Exklusive rbb|24-Datenrecherche - Wartezeiten für Psychotherapieplätze sind weit höher als von Krankenkassen angegeben
Langes Warten auf einen Psychotherapieplatz sei die Ausnahme. Das behaupteten bisher gesetzliche Krankenkassen. Doch eine exklusive rbb|24-Datenrecherche zeigt das Gegenteil. Von Wanda Bleckmann, Haluka Maier-Borst und Sophia Mersmann
Sind es Monate oder Wochen an Wartezeit? Gibt es zu wenig oder genügend Plätze in der Psychotherapie? Darum streiten sich die Krankenkassen und Berufsverbände der Psychotherapeut:innen seit Jahren und belegen ihre Positionen mit eigenen Erhebungen, die jeweils zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Mal warten laut Bundespsychotherapeutenkammer rund 40 Prozent der Patient:innen mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung [bptk.de] und etwa 20 Prozent sogar sechs bis neun Monate. Mal heißt es dagegen nach einer Umfrage unter Versicherten einer Krankenkasse, nur bei "16,4 Prozent verstrichen zwischen Psychotherapeutischer Sprechstunde und Therapiebeginn acht oder mehr Wochen" (Barmer Arztreport, 2020).
Lange Wartezeiten sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel
Eine rbb|24-Datenrecherche schafft nun Klarheit. Eine statistische Erhebung für ganz Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen erster Sprechstunde für die Diagnose - dem sogenannten Erstgespräch - und dem tatsächlichen Therapiebeginn zwölf Wochen im Median vergehen. Kurzum: selbst der Mittelwert der rbb|24-Stichprobe ist höher als der Wert, von dem die Barmer als ungünstigsten Fall ausgeht. Die Zahlen der Kasse unterschätzen offenbar systematisch die Wartezeiten und den Bedarf. Zählt man dann noch die Wartezeit zwischen Erstkontakt und Erstgespräch hinzu, so wartet man in der Hälfte aller Fälle insgesamt 18 Wochen und mehr - also mehr als vier Monate.
Für die Erhebung hat rbb|24 im Frühjahr 2022 deutschlandweit mehrere hundert Praxen abtelefoniert. Am Ende sind die Angaben von 123 Praxen bezüglich ihrer Wartezeiten in die Analyse eingeflossen und nochmals 54 Praxen dezidiert für Berlin und Brandenburg. Dass die Wartezeiten derart lang sind, führt laut Experten zu einer problematischen Situation in der Versorgung der Patient:innen.
So sagt der Psychiater und Psychotherapeut Arno Deister mit Professur an der Uni Kiel: "Wer eine Therapie braucht, kann in keinem Fall so lange warten."
In der Stichprobe von rbb|24 zeigt sich aber nicht nur, dass Patient:innen oft Monate auf einen Therapieplatz warten. Es zeigt sich auch, dass es einen extremen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. Nimmt man nur die Zeit zwischen Erstgespräch und Therapiebeginn so wartet man im Median acht Wochen in der Stadt und 24 auf dem Land. Nimmt man sogar die Zeit ab dem ersten Anruf, so sind es in der Stadt im Median 12,5 Wochen und auf dem Land mehr als doppelt so viel.
Einige Praxen auf dem Land berichten von neun Monaten und mehr an Wartezeit. Deister sieht in diesen Ergebnissen seine persönlichen Erfahrungen bestätigt. Er fasst die Lage folgendermaßen zusammen: "Es gibt ländliche Regionen, in denen gibt es fast keine Möglichkeit, dass noch eine adäquate Versorgung geschieht."
Brandenburger:innen warten deutlich länger auf Therapie als Berliner:innen
Auch Berlin und Brandenburg sind von diesem massiven Stadt-Land-Gefälle betroffen. Während Berlinerinnen und Berliner laut den rbb|24-Daten vier Wochen ab Erstgespräch und acht Wochen ab Erstkontakt warten müssen, sind es in Brandenburg 12 Wochen beziehungsweise 15 Wochen. Dass 2020 in der Brandenburger Bedarfsplanung zusätzliche 60 Sitze für Psychotherapeutinnen und -therapeuten geschaffen wurden [kvbb.de], führt offenbar (noch) nicht dazu, dass die Wartezeiten in Berlin und Brandenburg vergleichbar wären.
rbb|24 hat stellvertretend für andere gesetzliche Krankenkassen die Barmer um eine Stellungnahme gebeten. Gefragt wieso die Wartezeiten der Bundespsychotherapeutenkammer und der rbb|24-Stichprobe deutlich größer ausfallen, sagt die Barmer: "Bei der Befragung von Leistungserbringern besteht ein methodisches Problem insofern, dass sie die Wartezeiten und Anfragen entweder gar nicht oder nicht systematisch dokumentieren. (...) Folglich kann so nur ein unvollständiges Bild gezeichnet werden." Mit Leistungserbringern sind hier die Therapeut:innen gemeint.
Dennoch ist die Barmer sich sicher, dass ihre Umfrage repräsentativ ist - und das obwohl die Krankenkasse dabei nur Menschen berücksichtigt hat, die zu dem Zeitpunkt einen Therapieplatz hatten. Betroffene, die noch nach vielen Monate auf der Suche waren oder gar aufgegeben hatten, konnten somit gar nicht an der Umfrage teilnehmen. Die Barmer sieht aber in langen Wartezeiten Ausnahmefälle, die meist nur dann zustande kämen, wenn Betroffenen auf bestimmte Therapeut:innen oder Therapiezeiten bestünden. Eine grundsätzliche Unterversorgung könne man nicht feststellen.
Therapeut:innen klagen über massiven Andrang
Das steht im deutlichen Gegensatz zu dem, wie die Berufsverbände die Lage sehen. Auf Nachfrage bekräftigt die Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK), dass der Bedarf aus ihrer Sicht weiterhin groß sei und es mehr Sitze speziell in ländlichen Regionen brauche. "Psychische Erkrankungen sind in den Großstädten nicht häufiger als in ländlichen Regionen", sagt Kay Funke-Kaiser, Sprecher der BPTK. Dennoch sei aber die Therapeutendichte und die Zahl der zugelassenen Kassensitze auf dem Land deutlich geringer.
Ändern könnte diese Situation vor allem der Gemeinsame Bundesausschuss, in dem Krankenkassenvertreter und Vertreter der Kassenärzte über den Bedarf in medizinischen Bereichen entscheiden. Noch 2019 empfahlen dort Gutachter:innen, 2.400 Kassensitze für die Psychotherapie neu einzurichten. Doch bislang sind nicht einmal halb so viele Sitze geschaffen worden.
Die Folge: Mehrere Therapeut:innen berichteten gegenüber rbb|24 davon, dass sie inzwischen schon aufgegeben hätten Wartelisten zu führen. Sie könnten die Listen nicht mehr in vertretbarer Zeit abarbeiten.
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Sendung: rbb24 Inforadio, 25.05.2022, 6:20 Uhr