Am Späti in Lichtenrade - "Ich würde die Kirchen alle abschaffen"
Die meisten Berliner wohnen außerhalb des Rings. Zwei rbb|24-Reporter sprechen dort Leute am Späti an und fragen, was sie umtreibt. Heute: ein Arbeitsloser, der sich überall zurecht findet, aber es nicht leiden kann, wenn er Geldverschwendung wittert.
rbb|24 will mit den Gesprächsprotokollen, die "Am Späti" entstanden sind, Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben die Meinungen der Gesprächspartner wieder.
Lichtenrade 7 Jahre, davor Charlottenburg 15 Jahre, davor Spandau 7 Jahre, davor 14 Jahre Tempelhof und davor eine ganze Ewigkeit in Kreuzberg.
Er macht sich einen Spaß daraus, im Stakkato aufzuzählen, wie er sich viele Jahre durch den Westen Berlins gelebt hat. Auf die Frage, wie er in Lichtenrade gelandet ist, antwortet er mit einer Geste: reibt mit dem Daumen über die Fingerspitzen von Zeige- und Mittelfinger – eine Geldfrage.
Zweieinhalb Zimmer Altbau, arbeitslos geworden, die Wohnung wollte mir keiner mehr bezahlen. Heutzutage könnte ich sie aufgrund meines Alters behalten. Damals ging das nicht, ist einfach zu teuer geworden. Ist ja auch okay hier, obwohl ich erst nicht hierher wollte. Ich mag diese Neubau-Siedlungen eigentlich nicht, aber inzwischen lebt es sich ganz gut hier.
Man lernt Menschen kennen, mal gute, mal schlechte. Das ist hier noch fast wie ein Dorf. Es ist schon ziemlich anonym in diesen Häusern. In Altbauten sind weniger Mietsparteien, man kennt sich über die Jahre, weil man sich ja immer wieder trifft. Es gibt keinen Fahrstuhl, sie müssen die Treppen hoch laufen, da trifft man sich. Hier trifft man die Menschen eher beim Einkaufen.
Ich bin durch einen Zufall zu einem schicken E-Fahrrad gekommen und mit dem fahr' ich auch mal raus. Wenn Sie hier ein Stück raus fahren in die Felder, kommen Sie an den Mauerweg, da kann man sehr gut fahren. Das kann ich jedem empfehlen. Da sind Pferdekoppeln und ein Stück weiter raus Schloss Diedersdorf, da ist ein Café.
Etwas längeres, graues Haar, Jeans, feste Schuhe. Fürs Gespräch hat er seine reflektierende Fahrradbrille abgenommen und dreht beim Sprechen leicht den Kopf, weil er wegen eines Hörfehlers das etwas abgewandtere Ohr näher ranhalten will.
Ich bin ausgebildeter Schlosser, dann habe ich mal eine Weile Industrieteppiche hergestellt, dann eine Zeit lang Bohrer. Zuletzt habe ich 30 Jahre in einer Zigarettenfabrik gearbeitet, bei Reemtsma, bis das Werk 2011 geschlossen hat. Das hätte noch vier Jahre länger aufhaben müssen, dann hätte ich in den Frühruhestand gehen können. Aber die haben hier in Berlin zu gemacht, sind nach Hannover gegangen und nach Hannover wollte ich nicht. Ich habe hier meine Mutter, die ist jetzt 90, meine Schwester ist noch da, deshalb wollte ich hier nicht weg. Und Hannover gefällt mir sowieso nicht.
Na klar, man findet überall ein nettes Plätzchen und nette Leute. Aber wenn Sie irgendwo groß geworden sind, dann ist das noch was anderes.
Hier in Lichtenrade müssten mal die Baustellen fertig werden. Da an der Bahnhofsstraße ist ewig nichts passiert. Jetzt hat die Politik endlich mal reagiert und den Bauträger angesprochen und der sagt, er hätte so einen hohen Krankenstand. Da haben Sie nie jemanden auf dem Bau gesehen.
Das sind meist Firmen, die haben mehrere Baustellen, aber nicht genug Leute dafür. Da wird mal hier was gemacht, dann mal da. Das nervt. Das sind ja schließlich Steuergelder, die da verloren gehen, je länger so eine Baustelle dauert. Sowas ärgert mich richtig.
Mein Rücken macht nicht mehr so mit, mein Blutdruck ist zu hoch. Wenn Sie über 50 noch Bewerbungen schreiben, kriegen Sie überhaupt keine Antworten mehr. Wer weiß, wann die Wehwechen einsetzen? Die jungen Leute wollen aber heutzutage die Arbeit nicht mehr machen, die wir gemacht haben. Es will ja heute niemand mehr dreckig werden. Klar, Ausnahmen gibt es. Es gibt auch heute noch Leute, die Automechaniker werden wollen. Aber sehr viele erzählen, dass wenn Sie einen Lehrling bekommen, dass der dann mehr mit dem Handy beschäftigt ist, als mit der Arbeit.
Beim kleinsten bisschen tut es weh und er wird gleich krank geschrieben. So was konnte ich mir gar nicht erlauben in meiner Lehre. Meine Mutter hätte mir die Ohren lang gezogen, aber richtig. Ein Unterschied zwischen heute und damals ist auch, dass die Erziehung anders ist. Die ist ein bisschen härter gewesen. Heute dürfen Sie den Kindern nicht mal mehr Stubenarrest gegeben. Ich weiß nicht, ob das so richtig ist. Irgendwann kommt bei Kindern das Krawallalter und das ist ja auch natürlich. Ich rede nicht von Prügelstrafe, da bin ich absolut dagegen. Wenn einer auf sein Kind einschlägt, dann werde ich fuchsig.
Aber wenn ich früher zu frech war zu meiner Mutter, dann habe ich Stubenarrest bekommen. Das Schlimmste war eigentlich, wenn ich geschwindelt habe. Dann habe ich die Schule geschwänzt und oben auf dem Dachboden gehockt, das hat nur leider eine Nachbarin gemerkt. Wenn meine Mutter von der Arbeit kam, wusste sie meist am Anfang der Straße schon, was ich den ganzen Tag für Blödsinn gemacht habe. Da kannten sich alle die Leute. Dann hatte ich eine Woche Stubenarrest, aber dann bin ich ihr meist nach drei Tagen so auf den Keks gegangen, dass sie gesagt hat: Geh' bloß runter.
Aus seinem oben leicht geöffneten Hemdausschnitt blitzt eine recht großes silbernes Kreuz an einer Kette hervor.
Ich bin evangelisch, aber nicht gerade streng gläubig. Ich halte die zehn Gebote eigentlich für gar nicht mal so schlecht. Aber es ist nicht so, dass ich jetzt sagen würde: Da müssen sich andere unbedingt dran halten. Zum Gottedienst bin ich seit der Konfirmation nicht gegangen. Das ist ja zum Einschlafen. Da werde ich auch mit 80 nicht hingehen, weil ich da wahrscheinlich vor Langeweile sterbe. Das ist zu verstaubt für meinen Geschmack.
Glauben kann doch jeder, was er möchte, aber das soll er doch für sich machen und mich damit in Ruhe lassen. Ob jetzt jemand zu Allah betet oder an die Wiederauferstehung glaubt, das soll jeder für sich machen. Ich würde die Kirchen alle abschaffen. Da sitzt doch schon seit jeher der Dorn drin.
Ich halte unsere Berliner Politik für falsch. Unser Verwaltungsapparat wird immer fetter, fetter und fetter. Und nichts klappt. Versuchen Sie doch mal einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen? Früher ist man dort hingegangen oder hat da angerufen und einen Termin bekommen. Wenn Sie jetzt versuchen einen Termin im Internet zu machen, wie man es ja jetzt machen soll, bekommen sie keinen, rufen Sie da an, bekomme Sie einen. Was ist das für ein Mist?
Meine Schwester hat beim Senat gearbeitet, deshalb weiß ich, was da so abläuft. Da sollen zum Beispiel Akten eingescannt werden, ganze Regale voller Ordner. Die sollten digitalisiert werden. Dann wurde zunächst für jeden Mitarbeiter ein Tischscanner gekauft, wo man jede Seite einzeln reinlegen muss. Wissen Sie wie lange so was dauert? Irgendwann wurden dann diese riesigen Scanner gekauft. Aber vorher hat jeder einen Tischscanner bekommen. Von Steuergeldern.
Das Gespräch führte Anna Bordel, rbb|24.
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