Ersatzfreiheitsstrafe - "Freiheitsfonds" holt wieder Schwarzfahrer aus dem Gefängnis - auch in Berlin

Mi 04.12.24 | 09:57 Uhr | Von Sabine Müller
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Häftling greift an das Fenstergitter seiner Zelle (Bild: imago images/photothek)
Audio: rbb24 Inforadio | 04.12.2024 | Sabine Müller | Bild: imago images/photothek

Eine Initiative kauft seit 2021 Menschen frei, die ohne Ticket Bus und Bahn gefahren sind und in Haft sitzen, weil sie die verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnten. An diesem Mittwoch sollen bundesweit 100 Inhaftierte freikommen, viele davon in Berlin. Von Sabine Müller

Als "größte Gefangenenbefreiung der bundesdeutschen Geschichte" bewirbt der Freiheitsfonds seinen "Freedom Day", der nun schon zum zehnten Mal stattfindet. Die Initiative von Gründer Arne Semsrott hat nach eigenen Angaben diesmal genug Spenden gesammelt, um die Geldstrafen von 100 Menschen zu zahlen, die wegen "Beförderungserschleichung" in Haft sitzen.

Der Journalist und Aktivist Semsrott kritisiert es gegenüber dem rbb als "unverhältnismäßig", dass wiederholtes Schwarzfahren laut §265a des Strafgesetzbuchs hinter Gitter führen kann. Semsrott sieht eine "Diskriminierung vor allem armer Menschen", denn wie der Freiheitsfonds auf seiner Website schreibt, sind die Betroffenen meist arbeitslos (87 Prozent), ohne festen Wohnsitz (15 Prozent) und suizidgefährdet (15 Prozent).

Gefängnisleitungen bitten um den Freikauf

In Berlin sollen diesmal 34 Menschen freikommen. Für sie öffnen sich die Gefängnistore in der Männer-JVA Plötzensee und der Frauenhaftanstalt Lichtenberg. Manche haben sich selbst an den Freiheitsfonds gewandt, bei anderen waren es Angehörige. Aber die meisten Anträge, Inhaftierte freizukaufen, kommen laut Semsrott von Gefängnisleitungen, die diese Form der Haft nicht für sinnvoll halten. "Das zeigt die ganze Absurdität der Situation", kritisiert er.

1.091 Menschen hat der Freiheitsfonds nach eigenen Angaben in den vergangenen drei Jahren freigekauft, 451 davon in Berlin. Mit der aktuellen "Freedom Day"-Aktion überspringt der Freiheitsfonds die Millionen-Marke, er hat dann 1.000.040 Euro an Spenden ausgegeben, um Menschen aus der Haft zu holen. Sinnvoll angelegtes Geld, findet Semsrott. Er rechnet vor, dem Staat damit bundesweit knapp 17 Millionen Euro gespart zu haben. Denn jeder Tag Haft ist teuer, in Berlin kostet er laut Berliner Justiz knapp 230 Euro.

Mehr als 13.000 Strafzeigen von Verkehrsunternehmen

In diesem Jahr haben laut Berliner Staatsanwaltschaft bisher 328 Menschen Ersatzfreiheitsstrafen wegen "Erschleichen von Leistungen" nach § 265a StGB angetreten (2023 waren es 541). Die meisten von ihnen haben die Strafe bereits verbüßt.

Um welche Delikte es dabei ging, wird nicht einzeln aufgeschlüsselt. Leistungserschleichung liegt zum Beispiel auch dann vor, wenn sich jemand ohne zu zahlen Zutritt zu einer Veranstaltung verschafft. Aus Justizkreisen heißt es aber, der überwiegende Teil der Ersatzfreiheitsstrafen werde gegen Schwarzfahrer verhängt.

Ohne Ticket werden in Berlin jedes Jahr Tausende erwischt, die allermeisten zahlen ihre Geldstrafe allerdings. Die Berliner S-Bahn teilte dem rbb mit, sie habe in diesem Jahr bis Ende Oktober rund 11.600 Strafanzeigen wegen Beförderungserschleichung gestellt. Bei der BVG waren es bisher 1.600. Nach Informationen des rbb passiert dies erst bei wiederholtem Schwarzfahren.

Der Nazi-Paragraf soll weg

Deutschlandweit kommen jedes Jahr etwa 7.000 Menschen wegen Schwarzfahrens in Haft. Der Freiheitsfonds kümmert sich aber nicht nur ums Freikaufen. Er arbeitet daran, den Straftatbestand der Beförderungserschleichung, der 1935 von den Nazis eingeführt wurde, komplett abzuschaffen. Mit dieser Forderung ist er nicht allein: Viele Juristen, Anwältinnen und auch Politiker teilen sie, ebenso die Mehrheit der Bevölkerung.

Im Oktober legte der damalige FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabstufen soll. Doch nach dem Aus der Ampel-Koalition ist unklar, ob dieser nun weiterverfolgt wird. Freiheitsfonds-Gründer Arne Semsrott fordert, der Bundestag müsse dafür sorgen, dass eine Entkriminalisierung des Schwarzfahrens noch vor der Neuwahl verabschiedet werde. In der Berliner Landespolitik gibt es sowohl Unterstützung für diese Forderung als auch Widerstand dagegen.

Die Landespolitik ist uneins

Seine Fraktion lehne eine Entkriminalisierung der Leistungserschleichung ab, sagt der rechtspolitische Sprecher der CDU, Alexander Herrmann, dem rbb. Ebenso sieht es die AfD. "Armut ist fraglos hart", so der Abgeordnete Marc Vallendar, "darf aber auch kein Schutz vor Strafe sein."

Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) vermeidet eine klare Positionierung, verweist nur auf die geltende Rechtslage. "Solange eine Strafnorm nicht außer Kraft gesetzt ist, wird sie von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten angewandt", schreibt ihre Pressestelle.

Einig sind sich SPD, Grüne und Linke, sie alle wollen das Schwarzfahren als Straftatbestand abgeschafft sehen. Jan Lehmann, der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, nennt Strafverfolgung bis zur Ersatzfreiheitsstrafe "nicht menschenwürdig und nicht mehr zeitgemäß". Die Grüne Petra Vandrey verweist angesichts klammer Kassen noch auf einen anderen Punkt: "Haftplätze sind teuer und unsere Gefängnisse ohnehin schon am Rande ihrer Kapazitäten, besonders was das fehlende Personal in den Gefängnissen angeht."

Diese Alternative gäbe es zur Paragrafen-Abschaffung

Die Sorge, dass ein Gesetzentwurf aus dem Bund auf sich warten lässt oder unter einer möglichen neuen, CDU-geführten Bundesregierung gar kein Thema mehr ist, treibt Berliner Politiker um. Unter anderem die Linksfraktion, deren Abgeordnete 2023 laut Fraktions-Angaben übrigens 24.140 Euro an den Freiheitsfonds gespendet haben.

Wie Jan Lehmann von der SPD verweist auch der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Sebastian Schlüsselburg, auf eine andere Handlungsoption. Der Senat könne das Landesunternehmen BVG anweisen, auf Strafzeigen wegen Schwarzfahrens zu verzichten. Schlüsselburg verweist auf andere Städte, in denen Verkehrsunternehmen dies schon tun, etwa Köln, Bremen oder Potsdam. Im Berliner Senat gibt es nach rbb-Informationen aber keine Überlegungen in diese Richtung.

 

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.12.2024, 9:40 Uhr

Beitrag von Sabine Müller

91 Kommentare

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  1. 91.

    Was willst Du nicht verstehen? Wir alle, auch wir Grundsicherungsempfänger, bezahlen Steuern! Du bist nicht der Einzige! Also nichts Besonderes.

  2. 90.

    Oder wollten Sie mich vielleicht absichtlich falsch verstehen? Wer weiß ;)

  3. 87.

    Sie haben meinen Kommentar nicht so verstanden, wie ich ihn meinte, das war definitiv nur auf den Foristen als Antwort geschrieben, der der Meinung war, er könnte für alle sprechen. Ich möchte sowieso nicht, dass diese Menschen in Gefängnissen sitzen. Das ist völlig überzogen, finde ich jedenfalls. Mich ärgert es immer wieder, wenn hier irgendjemand für alle sprechen will, für die Steuerzahler, für das Volk oder wofür auch immer. Das ist es, worauf ich reagiert habe.

  4. 85.

    Nur so: asozial ist auch ein Begriff der von den Nazis zur Begründung von Vertreibung und Verfolgung genutzt wurde. Was eine Straftat ist bestimmt der Gesetzgeber, und das Nazi Gesetze noch heute bestand haben ist eigentlich schon skandalös.

  5. 83.

    Liebe Userin, liebe User,
    Verstehe den Text nicht.
    Umsonst oder kostenlos?
    Was ist gemein.
    Ich lernte kostenlos in der Schule,
    dafür bin ich den Lehrerin und Lehrer
    heute noch sehr dankbar.
    Neben dem Schreiben des eigenen Namens,
    Dem rechnen mit Zahlen und im
    weiteren Verlauf mit Buchstaben als Variablen.
    Lernte ich auch Ethik.

  6. 82.

    Der Steuerzahler will aber hieran nicht sparen und das aus gutem Grund.

  7. 81.

    Zitat: "Schon erstaunlich, für welche kranken Projekte, Leute bereit sind, Geld zu spenden. Aua!"

    Ich gebe Ihnen mal einen kleinen Denkanstoß. Dieses "kranke Projekt", wie es nennen, spart dem Berliner Steuerzahler pro Hafttag des Delinquenten knapp 230 €. Sie sollten sich also eher bei der Initiative bzw. den Spendern bedanken anstatt sie verächtlich zu machen, Grinsekatze.

  8. 80.

    Zitat: "Das Geld muss auch beigetrieben werden. Wird in den meisten Fällen nicht gehen."

    Es steht doch im Artikel, dass infolge der mehr als 13.000 Strafzeigen von Verkehrsunternehmen in diesem Jahr gerade mal 328 Menschen Ersatzfreiheitsstrafen antreten mussten; also gut 97% der Delinquenten die Strafzahlung beglichen haben.

  9. 78.

    Helfen Sie den Menschen bei der Antragstellung? "Für Leistungsbezieher gibt es in Berlin eine Monatskarte für 9€." Was ist mit denen, die das nicht können? Meinen Sie, Menschen schlafen gern auf der Straße?

    Sozialleistungen sollten allgemein bedingungslos und antragslos sein. Vgl. Estland.
    Den Menschen mit Mehreinnahmen dient es als Sockel-Dteuerfreibetrag. Den Armen als Würdegarantie, z. B. auch den vielen Analphabeten.

  10. 77.

    Nicht zu vergessen die Gerichts- und Prozesskosten, die bei Mittellosigkeit auch die Allgemeinheit trägt.

  11. 76.

    Das hieße, die schweren Jungs, die das Museum ausrauben, sitzen auf unser aller Kosten im Warmen, während die diekriminierten oder Verschuldeten vor aller Augen knechten?

  12. 75.

    Was soll an "offentlichkeitswirksam" diffamierend sein? Sie können versuchen ein Problem nach dem BHW-Prinzip auf die Tagesordnung zu bringen oder sie stellen Öffentlichkeit her. Gehen mit diesem Problem also öffentlichkeitswirksam um. Da Herr Semsrott ja nun nicht unbekannt ist springt die Presse darauf an und er hat sein Ziel erreicht. Das ist weder verwerflich noch ein Problem an sich. Auch die Art und Weise ist nachvollziehbar. Wenn der Verein "Freifahrt für Alle" z.b. Gratistickets verteilt, also im Vorfeld tätig wird, ist das ein Dreizeiler mit zwei Kommentaren. Thema erledigt. Wenn nun die Leute aus dem Knast geholt werden ist das schon eine andere Hausnummer. An der Systematik ist nichts auszusetzen, würde ich nicht anders machen. Das ich mit dem rechtlichen Kuschelkurs nicht ganz konform laufe, fällt in den Bereich der zulässigen freien Meinungsäußerung. Haben sie was gegen freie Meinungsäußerung? Den Eindruck könnte man duchaus bekommen. Einen schönen Abend noch.

  13. 74.

    Fangen wir da bei allen Nachbarn an, die bei der Steuer "schummeln" (ist ja nicht so wild, gelt, ist ein Sport) oder eine "Putze" schwarz "halten" oder die 24/7 ausgebeutete Osteuropäerin, die sich für lau um Opa kümmert?

    Oder erst bei denen, die nach "Steuer-CDs" sich zu "Steuersündern" erklären (nach Beichte gibts Absolution) und dann weiter "Steuer-Spar-Modelle" suchen lassen und daarüber ihre Mitmenschen und Mieter ausbeuten?

  14. 73.

    Dann zahlen alle pro verarmtem eingelochtem Mitmenschen pro Tag 230 Öre statt eine ÖPNV-Freikarte für Arme oder alle. Das ist sehr sinnvoll.

    "jeder Tag Haft ist teuer, in Berlin kostet er laut Berliner Justiz 230 €"

  15. 72.

    Die Idee gabs in den 40ern schon mal, da mussten Mitbürger "unter Aufsicht", wie Sie es wünschen, mit der Zahnbürste die Straßen putzen. So gefällt es Ihnen?

    Was ist das Ausrauben einer Bank gegen das Gründen einer Bank?

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