Am Späti in Lichtenrade - "Jugendliche wissen heutzutage gar nicht mehr, was sie machen sollen"

Di 30.07.24 | 17:39 Uhr
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Illustration Am Späti: Ein Tisch mit Kaffee-Utensilien. (Quelle:rbb)
Bild: rbb

Die meisten Berliner wohnen außerhalb des Rings. Zwei rbb|24-Reporter sprechen dort Leute am Späti an und fragen, was sie umtreibt. Heute: ein Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, der sich über Jugendliche aufregt und für den Hertha das größte Glück ist.

rbb|24 will mit den Gesprächsprotokollen, die "Am Späti" entstanden sind, Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben die Meinungen der Gesprächspartner wieder.

Wer: Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, krankgeschrieben
Alter: 62 Jahre
Uhrzeit: 12:28 Uhr
Gekauft: eine Dose Paulaner Spezi
Geld: Autoschlüssel-Tasche als Geldbeutel, zahlt meist mit Karte
Woher:
aus der Apotheke
Wohin: nach Hause
Späti: in einer leeren Ladenzeile, an einem Platz mit Norma und einem stillgelegten Springbrunnen aus steinernen Nilpferden, drumherum Hochhäuser

 

Ich bin in Kreuzberg groß geworden. Vor etwa 20 Jahren bin ich dann rausgezogen nach Lichtenrade. Ich arbeite im Versorgungsamt, stelle Schwerbehindertenausweise aus, kümmere mich um die Wertmarken für Behinderte und so weiter.

Im Moment bin ich krankgeschrieben. Der Kiosk hier, das ist unser Treffpunkt. Ansonsten gibt es nicht mehr viel. Nicht nur hier in Lichtenrade gibt es nichts, auch in Neukölln oder Kreuzberg nicht, die ganzen Lokalitäten für ältere Leute wurden ja zugemacht. Zum Beispiel Tanzpalast oder Neue Welt – das gibt es alles nicht mehr. Das ist nicht mehr wie früher.

Neben dem Tisch steht ein Fahrrad, ein Mann tastet mit seinem Blindenstock das Rad ab. Der Versorgungsamtler beobachtet ihn dabei, sagt nichts. Der Blinde schimpft über das Rad, findet dann seinen Weg und geht vorbei.

Ich würde mir mehr Angebote für die Jugendlichen wünschen, die wissen ja heutzutage gar nicht mehr, was sie machen sollen. Wenn sie nicht zur Schule gehen, dann machen sie Blödsinn. Es gibt keine Jugendheime mehr wie früher. Ich bin nach der Schule immer in ein Jugendheim gegangen, da konnte man sich amüsieren. Ich habe zum Beispiel Fußball gespielt. Das gibt es heute alles nicht mehr. Heute ist nur noch Brutalität und Krawall.

Das sieht man auch bei uns hier in Lichtenrade. Die kommen aus anderen Gegenden, belagern unsere Häuser und schmeißen Sachen aus den Fenstern, zerstören den Fahrstuhl. Ich habe hier schon ruhiger gewohnt als in der letzten Zeit. Wir haben einen Concierge bei unserem Haus, aber der ist bloß ein paar Stunden da. Und die Jugendlichen kommen meist erst am späten Nachmittag. Dann sind sie in einer größeren Clique, fühlen sich stark, auch gegenüber Älteren teilweise.

Er sitzt am Tisch vorm Späti mit zwei anderen Stammgästen, trinkt seine Paulaner Spezi aus einem Pappbecher. Bei manchem, was er sagt, schaut er zu den anderen beiden, holt sich ihre Zustimmung.

Ich fühle mich schon unwohl deswegen. Wenn ich was zu ihnen sage, dann höre ich: "Wir wissen, wo du wohnst". Unser Polizeiabschnitt ist schon eine ganze Weile zu wegen Umbauten. Auch die Alkoholiker auf dem Platz hier sind unschön anzusehen. Ab der Mittagszeit geht das los, dann sitzen sie da hinten. Hier sind auch Kinder, die spielen. Das Wasser beim Springbrunnen wurde aber wegen Unfallgefahr abgestellt.

Über den Platz fährt eine Frau im elektrischen Rollstuhl. Vom Nachbartisch aus brüllt ihr jemand zu: "Ey, fahr mal 100". Die Frau im Rollstuhl lacht und beschleunigt. Der krankgeschriebene Mitarbeiter im öffentlichen Dienst bleibt ernst.

Von der Politik fühle ich mich schon jahrelang nicht mehr angesprochen. Sie versprechen alles Mögliche und wenn die Wahlen vorbei sind, stehen sie da alle mit ihren Kugelschreibern und ihren Heftern, aber umsetzen tut keiner was. Erst führen sie das Neun-Euro-Ticket ein und schon wird es wieder teurer oder wird weggenommen. Sowas ist doch keine Planung. Selbstverständlich mache ich trotzdem von meinem Wahlrecht Gebrauch.

Bei Norma gibt es nichts Ordentliches zu kaufen, das ist wie ein Intershop zu DDR-Zeiten, oder eine Resterampe, nur Notverkauf. Auch vom Service her: Da ist nur ein Angestellter drin, der soll die Ware einräumen, die Kasse machen und alles. Die Diebstahlrate ist hier sehr hoch.

Glücklich bin ich, wenn Hertha gewinnt. Das ist hier unser Verein. Aus gesundheitlichen Gründen war ich jetzt leider länger nicht im Stadion. Der Vorbesitzer vom Kiosk hat vor den Spielen manchmal Pizza gemacht, bei dem jetzt gibt es manchmal eine Wurst.

Das Gespräch führte Anna Bordel, rbb|24

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37 Kommentare

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  1. 36.
    Antwort auf [Ossi] vom 31.07.2024 um 13:38

    Ach so, im Westen lebten / leben die Menschen alle im Kloster?
    Sorry, mit ihrer Ansicht bekommen Sie vom Westen keinen Applaus.

  2. 35.

    Noch eine Ergänzung:
    In Frankfurt wurde tagsüber studiert oder demonstriert, und am abend über Politik, Kultur, usw. frei von der Leber diiskutiert und auch geliebt.
    .

  3. 34.
    Antwort auf [Ossi] vom 31.07.2024 um 13:38

    Also, ab 1972 gab es in Rhein - Maingebiet einige FKK- Strände, bin selbst manchmal da gewesen.
    Auch Wohngemeinschaften beispielsweise in Frankfurt/ Main, wo freie Liebe das Motto war, die waren zu der Zeit dermaßen modern,usw..

  4. 33.

    Liegt es nur an "den" Jugendlichen selbst, oder deren "Vorbildern" Eltern usw., die selbst nix auf die Reihe kriegen?

  5. 31.

    Ja, wie die vielen "Westkontakte" funktioniert haben, würde mich auch brennend interessieren. Per Telefon? Hatte denn jeder eins? Oder gar persönlich? Wo doch jeder nach Lust und Laune aus- und einreisen durfte, wann er wollte?
    Außerdem störe ich mich an der überheblichen Art - was ist schon toll an Promiskuität, Volltrunkenheit und nacktem Herumspringen? Aber irgendwie musste man sich vermutlich beschäftigen.

  6. 30.

    "Ich musste schon das erste Mal lachen, als ich öffentlicher Dienst und krankgeschrieben gelesen habe."
    Und? Was ist daran nun so unfassbar witzig? Meinen Sie, solche Leute werden nie krank? Mich selbst macht Ihre HERABLASSUNG krank!

  7. 29.

    Die andere Seite“ vom Osten hören die Menschen im Westen, wohin will der Osten bloß hinziehen mit einer Politik die der Westen nicht will? Sie hatten viele Westkontakte? Wann, zu Zeiten der DDR oder nach dem Mauerfall? Da wo ich wohne spricht man von einem vereinten Deutschland. Spalten ist kein guter Lebensbegleiter.

  8. 28.

    Na und? ich kenne Ostberliner, die waren noch nie in Westberlin, und wollen bis dato nicht hinfahren.
    Merke, ein paar Schwalben machen immer noch kein Sommer.

  9. 27.

    Na das dürfte vor allem die Jungnazis vom ,,dritten Weg'' und ,,DJV'' erfreuen. Die kommen dann mit Ihrenneuen ,,Rechte Mode''-Outfit zum Spielplatz.

  10. 26.

    Weil ich viele, sehr viele Westkontakte hatte. Im übrigen, wir Ostler haben uns sehr viel mehr für die "andere" Seite interessiert, als andersherum. Sie werden es vielleicht gar nicht glauben, aber, es gibt Westberliner die bis heute nicht in Ostberlin waren....

  11. 25.

    "Dann sind Sie Wessi! Wir im Osten waren da weniger zurückhaltend. Besonders als Teenager....
    Na ja, in dem Alter waren wir im Osten sowieso aufgeklärter in jeglicher Hinsicht".

    Wie kommen Sie auf die Idee, über Teenager vom Westen ( frühere Zeit) das zu behaupten?
    Wessi und Ossi, wer nimmt die Bezeichnung immer noch in den Mund? Das sind doch olle Sprach- Kamellen.

  12. 24.

    "Als Teenagerin hab ich wenig Unsinn gemacht ". Dann sind Sie Wessi! Wir im Osten waren da weniger zurückhaltend. Besonders als Teenager....Na ja, in dem Alter waren wir im Osten sowieso aufgeklärter in jeglicher Hinsicht.

  13. 22.

    Guten Morgen,
    Ist ja alles gut und schön, wie wäre es Mal OHNE ein Handy was vernünftiges zu unternehmen! Wer hat uns nach 45 und den darauf folgenden Jahren was in den Schoß gelegt und das ohne zu maulen ... !

  14. 21.

    Als Teenagerin habe ich wenig Unsinn gemacht.

    Stattdessen Lesen, Radfahren, Wandern entdeckt.

  15. 20.

    Leider ist das nur die Spitze des Eisberges.
    Deutschland schafft sich ab und die Politik ist mit Schuld..

  16. 19.

    Was für eine traurige Erzählung, die mir sehr anschaulich oder ohne viel Zuversicht erscheint. Die negativen Gedanken anzusprechen ist richtig, kann aber auch leicht depressiv wirken. Ich hoffe, es kommen auch Lösungsansätze, wie z.B. vorhandene Sportmöglichkeiten, persönliche Beziehungen oder auch das große Glück (noch) in einer friedlichen Demokratie ohne Hunger zu leben?

  17. 18.

    Also aktuell könnten mehr Skater Anlagen für die Jugendlichen möglichst in jedem Bezirk einige aufgebaut werden und diese Klettertürme .
    Davon gibt es viel zu wenige.
    Ausserdem mehr Begegnungstreffs für alle Generationen wo man zusammen kommt und einander kennen lernt.
    Das fördert gutes Nachbarschaftsklima.

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