Theatertreffen-Kritik | "Das neue Leben" - Neun Höllenkreise und eine gute Nachricht

Nach zwei Streaming-Ausgaben hat das Berliner Theatertreffen wieder in Präsenz begonnen. Die Eröffnungsinszenierung "Das neue Leben" beginnt als zarte Plauderei über die Liebe - und wächst zum Theatermaschinen-Großereignis. Von Fabian Wallmeier
Neun Jahre alt war der Dichter Dante Alighieri, als er seine Beatrice zum ersten Mal sah, Damien Rebgetz erzählt das ganz bedächtig, aber bestimmt. "Die Liebe befahl, ich gehorchte", stellt er fest. Und vorher noch: Sein Leben habe neu begonnen beim Anblick der Geliebten.
"Das neue Leben" heißt auch die Bochumer Inszenierung von Christopher Rüping, mit der an diesem Freitagabend das Berliner Theatertreffen eröffnet worden ist. Zwei Jahre lang konnte das Festival nur virtuell stattfinden. Jetzt ist das Haus der Berliner Festspiele wieder gefüllt, die Lust auf echtes Theatererlebnis in Präsenz ist spürbar.
Doch so richtig opulent ist das Theatererlebnis erst mal nicht. Das Saallicht bleibt an und lenkt ein wenig ab von dem ausgesprochen kargen Bühnenbild, das Rüping und sein Team aus Bochum mitgebracht haben. Links eine Leiter und eine Art Setzkasten mit Buchstaben, rechts ein Klavier - und auf dem Bühnenboden neun weiße Kreise, eine Anspielung auf die neun Kreise der Hölle aus Dantes "Göttlicher Komödie".
"Ich will nicht, dass es echt wird"
Doch hier geht es eben erst mal nicht um die Hölle, sondern um die Liebe. Rebgetz erzählt halb rezitierend, halb plaudernd, im Wechsel mit Anne Rietmeijer, Anna Drexeler und William Cooper in der Ich-Form die Liebesgeschichte nach, die Dante Ende des 13. Jahrhundert in seiner "Vita Nova" niederschrieb. Es ist eine Liebe, die nur in der dichterischen Anbetung der Geliebten aus der Ferne existiert. "Ich will nicht, dass es echt wird", sagt Rebgetz einmal, "ich will, dass es vollkommen bleibt."
Nicht einmal richtig ansprechen kann Dante seine Beatrice, geschweige denn ihr seine Liebe gestehen. William Cooper plustert sich immer mal wieder auf, treibt die anderen Dantes an, es doch gefälligst einfach mal rauszulassen - um dann beim Versuch, zu präsentieren, wie einfach das geht, kläglich, aber sehr witzig zu scheitern.
Die Spieler:innen kombinieren die alte Erzählung mit Pop-Songs, "I Will Always Love You" von Whitney Houston zum Beispiel oder "Baby One More Time" von Britney Spears. Das Klavier spielt dabei automatisch, ferngesteuert. Es ist damit gleichzeitig Emotionstreiber und Leerstelle. Ein schönes Bild für die innige Einsamkeit von Dantes Liebe.
"Das neue Leben" ist also ein bisschen spinnerte Marthalersche Musiktheater-Zartheit, ein bisschen Metatheater-Pingpong, ein bisschen Probebühnen-Ästhetik. Eine schöne Mischung eigentlich. Rüping macht nun also mal etwas anderes. Kein neuneinhalbstündiges Festspiel wie "Dionysos Stadt" (Theatertreffen 2019), keinen Requisiten-Rausch wie in "Einfach das Ende der Welt" (Theatertreffen 2021), sondern etwas ganz Einfaches. Im guten Sinne einfach und fraglos kunstvoll, aber eben einfach. Denkt man zumindest.
Das Pendel beginnt zu kreisen
Doch dann kippt der Abend - und das zunächst so beiläufig, dass man erst gar nicht merkt, in welchen Sog man da geraten ist. Beatrice sei mit 24 Jahren gestorben, verkündet Rebgetz, doch darüber wolle er jetzt nichts weiter sagen. Ganz allmählich ist derweil das Saallicht ausgegangen, ein Gerüst mit einer Leuchte am unteren Ende ist im mittleren Kreis bis knapp über den Bühnenboden heruntergefahren und beginnt nun sich zu drehen. Dann fängt die Gerüststange an ganz langsam zu kreisen. Wie ein Pendel schlägt sie immer weiter aus.
Die Leuchte ist dabei zur Hälfte abgeschirmt. Sie scheint nach außen, blendet erst das Publikum und bestrahlt dann die Bühnenwand, von der ein abgeschwächtes Licht in die Mitte reflektiert wird. Anne Rietmeijer, gekleidet in ein Gewand mit langen Ärmeln, schleppt sich nun gebückt, ganz langsam, die Ärmel wie zwei Schleppen hinter sich herziehend, über die Bühne. Während sie, umkreist vom Pendel, so gewissermaßen die neun Kreise der Hölle durchquert, bauen sich so hypnotische Soundscapes auf, dass einem der Atem stockt.
"You Dance so Well", bollert es irgendwann aus den Lautsprechern. Das Licht der Pendel-Leuchte ist nun nach innen gerichtet - und in der Mitte der Bühne tanzt William Cooper. Ganz auf sich selbst konzentriert, aber doch zunehmend ekstatisch. Der letzte Höllenkreis ist durchschritten.
Vier Dantes den Kopf waschen
Hier hätte Schluss sein können - ein wuchtiger, aber auch etwas kitschiger. Doch Rüping und sein Team sind schlauer. Nun hat Beatrice ihren Auftritt. Oder vielmehr eine Wiedergängerin der Verstorbenen. Nicht als 24-Jährige, sondern im Körper einer alten Frau (Viviane De Muynck) - Jugend kenne sie schließlich noch, aber das Alter habe sie eben nie erleben können und wolle einfach mal wissen, wie das ist.
Diese etwas kratzbürstige Beatrice wäscht allen vier Dantes und ihrer verklärten Liebesvorstellung nun den Kopf - spöttisch, aber gütig. Sie federt damit auch den überwältigenden Theatermaschinerie-Bombast des Mittelteils ab, ohne ihn aber der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Abend ist nun, bei aller Schwere des Grundsätzlichen, das hier verhandelt wird, wieder beim Plauderton des Anfangs angelangt.
Und schließlich bei der Musik: "Eine gute Nachricht" singen die Spieler:innen nun, ein herzerwärmendes kleines Lied von Danger Dan (der am 15. im Rahmen des Theatertreffens ein Konzert im Festspielhaus geben wird. Die schlechte Nachricht, heißt es da, dass wir alle zu Staub zerfallen. "Und jetzt die gute: Heute nicht."
Eine gute Nachricht ist natürlich auch, dass das Theatertreffen nun wieder in Präsenz stattfinden kann. Und wenn auch die anderen Inszenierungen mit diesem klugen, warmen und künstlerisch facettenreichen Abend halbwegs mithalten können, wird 2022 ein fantastischer Jahrgang.
Sendung: rbb 88.8, 07.05.2022, 10 Uhr
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