Gremienwahlen - Der schwache Puls der Berliner Hochschuldemokratie

Mi 05.07.23 | 16:28 Uhr | Von Julian von Bülow
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Symbolbild: Studenten auf dem Campus der Humboldt-Uni Berlin. (Quelle: dpa/N. Michalke)
Audio: rbb24 Inforadio | 05.07.2023 | Anita Schröder | Bild: dpa/N. Michalke

Hochschulen sollen in Deutschland Orte der Demokratie sein. Doch bei den Wahlen an Berliner Unis stimmt teilweise nur jeder Dritte oder gar jeder Fünfzigste ab. Das war mal anders - und zwar nicht nur 1968. Von Julian von Bülow

Diese Woche wählten die Studierenden an der Humboldt-Universität ihr Studierendenparlament. Wenn es gut (!) läuft, ist die Wahlbeteiligung zweistellig.

Wer gewählt ist, darf dann mitbestimmen, wie etwa die 800.000 Euro der Studierendenschaft ausgegeben werden, wie die Beratungsangebote für Studis aussehen und wer den Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) stellen soll – das höchste Gremium studentischer Selbstverwaltung.

Doch die Daten zeigen: An Berliner Unis juckt das die wenigsten – seit Jahrzehnten. Dabei war Westberlin mit Technischer Universität (TU) und Freier Universität (FU) einmal Schwerpunkt der 1968er Studierendenbewegung. Flugblätter und Steine flogen, heute fliegt kaum mal mehr ein Stimmzettel in die Wahlurne. Wie kann das sein?

Nach dem Krieg nahm Berlin den Universitätsbetrieb schnell wieder auf. An der TU wählten schon 1946 Studierende wieder ihre Vertreter. Als Reaktion auf politische Schikane an der Humboldt-Universität (HU) im Ostteil der Stadt wurde 1948 die FU gegründet. Von ihr sind am meisten Daten über die Beteiligung an Wahlen erhalten geblieben. Sie zeigen, dass in den 1950er und 1960er Jahren mehr als die Hälfte der Studierenden ihre Stimme bei Studierendenparlamentswahlen abgab.

Zur Person

Archivbild:Hajo Funke am 18.07.2018.(Quelle:picture alliance /AA/A.Hosbas)
picture alliance /AA/A.Hosbas

Prof. Dr. Hajo Funke

1966 - 1971
Studium der Soziologie und Politischen Wissenschaften, FU Berlin

1971 - 1977
Assistent am Institut für Politische Wissenschaften der FU Berlin

1993 - 2010
Lehrstuhl für Politik und Kultur am Institut für Politische Wissenschaften, FU Berlin

Einer von ihnen war Hajo Funke, damals junger Politikwissenschafts-Student und später langjähriger Professor an der FU. Er sagt: "Die Wahlen selbst sind nur ein indirekter Ausdruck eines demokratischen Impulses. Wenn tatsächlich über die Studentenparlamente Entscheidendes verhandelt wird, geht die Wahlbeteiligung hoch."

Damals diskutierten die Studierenden an den Universitäten über die Wiederbewaffnung der BRD, den Kalten Krieg, den Vietnam- und Algerienkrieg und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Sie forderten, diese Inhalte auch in der Lehre zu behandeln. Teach-ins, Besetzungen und Demonstrationen gehörten zum Leben vieler Studierender dazu.

Streitthemen sind genug da

"Konflikte in jeder Form, auf jeder Ebene sind der Nährboden für eigene Interessen-Erkenntnisse, für eigene Wahrnehmung, für eigenes Denken", sagt Funke. Das brauche es auch heutzutage, denn auch die gegenwärtigen Probleme seien vielfältig und dramatisch.

Krieg, Klimakrise, Migration, Künstliche Intelligenz – Zündstoff gibt es genug, doch in der Wahlbeteiligung schlägt sich das nicht nieder. Das liegt laut HU-Studierendenvertreterinnen an mehreren Dingen.

Zum einen sei die Uni durch das Bachelor/Master-System viel verschulter geworden, sagt Julia Bersch, Referentin für Hochschulpolitik beim Asta der HU. Strikte Fristen, vorgegebene Inhalte, regelmäßige Prüfungen. "Das führt natürlich dazu, dass das Studium weniger als Raum verstanden wird, der aktiv mitgestaltet werden kann. Es dient weniger der Reflexion der eigenen Lebensumstände, stattdessen werden Lehrveranstaltungen besucht, um Leistungspunkte zu erwerben."

Engagement als Privileg

Wer das Studium nicht durch Eltern finanziert bekomme, müsse arbeiten gehen oder schnell in Regelstudienzeit studieren, damit das Bafög nicht wegbreche, sagt Bersch. "Das hochschulpolitische Engagement ist so vielfach zum Privileg derer geworden, die es sich finanziell leisten können."

Sie und Funke sind sich zudem einig, dass das Interesse an den Wahlen wesentlich größer wäre, wenn die Studis an der Uni mehr Mitspracherechte hätten. Doch vieles wird im höchsten Unigremium entschieden, dem Akademischen Senat. Und da haben die Professor:innen die absolute Mehrheit der Sitze.

An den Wahlen zum Akademischen Senat kann jede:r an der Uni teilnehmen und die Vertreter:innen der eigenen Gruppe wählen – also Hochschullehrer:innen, Studis, wissenschaftliches beziehungsweise nicht-wissenschaftliches Personal.

Doch auch dabei zeigt sich seit einigen Jahren abnehmendes Interesse: Stimmten 1987 an der FU mehr als 80 Prozent der Professor:innen ab, tun es 2023 nur noch ein Drittel.

Die Vermutung von Politologe Hajo Funke: Wenn es Streitthemen gibt, steigt auch die Wahlbeteiligung. So könnten die Einführung von Bachelor, Master und Leistungspunkten, die Sparrunde in der Berliner Wissenschaftspolitik und die Anstrengung der Berliner Unis im Exzellenzwettbewerb Gründe für die hohe Wahlbeteiligung von 2003 bis 2011 sein.

Danach ging es mit der Wahlbeteiligung steil bergab. Und von den Studierenden stimmten bei den letzten Wahlen an FU, TU und HU zwischen zwei und vier Prozent ab.

Dass die Wahlbeteiligung aller Gruppen an der TU im Vergleich noch am höchsten ist, erklärt die Sprecherin der Uni damit, dass bei ihr die wichtigen Entscheidungen im Akademischen Senat von allen Vertreter:innen getroffen werden. So hätten alle Mitglieder eher den Eindruck, mitbestimmen zu können. An anderen Berliner Unis würden Entscheidungen an einen kleineren Personenkreis ausgelagert, etwa ein Präsidium. Zudem gebe es an der TU Arbeitsgruppen, die sich damit beschäftigten, wie die Wahlbeteiligung erhöht werden könne.

Mehr Wahllokale eingerichtet

Ist die Hochschuldemokratie also kaputt? Nein, sie funktioniert, aber dem Anspruch repräsentativer Demokratie wird sie häufig nicht gerecht. Zufrieden sind auch die Studierendenvertreter:innen nicht. "Natürlich versuchen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Verbesserungen zu schaffen und auch auf die Grenzen, an die wir stoßen, aufmerksam zu machen. Aber das Handtuch werfen ist für uns auch keine Option", sagt Nike Bartz vom Asta der HU.

Für die Studierendenparlaments-Wahlen in dieser Woche wurden Bartz zufolge mehr Wahllokale als bei der vorigen Wahl eingerichtet, die Wahlhelfenden bekommen eine Aufwandsentschädigung und zuvor gab es eine Diskussionsrunde, um die Positionen der Kandidat:innen öffentlich abzuklopfen. Langfristig sei gleichberechtigte Mitsprache im Akademischen Senat, aber auch eine ausreichende finanzielle Unterstützung von Studis wichtig, damit jene sich mehr betätigen würden, sagt Bartz.

Liberale fordern digitale Wahlen

Die nicht im HU-Asta vertretene Liberale Hochschulgruppe schlägt zudem vor, die Wahlen über mehrere Tage stattfinden zu lassen, die Aufklärung über die Arbeit von Studierendenparlament und Asta zu verbessern sowie den Wahlprozess zu digitalisieren. "Viele andere Universitäten haben bereits erfolgreich digitale Wahlen eingeführt, was zu einer signifikanten Steigerung der Wahlbeteiligung geführt hat. Durch den Einsatz digitaler Technologien können Studierende flexibler wählen und haben eine niedrigere Hemmschwelle zur Teilnahme", teilte die LHG mit.

Hoffnungsschimmer bleibt, dass viele Studierende trotz Widrigkeiten nicht unpolitisch sind. Vollversammlungen und Demonstrationen gibt es immer wieder. Doch nur wenige setzen ihr Kreuzchen und beschäftigen sich beständig mit hochschulpolitischen Themen in Gremien.

Sendung: Fritz, 05.07.2023, 14:10 Uhr

Beitrag von Julian von Bülow

11 Kommentare

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  1. 11.

    @Björn .Das war so circa 84' bis 89', die Zeit dich ich im vorherigen Kommentar beschrieb.

  2. 10.

    Die Hochschuldemokratie gibt es nicht. Denn die Mitglieder der Hochschule sind nicht entsprechend ihrer Zahl repräsentiert. Überall gilt: die Professorenmehrheit. Die Profs. als die erfahrensten Mitarbeiter machen aber nur 10% der Belegschaft aus. An den deutschen Lehrstühlen können die Profs wie kleine Grafen und Königinnen allein alles bestimmen. Wenn die Beteiligungsmöglichkeiten der Mitarbeiter und Studierenden an der Gestaltung der Hochschule systematisch ausgeschaltet werden, kann sich auch niemand über die geringe Wahlbeteiligung bei Studierenden und Mitarbeitenden aufregen, denn die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind gleich null. - Deutschland braucht endlich einen Systemwechsel und I) flächendeckend das Department-Prinzip (statt des Lehrstuhlprinzips), nach dem alle Mitarbeitenden die Geschicke der Institute mitgestalten, und ii) die Abschaffung/Überprüfung der Professorenmehrheit. Die Talare sind gefallen, der Muff ist geblieben. Mehr Demokratie wagen!

  3. 8.

    Anfang der 2000er an der FU schien es be ASTA-Wahlen nur die Auswahl zwischen links, schräglinks, langzeitlinks, partylinks, utopialinks, usw. zu geben. Die Protagonisten dieser Strömung hatten sich die studentische Selbstverwaltung längst unter den Nagel gerissen. Studienanfänger waren eher abgeschreckt, sich zu engagieren (es sei denn sie sahen sich als links, schräglinks, ....) Zwar hätte ich mich selber als politisch links/ grün orientiert eingestuft, aber das Angebot war mir dann doch zu einseitig. So scheint es vielen ergangen su sein und entsprechend war die Beteiligung an Wahlen zu Asten oder Fachschaftsinitiativen unterirdisch. Ob es heute ein breiteres Spektrum an Wahlvorschlägen gibt?

  4. 6.

    Dass Demokratie an Hochschulen in Deutschland nicht mehr gelebt wird hat man 2020-2022 beobachten müssen. Das war einmal.

  5. 5.

    zu meiner Studienzeit, waren im AStA eigentlich nur die Langzeitstudenten, irgendwelche Idealisten oder Leute die versuchten ihr Studium durch die dort geknüpften Beziehungen abzuschließen.
    Außer den wirklich guten Parties, war kein wirkliches Arbeiten an der Verbesserung der Studienbedingungen erkennbar.
    Deswegen waren auch AStA Wahlen recht uninteressant

  6. 4.

    Leider ist es gerade an der FU so, dass es zwar genug Listen und Kandidaten gibt, aber nur wenige Wahlplakate. Entsprechend weiß man oft gar nicht, wen man wählt und steht im Wahllokal vor einem Zettel mit etlichen Listen die man gar nicht kennt. Gerade bei uns am Nebencampus in Lankwitz hängen immer nur die Plakate von der Wahlliste einer Geografenpartei.

  7. 3.

    Für die Autorin des Beitrag scheint die Teilung Berlins und der ermutigende Aufbruch im Herbst 1989 an der Ostberliner Humboldt Universität nicht präsent zu sein. Die ersten freien Wahlen 1989 bis etwa 1991 der parteiunabhaengigen Studentenvertretungen ergaben höchste Beteiligungen der Studierenden. Eine Abstimmung im Jahre 1991 zu einem eigenständigen Weg der Studentenvertretungen an der HU erhielt satzungsgemaess nicht die notwendige Beteiligung von 50% der Studierenden. Nur 45% stimmten ab..

  8. 2.

    Denen das Senioritätsprinzip tragendes Element war: wer unter 30-40 war, konnte kaum Einfluss nehmen. Das ist heute ganz anders und war es auch schon, als ich ähnliche Wahlbeteiligungen als Präsident des studentischen Wahlausschusses Anfang der 90er in Hannover rechtfertigen musste. Somit: früher war alles besser! ;)

  9. 1.

    Leider kann ich dem von mir sonst geschätzten Hajo Funke nur begrenzt zustimmen. Wesentlicher Faktor für die Abnahme studentischer politischer Partizipation ist vor allem seit Ausgang der 60er Jahre die zunehmende und mit der gezeigten Kurve korrespondierende Möglichkeit, politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und Aktivität außerhalb des universitären Raumes. Wer vor Ende der 60 Jahre politisch im Alter von Studierenden aktiv sein wollte, konnte dies zumeist nur in politischen Parteien, in

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