Recherchen von "Kontraste" und "Spiegel" - Wie Internet-Trolle über Jahre ihre Opfer quälen
Seit Jahren terrorisiert eine Gruppe von Internet-Trollen unbehelligt ihre Opfer. Neben Internet-Promis machen sie auch Jagd auf Politiker. Recherchen von "Kontraste" und "Spiegel" enttarnen nun erstmals ihre Hintermänner. Von Daniel Laufer
Mitte März in Berlin-Wedding: Großeinsatz der Berliner Polizei. Beamte stürmen einen Späti in der Wollankstraße. Jemand soll mit einem Messer niedergestochen worden sein. Ladenbetreiber Rabi Fakhro ist Teil einer arabischen Großfamilie. Er reißt die Hände in die Luft. Hunderte können dabei zuschauen, denn der Moment wird live auf Tiktok übertragen.
Schnell stellt sich heraus: Es handelt sich um einen falschen Notruf, der mehr ist als ein dummer Jugendstreich. Der Abend hätte in einem Drama enden können, sagt Fakhro: "Eine blöde Handbewegung und einer wäre tot, für nix."
"Swatting": Polizei wird über falsche Notrufe zu Unschuldigen geschickt
Fakhro wurde geswattet – so nennt man es, wenn Polizei und auch Feuerwehr durch falsche Notrufe absichtlich zu Unschuldigen geschickt werden. Die Täter melden ein Gasleck, eine Messerstecherei oder eine Bombe.
In den USA sind durch Swattings bereits mehrere Menschen gestorben, in Deutschland scheinen die Fälle seit Jahren zuzunehmen. Der Begriff leitet sich von Swats ab (oft S.W.A.T. geschrieben; Anm. d. Red.) – taktische Spezialeinheiten bei der US-amerikanischen Polizei.
Eine gemeinsame Recherche von ARD-Magazin "Kontraste" und dem "Spiegel" zeigt nun, wie eine Gruppierung aus Cyber-Kriminellen seit Jahren organisiert Swattings begeht. Sie nennt sich "NWO" - die Abkürzung steht für New World Order, zu Deutsch: eine neue Weltordnung.
Ein riesiger Datensatz ermöglicht erstmals einen Einblick in ihr Innerstes. Insgesamt liegen den Redaktionen mehr als 75.000 interne Chatnachrichten sowie Tonaufnahmen von Gesprächen aus unterschiedlichen Quellen und einem Zeitraum von rund sechs Jahren vor.
Ein Insider packt aus
Häufig richten sich die Angriffe der "NWO" gegen Streamerinnen und Streamer. Die Täter sitzen vor dem Bildschirm und wollen live zuschauen, wie die Polizei eintrifft: "Das ist ja nichts anderes, als würde man jetzt den Fernseher anschalten und 'Auf Streife' schauen", sagt ein junger Mann, der selbst der "NWO" angehörte, "Kontraste" und dem "Spiegel".
Swattings passieren oft in Kombination mit Cybermobbing und massenhaften Essens- und Paketlieferungen. Viele der Opfer werden regelmäßig über Jahre belästigt. Es ist ein perfides Spiel. Die Täter wollten Menschen regelrecht kaputtmachen, sagt die Cyberpsychologin Catarina Katzer. Ziel sei es, selbst Kontrolle und Macht auszuüben. "Es ist eigentlich wie eine Art Treibjagd oder eine Spirale. Es wird immer schlimmer und immer schlimmer und gibt kein Halten mehr." Die Betroffenen könnten dadurch Traumata entwickeln.
Nach einer Statistik der Betroffenenorganisation "Institut für Sicherheit und Datenanalyse im Streaming" (ISDS) traf es seit Februar 2022 allein 132 Streamerinnen und Streamer, die die Plattform Twitch nutzen – teilweise mehrfach. Nach ISDS-Angaben sind im selben Zeitraum 1.048 Streamerinnen und Streamer im Visier der "NWO" gelandet.
Cyber-Kriminelle machen auch Jagd auf Politiker
Nach Recherchen von "Kontraste" und dem "Spiegel" sind auch zahlreiche Politikerinnen und Politiker betroffen. Die "NWO" soll Listen mit Privatadressen von 77 ehemaligen und aktuellen Landtagsabgeordneten aus Niedersachsen und Rheinland-Pfalz erstellt haben. In einer vorliegenden Tonaufzeichnung planen zwei Personen Angriffe, zudem sprechen sie darüber, auch Adressen von Bundestagsabgeordneten ausfindig machen zu wollen.
Wie die Täter im Einzelnen an die Adressen gelangt sind, ist unbekannt. Allerdings zeigen die Recherchen, dass Mitglieder der "NWO" illegale Abfragen im polizeilichen Fahndungssystem Polas nutzten, um an Privatadressen ihrer Opfer zu gelangen. Dazu riefen sie mit gefälschter Telefonnummer bei einer Polizeidienststelle an und gäben sich als Kollegen aus. Ihre Ausrede: Sie könnten selbst gerade nicht auf die Daten zugreifen, benötigten sie aber dringend.
SPD-Innenexperte Fiedler: "Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung"
Swattings erfüllen keinen eigenen Straftatbestand, Ermittlungen werden meist wegen Notrufmissbrauchs eingeleitet. Und diese verlaufen häufig ins Leere.
Man müsse es kritisch sehen, dass diese Gruppierung noch nicht überführt werden konnte, sagt der SPD-Innenpolitiker Sebastian Fiedler gegenüber "Kontraste" und "Spiegel". "Wenn die Ermittlungsergebnisse ergeben, dass sich da eine Gruppierung zusammengetan hat, um zusammenzuarbeiten, um sich längerfristig zu Straftaten zu verabreden, dann spricht alles erst mal für einen Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung."
Eine solche Einstufung würde Sicherheitsbehörden umfangreichere Möglichkeiten verschaffen, gegen die Gruppierung zu ermitteln. Im Hinblick auf Swattings könne es Fiedler zufolge zudem sinnvoll sein, "einen spezialisierten Paragraphen oder eine Änderung eines bestehenden Paragraphen in die Waagschale zu werfen".
Sendungs: ARD, "Kontraste", 11.04.2024, 21:55 Uhr