Canisius-Kolleg - Missbrauchs-Opfer warten weiter auf angemessene Entschädigung

Fr 10.01.25 | 06:20 Uhr | Von Jo Goll und Torsten Mandalka, rbb24 Recherche
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Archivbild: Berlin Tiergarten, Canisius-Kolleg, staatlich anerkanntes Gymnasium mit altsprachlichem Bildungsgang in freier Trägerschaft des Jesuitenordens. (Quelle: dpa/Popow)
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Audio: rbb24 Inforadio | 10.01.2025 | Jo Goll | Bild: dpa/Popow

Im katholischen Canisius-Kolleg in Berlin wurden über Jahrzehnte Schüler sexuell missbraucht. 15 Jahre nach Aufdeckung des Skandals fordern Betroffene, die Verjährung von Entschädigungsansprüchen auszusetzen. Von J. Goll und T. Mandalka

Matthias Katsch steht vor seiner alten Schule und muss sich erst mal sammeln. Der Blick auf das Gebäude, in dem ihm als Jugendlicher unermessliches Leid zugefügt wurde, fällt ihm schwer. Es hat 30 Jahre gedauert, bis er 2010 schließlich Worte für das fand, was ihm und anderen Anfang der 80iger Jahre widerfahren ist: systematischer sexueller Missbrauch, ritualisierte Gewalt am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin-Tiergarten.

"Uns wurde damals nicht geholfen, man hat uns allein gelassen", sagt er. "Die Kirche, die Verantwortlichen haben die Meldungen und Hinweise, die es damals durchaus gab, vertuscht und unter der Decke gehalten und uns unser Leben allein meistern lassen."

Täter werden versetzt

In einem Interview mit dem ARD-Magazin Kontraste des rbb berichtet Katsch im Januar 2010 - damals noch verdeckt und unter einem Aliasnamen - von stundenlangen Schlägen mit einem Teppichklopfer auf das entblößte Gesäß. Der Täter - Pater S. - habe dabei immer hinter ihm gestanden und ihm anschließend den blutzerfetzten Hintern eingecremt.

"Ich ekle mich vor dieser Erinnerung, das war eine sehr unangenehme Berührung, vielleicht unangenehmer als die Schläge zuvor", erinnert er sich im Interview. Etwa ein Jahr zuvor hatte er bei mehreren Treffen mit früheren Klassenkameraden erfahren, dass er nicht allein war.

Immer mehr ehemalige Mitschüler berichteten damals von ähnlichen Erfahrungen mit zwei Patres, die die Schule damals längst verlassen hatten. Sie wurden an anderen Gymnasien des Jesuitenordens eingesetzt. Katsch erfährt in dieser Zeit, dass sein Peiniger Pater S. über mehrere Stationen schließlich bis nach Chile versetzt wurde. Dort arbeiteteer wieder mit Jugendlichen, obwohl der Orden offenbar von den Neigungen des Paters wusste.

Das Schweigekartell wird gebrochen

Anfang des Jahres 2010 wenden sich die ehemaligen Schüler des Canisius-Kollegs an den damaligen Schulleiter. In Pater Klaus Mertes, der erst 1994 an das Gymnasium kam, haben die inzwischen erwachsenen Männer einen Gesprächspartner, der zuhört - und handelt. Er schreibt an rund 600 Schüler der betroffenen Jahrgänge aus den 1970er und 1980er Jahren einen Brief. Darin heißt es: "Ich möchte dazu beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird (…) In tiefer Erschütterung und Scham wiederhole ich zugleich meine Entschuldigung gegenüber allen Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten am Canisius-Kolleg."

Der Brief landet bei den Medien. Die Berichte über den Missbrauchsskandal erschüttern die Republik. In den folgenden Tagen und Wochen melden sich Hunderte Betroffene aus katholischen Einrichtungen des ganzen Landes. "Ich war natürlich erschüttert auf der einen Seite, auf der anderen Seite war ich aber auch erleichtert, jetzt endlich zu wissen, worum es geht", erzählt Pater Mertes heute im Gespräch mit rbb24 Recherche.

Über die Jahre hinweg habe es schon immer "eine Gerüchtestruktur gegeben, wo ich nie genau wusste, was ist da." In den Gesprächen mit Matthias Katsch und zwei anderen Männern sei ihm klar geworden, dass die Taten der Patres "Verbrechenscharakter" hatten und das Schweigen darüber beendet werden musste. Ihm sei klar gewesen, sagt Mertes heute, dass sein Brief etwas auslösen werde. Die Wucht der Botschaft aber habe er völlig unterschätzt. "Ich hatte eher damit gerechnet, dass es einen kleinen Artikel im Lokalteil der Berliner Zeitung oder des Tagesspiegels gibt und wir dann sozusagen in Ruhe an die Aufarbeitung gehen können."

Schwieriger Prozess der Aufarbeitung

Matthias Katsch und viele andere beginnen in der Folgezeit sich zu organisieren. "Eckiger Tisch" nennt sich die bald gegründete Betroffeneninitiative. Eckig in Anspielung auf die Runden Tische, die versuchten, im Kreis sitzend gleichberechtigt zu arbeiten. Denn diesen Konsens gibt es mit der Katholischen Kirche bis heute nicht - vor allem in der Frage von Entschädigungen.

Die Kirche bot den Betroffenen zunächst pauschal 5.000 Euro, betonte von Beginn an aber, dass dies keine Entschädigungen, sondern Zahlungen "in Anerkennung des Leids" seien. Im Lauf der Jahre hat sich die Summe erhöht, auf durchschnittlich rund 20.000 Euro pro Betroffenem. Im Gespräch mit dem rbb erklärt Pater Manfred Kollig, Generalvikar des Erzbistums Berlin, warum die Katholische Kirche bis heute den Terminus Entschädigung vermeidet und nie direkt mit den Betroffenen verhandelt hat. "Es ist aus meiner Sicht schwierig, es mit den Betroffenen auszuhandeln", sagt er.

Es sei eine juristische Frage, "letztendlich würde da nur helfen, wenn man das wirklich unabhängig klären lässt". Doch wenn die Betroffenen für diese "unabhängige" Klärung vor ein Zivilgericht ziehen, verweigert sich die Kirche immer wieder und beharrt darauf, dass die Fälle längst verjährt seien. Deswegen fordert der "Eckige Tisch" inzwischen von der Politik, die so genannte "Verjährungseinrede" in diesen Fällen durch eine Gesetzesinitiative auszusetzen. Eine weitere Forderung der Betroffenen läuft darauf hinaus, eine Entschädigungsfonds einzurichten, aus dem Schmerzensgelder und Entschädigungen bezahlt werden.

Vorstellungen gehen weit auseinander

Beim Thema Entschädigungen bzw. Anerkennungszahlungen wird Katsch, der in der Regel ruhig und durchdacht argumentiert, ziemlich sauer. Die Katholische Kirche sei die reichste Kirche der Welt, sagt er. Sie habe "Einnahmen von mehreren Milliarden aus Mitgliedsbeiträgen, sogenannter Kirchensteuer, und sie verwaltet Milliardenvermögen in den Bistümern."

Natürlich könne die Katholische Kirche, so Katsch, eine großzügige Lösung finanzieren. "Aber sie will nicht und sie nutzt alle Tricks und Möglichkeiten unseres Rechtssystems aus, um diese Ansprüche abzuwehren", sagt Katsch im Gespräch mit dem rbb. Vorbild müssten nach Ansicht von Katsch Länder wie Irland oder die USA sein. Dort wurden Missbrauchsopfer der Katholischen Kirche mit Summen zwischen 80.000 und 1 Million Euro entschädigt.

Generalvikar Kollig dagegen verweist darauf, dass es im Falle von sexualisierter Gewalt immer schwierig sei, den entstanden Schaden mit Geld zu beziffern. "Es wird nie reichen. Das ist für mich immer sehr schwierig, das Geld und den Schaden an der Stelle, wenn es um die Menschen geht, in eine Balance zu bringen", sagt er.

Präventionsmaßnahmen wurden ausgeweitet

Um zu verhindern, dass sich Skandale wie dieser wiederholten, habe man in katholischen Einrichtungen inzwischen Präventionsbeauftragte eingesetzt, die regelmäßig geschult werden sagt Kollig im Interview. Er räumt aber auch ein: "Das alles sichert natürlich nicht, dass es nie wieder vorkommt. Weil es so ist, dass der Mensch, gerade wenn er in einem Bereich arbeitet, wo die Leute ihm Vertrauen, auch in die Versuchung kommen kann, dieses Vertrauen zu missbrauchen."

Auch Pater Mertes findet, dass die Katholische Kirche seit 2010 große Schritte gemacht habe. Man könne in der Institution inzwischen über Dinge sprechen, die zuvor völlig tabuisiert gewesen seien.

Für Matthias Katsch und seine Mitstreiter kommt all dies zu spät. Am Wochenende treffen sich rund 30 der inzwischen mehr als 2.000 Betroffenen in einem Neuköllner Veranstaltungszentrum. Unter anderem wollen die Teilnehmer eine Pressekonferenz zum 15. Jahrestag des Missbrauchsskandals vorbereiten. Thema unter anderem: die Entschädigungsverhandlungen mit der Katholischen Kirche.

Sendung: rbb24 Inforadio, 10.01.2025, 6 Uhr

Beitrag von Jo Goll und Torsten Mandalka, rbb24 Recherche

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4 Kommentare

  1. 4.

    Wenn ich solche Berichte lese, kommt die Wut und Verzweiflung in mir darüber hoch, wie oft doch von Menschen bewusst weggeschaut und versucht wird, dieses Thema unter den Teppich zu kehren. Es geht hier und überall um viele, viele Kinder, deren Seelen durch diese Taten schwer belastet werden. Ich bin gläubig, aber wenn ich so etwas lese, könnte ich schier verzweifeln. Warum werden Täter gedeckt? Wie armselig ist so etwas? Das ist der zweite Vertrauensbruch, den die damaligen Kinder und heute Erwachsenen erleben müssen. Der dritte ist dann das Kämpfen um die Entschädigung. Für mich ist das nach wie vor unfassbar und zeugt von allem, aber nicht von dem, was ich von gläubigen Menschen erwarten würde. Es zeigt mir dann doch eher, wieviel Empathielosigkeit gegenüber den Opfern vorhanden ist.

  2. 3.

    Was ist ekelhafter, das Verhalten der Verbrecher / Kinderschänder oder das Vertuschen durch die Kirchenobersten, die sich damit in meinen Augen weiterer Kindeswohlgefährdung schuldig gemacht haben und für mich als Vertuscher auch Verbrecher sind.

  3. 2.

    Da wird auch nichts kommen.
    "Schließlich sei alles nicht so schlimm oder man sollte sich nicht so anstellen".
    Zitat eines Briefes einer Behörde an mich.
    Selbst der Opferbeauftragte hatte kein Interesse.
    Vlt hilft der " Weisse Ring "weiter. Bei mir war es so.

  4. 1.

    Auch hier versagen die staatlichen Verantwortlichen seit Jahrzehnten. Es keimte bei den Betroffenen etwas Hoffnung auf, als diese grausame Verbrechen des sexuellen Missbrauchs, an die Öffentlichkeit kam. Groß war das Geschrei, besonders von den Politiker. Man müsste unbürokratisch und schnell helfen. Bis heute warten Opfer auf Hilfe vergebens. Außer ein paar Briefe von den Behörden und eine ,damals noch von der Beauftragten Christine Bergmann , ist so gut wie nichts geschehen. Kirchliche und staatliche Stellen , haben hier bis heute total versagt.

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