Interview | 75. Geburtstag Rio Reiser - "Er hat sich im Leben nicht geschont"

Do 09.01.25 | 09:15 Uhr
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Rio Reiser. (Quelle: IMAGO)
Bild: IMAGO

Mit seiner Band Ton Steine Scherben gehörte er Anfang der 70er Jahre zu den ersten, die Rockmusik mit deutschen Texten machten. Am Donnerstag wäre Ralph Möbius, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Rio Reiser, 75 Jahre alt geworden.

rbb: Herr Meinhold, Sie erzählen in Ihrem Podcast "Musik ist eine Waffe - die Geschichte von Ton Steine Scherben" auch die Geschichte von Rio Reiser. Was war das Besondere an ihm als Künstler?

Philip Meinhold: Zunächst vor allem das Songwriting, diese einzigartige Symbiose von Text und Musik, egal, ob bei kämpferischen Politsongs wie "Keine Macht für Niemand" oder Liebesliedern wie "Junimond". Bei den Scherben hat Rio die Songs größtenteils gemeinsam mit Gitarrist Lanrue geschrieben, ein Songwriter-Duo, das sich blind verstand. Rios großes Talent als Texter war es, Dinge so auf den Punkt zu bringen, dass sich Menschen darin wiederfinden.

Das Songwriting ist das eine, was hat ihn als Sänger ausgezeichnet?

Die Kombination aus Schnoddrigkeit und echtem Gefühl. Seine Produzentin Annette Humpe hat gesagt: "Rio konnte Scheiße und Blumen in einem Satz singen, und es war okay." Wenn er singt, nimmt man ihm jedes Wort ab.

Wie war er persönlich?

Es gibt Menschen, die beschreiben ihn als schwierig und mitunter cholerisch. Michael Schoeneberg, Rios Lebensgefährte und in den 80er Jahren Mitglied der Scherben-Kommune, hat mir geschildert, wie Rio wegen Kleinigkeiten nach Konzerten ausrasten konnte. Seine gute Freundin Marianne Rosenberg, die Schlagersängerin, hat ihn ganz anders wahrgenommen. Die sagt: "Er war warmherzig, ehrlich, geradezu."

In Berlin-Kreuzberg gibt es seit zweieinhalb Jahren einen Rio-Reiser-Platz. Welche Verbindung hatte Reiser zu Berlin?

Er wurde in Berlin geboren, hat seine Kindheit und Jugend dann aber in den unterschiedlichsten Orten in Westdeutschland verbracht. Weil die Familie berufsbedingt viel umziehen musste. Mit 17 ist Rio dann zurück nach Berlin gegangen, wo er mit seinen beiden älteren Brüdern am Theater des Westens die erste Rockoper der Welt aufgeführt hat. In Kreuzberg hat er 1970 Ton Steine Scherben gegründet.

1975 hat die Band West-Berlin verlassen und ist aufs Land gezogen. Warum?

Das war auch eine Flucht: Zum einen vor den chaotischen Lebensverhältnissen in ihrer Kreuzberger WG und den ständigen Geldsorgen, zum anderen vor der dogmatischen linken Szene und ihren Ansprüchen an die Politrockband.

Zu Lebzeiten ist Reiser der ganz große Erfolg versagt geblieben, zumindest im Vergleich zu Sänger-Kollegen wie Grönemeyer oder Westernhagen. Woran lag das?

Die Scherben waren ja in ihrer Anfangszeit eine linksradikale Band, die sich dem Kommerz bewusst entzogen hat. Sie haben 1970 als eine der ersten Bands ihr eigenes Plattenlabel gegründet, zu einer Zeit, als das Wort Indie noch gar nicht existierte. Der Erfolg kam dann tatsächlich erst 1986 mit Rios erstem Solo-Album "Rio I." und Hits wie "König von Deutschland", "Alles Lüge" und "Junimond".

Songkönig unter dem Junimond

Der kommerzielle Erfolg mit seiner Soloplatte ist Rio in der Scherben-Fanszene zum Teil übelgenommen worden. Wie hat er darauf reagiert?

Das hat ihn schon getroffen. Ich habe selbst mal erlebt, wie er nach Buhrufen mit ausgestrecktem Mittelfinger die Bühne verlassen hat. Aber er hat diesen Erfolg auch genossen. Er war neidisch auf Leute wie Grönemeyer oder Lindenberg, weil er gesagt hat: Ich war doch der erste, der deutsch gesungen hat. Allerdings konnte er an diesen Erfolg mit seinen weiteren fünf Solo-Alben nicht anknüpfen. Ich glaube, er war auch zerrissen zwischen dem Wunsch nach Erfolg und seinem Oppositionsgeist.

Info

Rio Reiser ist 1996 gestorben - im Alter von 46 Jahren. Woran?

Er hat sich im Leben nicht geschont. Gerade in den letzten Jahren hat er viel gearbeitet: Er hat Platten gemacht, ist auf Tour gegangen, hat seine Autobiopraphie geschrieben, Film- und Theatermusiken komponiert. Gleichzeitig hat er nichts für seinen Körper getan: Er hat keinen Sport getrieben, ist nicht zum Arzt gegangen – und hat im Laufe seines Lebens so ziemlich alle Drogen genommen, die es gibt. Gestorben ist er dann an inneren Blutungen, zu denen es kommt, wenn die Leber nicht funktioniert. Ein typisches Alkoholiker-Symptom.

Was bleibt von ihm, fast dreißig Jahre nach seinem Tod?

Für Herbert Grönemeyer ist Rio Reiser der einzige deutsche Sänger, den er je bewundert hat. Bis heute fühlen sich Künstler wie Danger Dan oder Dota von ihm beeinflusst. Seine Songs sind unsterblich.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellten Marco Seiffert und Tom Böttcher.

Sendung: radioeins, 9.1.2025, 06:40 Uhr

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20 Kommentare

  1. 20.

    Sehr wahr und traurig das Ganze! Die nach rechts driftende und gespaltene Gesellschaft ist für die Zukunft der Horror. Beispiel - USA.

  2. 19.

    Wer will denn schon Drogen "verherrlichen"?
    Mal abgesehen von der Pharma- und Alkoholindustrie. Letztere sogar als Brauchtum und Kultur verherrlicht. So wie in Bolivien das Kokablatt halt ein berauschendes Mittel mit langer Kultur ist.
    Überall die Dorfhonoratiorenschaft beim Starkbieranstich

    Für mich ist Rio auch kein "Kult". Er war ein ziemlich guter Typ, der zudem auch noch als Musiker Militanz singen und tanzen konnte, ohne dabei irgendwem Bänkelsänger zu werden.

    Klasse Mitmensch halt.

  3. 18.

    In der letzten Zeit sage ich oft in Gesprächen, die Entwicklung in der Gesellschaft nach rechts ist ursächlich in der heutigen Elterngeneration, die leider eben nicht nächtelang die Scherben hörten. Leider sind nach der Wende gerade die jungen gebildeten Menschen hier weggegangen und mit ihnen vielfach die Musik und die Einstellung der Scherben. Rio kann froh sein, dass alles nicht mehr erleben zu müssen - er fehlt dennoch.

  4. 17.

    Wie kommen Sie denn auf die Idee, Rio Reiser habe "alles abgelehnt"?
    Hat er doch gar nicht.
    Wie sein Lebenswerk, seine Lieder, Texte, Bühnenarbeit, seine Solidarität mit den Menschen und dem Mensch-Sein.

    Statt irgendwem - gedacht oder tatsächlich - unter einem selbst ins Gesicht zu treten.
    Das kann ja jede und jeder. Ist das Einfachste.

    Sie wissen ja gar nix über Rio Reiser.

  5. 16.

    Was ist wichtig? Daß er frei war! Im Gegensatz zu einigen Kommentaren hier. Er war frei in seinem Denken und seinem Reden und wichtiger als alle shitdrogen, ist seine Musik, die jetzt unsere ist!

    ,,Nein ich will nicht werden, was mein Vater ist...''!

  6. 14.

    Frieden seiner Asche. Den Kult kann ich nicht nachvollziehen, abr einige schöne Titel gibt es. Der Kult stört mich fast etwas, weil er das Gegenteil von einem Vorbild war, ein selbstzerstörerisches Leben führte. Alokohol und Drogen mag ich nicht verherrlichen.

  7. 13.

    Antwort auf [Goletzke] vom 09.01.2025 um 07:27
    "War auch mein Gedanke. Könnte damit nie was anfangen."

    Bin so froh, dass Sie das schreiben. Alles was Rio trieb, ihn beeindruckte oder auch beelendete, wäre sonst reine Erfindung gewesen.
    Und
    Ob ein dogmatischer Linker, der Eigentum an der Revolution erwerben will nicht versteht, dass Rios Beruf und Berufung Musiker, Texter, Arrangeur, Komponist, Sänger, Schauspieler - das seine Militanz war,
    oder nun Rio-Verehrer einen Rio verehren, mit dem zusammen sie zu seinen Lebzeiten niemals mit den Leuten von der RAF, dem 2. Juni, der bewaffneten und militanten Linken am WG-Tisch im Diskurs gesessen haben oder hätten,
    oder halt jemand seine Schlager gar nicht versteht, weil Rios Auffassung von Schönheit, Liebe, Leidenschaft und Emanzipation nichts ist was auch er für sich ersehnt,

    Rio hätte sich gefreut. Über soviel widersprüchliche Aufmerksamkeit. In deren Friktionen stets Schönstes wächst.

  8. 12.

    "Warum so ein Kult um den Herren, es gibt und gab Musiker die waren oder sind tausendmal besser gewesen und die werden nie erwähnt."

    Da haben Sie allerdings recht.
    Nur schmälert es keineswegs die Bedeutung und Qualität von Rio Reisers Werk.

    Für Ihr Anliegen müssen Sie sich in Berlin an Kultursenator Cialo wenden.

    Gerade die vielen grossartigen klassischen und Jazz-Musikerinnen und Musiker sind unterbeschäftigt, schlecht bezahlt und in prekären Lebensumständen.

  9. 9.

    Was bleibt von ihm? Z. B. der "Paul Panzer Blues" einer der gründlichsten Liedtexte, die ich kenne. Ehrlich, aufrüttelnd und paradox vermittelnd, zwischen Alltagsfrust und Machbarkeit. Die BVG hat Ton Steine Scherben überlebt, weil jeder weiß, dass die Regeln zu befolgen sind und nicht nur Musik, sondern auch die Texte eine gesellschaftliche und auch humorvolle Waffe sein können. Danke Rio.

  10. 7.

    Ein typisches Alkoholiker-SymptomDonnerstag, 09.01.2025 | 09:17 Uhr
    "Da muss man schon vorsätzliche Todessehnscht haben, um mit 46 auszuchecken."

    Oder man ist in einer Bundesrepublik gross geworden, in der die die an der Macht sind, rauchen und saufen was das Zeug hält - denn anders war die eigene Verantwortung, die Schuld, die abgrundtiefe Verlogenheit kaum zu ertragen, während man wie selbstverständlich die Macht hatte und beanspruchte,
    oder man ist eben wie Rio einer der unter solchen Verhältnissen aufgewachsen war, darunter litt. Sah wie andere darunter litten.
    Es gibt ja weiss Gott genug Gründe sich das Bewusstsein, die Vernunft, das Grübeln aus dem Hirn blasen zu wollen oder zu müssen.
    Mit "Todessehnsucht" hat das wenig zu tun.

  11. 6.

    Tja, Rio Reiser war halt militanter Linker. Wo militante Linke, Militanz richtig und militant daherkommt, wie man es sich nur wünschen kann.
    Selten. Zu Mal im repressiv antilinken Deutschland: Dann noch einer der bedeutendsten Schlagersänger im deutschsprachigen Raum. Wer kann schon von sich sagen, als militanter Linker im Pop- und Schlager so wirkmächtig zu sein. Dabei auch noch richtig gut. Ohne seine Militanz bloß als Account, als durchökonomisiertes Image zu verkaufen.
    Auf seinem Hof in Fresenhagen trafen sich tatsächlich nach Jahrzehnten freigekommene Gefangene aus RAF und Widerstand zum Austausch. Rio trat mutig in die PDS ein - blieb dort militant gegen den ewigen und öden Versuch, vor dem selbstverständlich Linke auch nicht gefeit sind: Machen sich die immer gleichen Persönlichkeits- und Machtstrukturen, links und Linke als Partei zur Beute. Rio - auch das eine verpasste Chance der Partei, die später DIE LINKE wurde. Rio weigerte sich deren Bänkelsänger zu sein.

  12. 3.

    Da muss man schon vorsätzliche Todessehnscht haben, um mit 46 auszuchecken.

  13. 1.

    Warum so ein Kult um den Herren, es gibt und gab Musiker die waren oder sind tausendmal besser gewesen und die werden nie erwähnt.

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