Theaterkritik | "4.48 Psychose" im DT - Das Prinzip Rasche kennt keine Zwischentöne
"4.48 Psychose" ist ein komplexer Text, der letzte, den Sarah Kane vor ihrem Selbstmord schrieb. Ulrich Rasche malträtiert ihn am Berliner DT mit seinem maschinell-manipulativen Überwältigungsdröhnen - und erstickt alle Ambivalenzen im Keim. Von Fabian Wallmeier
Zwei schmale Lichtröhren, sonst ist erst einmal nichts zu sehen. Dann taucht in der Mitte aus dem Schatten Katja Bürkle auf. Sie trägt einen eng anliegenden Overall in der Farbe ihrer Haut und bewegt sich diagonal auf einem Laufband - sie läuft dabei exakt so gegen die Bewegungen des Bandes an, dass sie langsam voranschreitend dennoch auf der Stelle stehen zu bleiben scheint.
Chorisches, den Text rhytmisch zerhackendes Sprechen und gigantische Bühnenmaschinerien sind eigentlich die Merkmale von Ulrich Rasche. Drei Mal in Folge ist er dafür zum Theatertreffen eingeladen worden, mit Arbeiten aus München, Basel und Dresden. Jetzt inszeniert Rasche zum ersten Mal am Deutschen Theater Berlin - und alles scheint an diesem Freitagabend zunächst etwas anders zu sein als sonst. Aber nur auf den ersten Blick.
"Aber Sie haben doch Freunde"
Statt der riesigen dreh- und kippbaren Scheiben, für die er bekannt ist, hat Rasche dieses Mal nur vier parallel angeordnete, ebenerdige Laufbänder auf Schienen auf die Drehbühne gebaut. Darauf steht nun zunächst kein Chor, sondern erst einmal eben nur Katja Bürkle. Ganz allein spricht sie die ersten Sätze von "4.48 Psychose", dem letzten Drama der Britin Sarah Kane, die sich 1999 im Alter von 28 Jahren in einer Londoner Klinik das Leben nahm. "Aber Sie haben doch Freunde", ruft sie microportverstärkt laut, aber mit kippender Stimme - und rhythmisch zerhackt, wie Rasche es immer verlangt.
"4.48 Psychose", benannt nach der Uhrzeit, wenn zwischen Psychopharmakagaben vorübergehend "die Klarheit vorbeischaut" und die Protagonistin einigermaßen normal denken und schreiben kann - ist ein komplexer, verstörender, vielschichtiger Text. Er ist eher ein langes Gedicht als ein Drama (und übrigens eines, das ganz im Gegenteil zum anderen 20 Jahre alten Text einer bedeutenden Dramatikerin, der in dieser Woche in Berlin neu inszeniert wurde, Yasmina Rezas "Drei Mal Leben" im BE, auch heute noch eine große existenzielle Kraft hat). Kanes Text besteht unter anderem aus inneren Monologen, Dialogen ohne Personenzuschreibungen, ärztlichen Notizen und Zahlenreihen. Und vor allem ist er weit mehr als das autobiographische Testament einer suizidalen Depressiven.
Mehr Morgeneyer wagen!
Rasche hat fünf Schauspieler, mit denen er schon zusammengearbeitet hat, mit nach Berlin gebracht und ergänzt sein Ensemble um vier Mitglieder des DT. Eine davon ist Kathleen Morgeneyer. Ihre ganz spezielle Art zu sprechen passt eigentlich perfekt zu "4.48 Psychose": Morgeneyers Kunst besteht darin, einen Text nicht entlang seiner sinngebenden Einzelteile zu betonen, sondern ihn, dem Anschein nach gegen innere Widerstände ankämpfend, mit einer Mischung aus Trotz und Panik ganz grundsätzlich zu befragen.
Doch das Prinzip Rasche kennt keine Zwischentöne, nur Variationen in der Lautstärke. Denn wenn auch die Bühnenmaschine dieses Mal eine Nummer kleiner und einfacher ist als sonst und erst einmal nicht im Chor gesprochen wird, ist doch schnell alles beim Altbekannten: Alle Schauspielerinnen und Schauspieler laufen seltsam verrenkt über die Laufbänder, sie zerhacken den Text in einzelne Wörter und Wortteile und zerdehnen das kurze Stück auf eine qualvolle Länge von fast drei Stunden.
Angetrieben werden die drei Schauspielerinnen und sechs Schauspieler von der dröhnenden Live-Musik, die Nico van Wersch für die Inszenierung komponiert hat. Elektroklänge, ein E-Bass und wuchtige Percussions legen sich über alles, lassen keine Pausen zu, lullen das Publikum ein und verbieten jede Art von Interaktion. Während Rasche die Musikbegleitung sonst an den Seiten der Bühne platziert, sind van Wersch und seine Musikerinnen dieses Mal Teil der Maschinerie. Sie drehen sich mit auf der Drehbühne und schieben sich so auch immer wieder vor das eigentliche Bühnengeschehen. Diesem Donner-Score ist nicht zu entkommen, nicht eine Sekunde lang.
Manipulatives Überwältigungstheater
Statt Kathleen Morgeneyer zu folgen und mit ihr zusammen den Text auszuloten, dreht Rasche alle Pegel auf Anschlag. Die Gleichmacherei, mit der er die verschiedenen Passagen des Textes im Sinne seines manipulativen Überwältigungstheaters traktiert, versperrt den Blick auf seine Vielschichtigkeit. Rasches Inszenierung hat kein Gespür für die Ambivalenzen von "4.48 Psychose" (oder zumindest kein Interesse daran), nicht für seine Zartheit und erst recht nicht für seinen immer wieder durchschimmernden Humor. Statt dessen regiert das Pathos, lässt Rasche nur die bodenlose Verzweiflung zu, die in Sarah Kanes Text natürlich auch steckt.
Das chorische Sprechen bleibt nicht aus - auch wenn es gut anderthalb Stunden dauert, bis zum ersten Mal mehr als eine Person gleichzeitig spricht. Dann aber geht es richtig los: Alle sechs Männer des Ensembles, donnergrollen das kommentierte Medikationsprotokoll einer Psychiatriepatientin, das Kane in ihr Drama integriert hat. Spätestens hier wird es streckenweise unfreiwillig komisch. Mit bedingungsloser Humorlosigkeit lässt Rasche die sechs Männer herumbrüllen. Auf eine vor die Bühne heruntergelassene Gaze-Wand lässt er Videoaufnahmen von kräftigen Männerhänden und später von behaarten Brustmuskulaturen projizieren.
Bitte öffnet den Vorhang? Nein, bitte nicht.
Vollends albern wird es, als später Linda Pöppel zur Ikone stilisiert wird. In farblicher Umkehr wie auf einem Schwarz-Weiß-Negativ strahlt sie in Live-Projektion als eine Art mater dolorosa von der Gaze-Wand. Derweil lärmen und dröhnen Schauspieler und Musiker weiter, sodass diese seltsame Deutung des Textes schnell vergessen ist.
Ganz am Ende schaltet Rasche zum Glück ein paar Gänge runter. Doch da ist es natürlich längst zu spät. "Sieh mich verschwinden", spricht Kathleen Morgeneyer sanft, während sie, Linda Pöppel und Katja Bürkle langsam von Schatten geschluckt werden. Als dann der letzte Satz des Textes erklingt, "Bitte öffnet den Vorhang", da hat er nichts von der trauerdurchtränkten zarten finalen Lebenszugewandtheit, die man beim Lesen in ihm spüren kann, sondern es bleibt nur ein Wunsch: Nein, bitte runter mit dem Vorhang, aber ganz schnell.
Sendung: Inforadio, 18.01.2020, 09:55 Uhr