe an der Rampe, Musik, Gefühl, gesellschaftspolitische Anklagen, mit denen man offene Türen einrennt. Die Szenenideen finden dabei allerdings nicht zu einem Ganzen zusammen. Es bleibt eine rudimentäre Stoffsammlung, die in unterschiedliche Richtungen ausfranst. So ganz ohne Regie und Autor:in (auch ein unsichtbarer Beruf übrigens) geht es im Theater eben nicht.
Doch das Publikum feiert den Abend wie ein Rockkonzert der eigenen Söhne. Kuscheltiere fliegen, das ganze Haus steht zum Applaus wie eine Eins. Eine sympathische Szenen-Collage zur Feier des Spielzeitendes und ein gefühlvolles Rock-Konzert für den Gorki-Fanclub.
Sendung: Radio3, 03.06.2024, 07:40 Uhr