Gremienwahlen - Der schwache Puls der Berliner Hochschuldemokratie
Hochschulen sollen in Deutschland Orte der Demokratie sein. Doch bei den Wahlen an Berliner Unis stimmt teilweise nur jeder Dritte oder gar jeder Fünfzigste ab. Das war mal anders - und zwar nicht nur 1968. Von Julian von Bülow
Diese Woche wählten die Studierenden an der Humboldt-Universität ihr Studierendenparlament. Wenn es gut (!) läuft, ist die Wahlbeteiligung zweistellig.
Wer gewählt ist, darf dann mitbestimmen, wie etwa die 800.000 Euro der Studierendenschaft ausgegeben werden, wie die Beratungsangebote für Studis aussehen und wer den Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) stellen soll – das höchste Gremium studentischer Selbstverwaltung.
Doch die Daten zeigen: An Berliner Unis juckt das die wenigsten – seit Jahrzehnten. Dabei war Westberlin mit Technischer Universität (TU) und Freier Universität (FU) einmal Schwerpunkt der 1968er Studierendenbewegung. Flugblätter und Steine flogen, heute fliegt kaum mal mehr ein Stimmzettel in die Wahlurne. Wie kann das sein?
Nach dem Krieg nahm Berlin den Universitätsbetrieb schnell wieder auf. An der TU wählten schon 1946 Studierende wieder ihre Vertreter. Als Reaktion auf politische Schikane an der Humboldt-Universität (HU) im Ostteil der Stadt wurde 1948 die FU gegründet. Von ihr sind am meisten Daten über die Beteiligung an Wahlen erhalten geblieben. Sie zeigen, dass in den 1950er und 1960er Jahren mehr als die Hälfte der Studierenden ihre Stimme bei Studierendenparlamentswahlen abgab.
Einer von ihnen war Hajo Funke, damals junger Politikwissenschafts-Student und später langjähriger Professor an der FU. Er sagt: "Die Wahlen selbst sind nur ein indirekter Ausdruck eines demokratischen Impulses. Wenn tatsächlich über die Studentenparlamente Entscheidendes verhandelt wird, geht die Wahlbeteiligung hoch."
Damals diskutierten die Studierenden an den Universitäten über die Wiederbewaffnung der BRD, den Kalten Krieg, den Vietnam- und Algerienkrieg und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Sie forderten, diese Inhalte auch in der Lehre zu behandeln. Teach-ins, Besetzungen und Demonstrationen gehörten zum Leben vieler Studierender dazu.
Streitthemen sind genug da
"Konflikte in jeder Form, auf jeder Ebene sind der Nährboden für eigene Interessen-Erkenntnisse, für eigene Wahrnehmung, für eigenes Denken", sagt Funke. Das brauche es auch heutzutage, denn auch die gegenwärtigen Probleme seien vielfältig und dramatisch.
Krieg, Klimakrise, Migration, Künstliche Intelligenz – Zündstoff gibt es genug, doch in der Wahlbeteiligung schlägt sich das nicht nieder. Das liegt laut HU-Studierendenvertreterinnen an mehreren Dingen.
Zum einen sei die Uni durch das Bachelor/Master-System viel verschulter geworden, sagt Julia Bersch, Referentin für Hochschulpolitik beim Asta der HU. Strikte Fristen, vorgegebene Inhalte, regelmäßige Prüfungen. "Das führt natürlich dazu, dass das Studium weniger als Raum verstanden wird, der aktiv mitgestaltet werden kann. Es dient weniger der Reflexion der eigenen Lebensumstände, stattdessen werden Lehrveranstaltungen besucht, um Leistungspunkte zu erwerben."
Engagement als Privileg
Wer das Studium nicht durch Eltern finanziert bekomme, müsse arbeiten gehen oder schnell in Regelstudienzeit studieren, damit das Bafög nicht wegbreche, sagt Bersch. "Das hochschulpolitische Engagement ist so vielfach zum Privileg derer geworden, die es sich finanziell leisten können."
Sie und Funke sind sich zudem einig, dass das Interesse an den Wahlen wesentlich größer wäre, wenn die Studis an der Uni mehr Mitspracherechte hätten. Doch vieles wird im höchsten Unigremium entschieden, dem Akademischen Senat. Und da haben die Professor:innen die absolute Mehrheit der Sitze.
An den Wahlen zum Akademischen Senat kann jede:r an der Uni teilnehmen und die Vertreter:innen der eigenen Gruppe wählen – also Hochschullehrer:innen, Studis, wissenschaftliches beziehungsweise nicht-wissenschaftliches Personal.
Doch auch dabei zeigt sich seit einigen Jahren abnehmendes Interesse: Stimmten 1987 an der FU mehr als 80 Prozent der Professor:innen ab, tun es 2023 nur noch ein Drittel.
Die Vermutung von Politologe Hajo Funke: Wenn es Streitthemen gibt, steigt auch die Wahlbeteiligung. So könnten die Einführung von Bachelor, Master und Leistungspunkten, die Sparrunde in der Berliner Wissenschaftspolitik und die Anstrengung der Berliner Unis im Exzellenzwettbewerb Gründe für die hohe Wahlbeteiligung von 2003 bis 2011 sein.
Danach ging es mit der Wahlbeteiligung steil bergab. Und von den Studierenden stimmten bei den letzten Wahlen an FU, TU und HU zwischen zwei und vier Prozent ab.
Dass die Wahlbeteiligung aller Gruppen an der TU im Vergleich noch am höchsten ist, erklärt die Sprecherin der Uni damit, dass bei ihr die wichtigen Entscheidungen im Akademischen Senat von allen Vertreter:innen getroffen werden. So hätten alle Mitglieder eher den Eindruck, mitbestimmen zu können. An anderen Berliner Unis würden Entscheidungen an einen kleineren Personenkreis ausgelagert, etwa ein Präsidium. Zudem gebe es an der TU Arbeitsgruppen, die sich damit beschäftigten, wie die Wahlbeteiligung erhöht werden könne.
Mehr Wahllokale eingerichtet
Ist die Hochschuldemokratie also kaputt? Nein, sie funktioniert, aber dem Anspruch repräsentativer Demokratie wird sie häufig nicht gerecht. Zufrieden sind auch die Studierendenvertreter:innen nicht. "Natürlich versuchen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Verbesserungen zu schaffen und auch auf die Grenzen, an die wir stoßen, aufmerksam zu machen. Aber das Handtuch werfen ist für uns auch keine Option", sagt Nike Bartz vom Asta der HU.
Für die Studierendenparlaments-Wahlen in dieser Woche wurden Bartz zufolge mehr Wahllokale als bei der vorigen Wahl eingerichtet, die Wahlhelfenden bekommen eine Aufwandsentschädigung und zuvor gab es eine Diskussionsrunde, um die Positionen der Kandidat:innen öffentlich abzuklopfen. Langfristig sei gleichberechtigte Mitsprache im Akademischen Senat, aber auch eine ausreichende finanzielle Unterstützung von Studis wichtig, damit jene sich mehr betätigen würden, sagt Bartz.
Liberale fordern digitale Wahlen
Die nicht im HU-Asta vertretene Liberale Hochschulgruppe schlägt zudem vor, die Wahlen über mehrere Tage stattfinden zu lassen, die Aufklärung über die Arbeit von Studierendenparlament und Asta zu verbessern sowie den Wahlprozess zu digitalisieren. "Viele andere Universitäten haben bereits erfolgreich digitale Wahlen eingeführt, was zu einer signifikanten Steigerung der Wahlbeteiligung geführt hat. Durch den Einsatz digitaler Technologien können Studierende flexibler wählen und haben eine niedrigere Hemmschwelle zur Teilnahme", teilte die LHG mit.
Hoffnungsschimmer bleibt, dass viele Studierende trotz Widrigkeiten nicht unpolitisch sind. Vollversammlungen und Demonstrationen gibt es immer wieder. Doch nur wenige setzen ihr Kreuzchen und beschäftigen sich beständig mit hochschulpolitischen Themen in Gremien.
Sendung: Fritz, 05.07.2023, 14:10 Uhr