Theatertreffen-Eröffnung | "Nathan der Weise" - Die Aufklärung der Untoten
Ulrich Rasche, Freund gigantischer Theatermaschinen, hat zum Auftakt des Theatertreffens die Aufklärung für sich entdeckt. Ein Happy End ist seinem "Nathan der Weise" nicht vergönnt - aber ein spektakuläres Lichtdesign. Von Fabian Wallmeier
Ulrich Rasche mag es laut, düster und technisch bombastisch. Der Regisseur, dessen Salzburger Inszenierung von "Nathan der Weise" am Donnerstagabend das Berliner Theatertreffen eröffnet hat, lässt seine Schauspieler:innen gern über gigantische Laufbänder laufen. Oder über kreisende und sich neigende Drehscheiben oder ähnliche große, aufwändige Theatermaschinerien. Dazu wummert unaufhörlich düstere Livemusik und die Darsteller:innen brüllen rhythmisch zerhackt im Chor den Text des Stückes. Man muss das nicht mögen. Wirklich nicht.
Nun aber "Nathan der Weise". Gotthold Ephraim Lessings 1783 in Berlin uraufgeführtes Stück über die Versöhnung der drei monotheistischen Weltreligionen ist ein Kerntext der Literatur der Aufklärung. Das gilt vor allem für die berühmte Ringparabel, den vermutlich jede:r auf, vor und hinter der Bühne mal im Deutschunterricht besprochen hat (wer sich nicht mehr erinnert: hier entlang bitte [schule-bw.de].
Vielleicht kein typischer Rasche-Stoff - aber wer so unterschiedliche Texte wie Sarah Kanes "4.48 Psychose", Schillers "Räuber" und "Das große Heft" von Ágota Kristóf irgendwie gleich klingen lassen kann, kann letztlich jeden beliebigen Text nach seinem Prinzip niederwalzen.
Alles bleibt anders
Tatsächlich ist in dieser Inszenierung vieles wie immer bei Rasche. Und doch ist es ganz anders - und von Niederwalzen kann zum Glück kaum einmal die Rede sein. Die Musik wummert düster wie gewohnt, setzt aber zwischendurch auch mal aus. Das Sprechen im Chor hingegen, das bei Rasches Aufführungen oft so affektiert wirkt und dem Text eher entgegenwirkt, ist hier die Ausnahme. Und wenn es kommt, dann entwickelt es eine wahrhafte Wucht.
Die drei Hauptdarsteller:innen, zugleich Vertreter:innen der drei Religionen, können derweil tatsächlich ihre Rollentexte sprechen - und bei allem Zwang zum Rhythmus auch eigene Akzente setzen. Valery Tscheplanowa verleiht dem Juden Nathan eine klare Unbeirrbarkeit und Dringlichkeit. Nicola Mastroberardinos muslimischer Sultan Saladin verfügt über eine gewisse Sanftheit. Die Show stiehlt ihnen allerdings Mehmet Ateşçi, der den Christen Curd von Stauffen vor Kraft und Körperlichkeit nur so strotzend spielt.
Drehscheiben und Ringflächen
Die Bühnenmaschine ist wieder einmal gigantisch. Die gesamte Bühne ist von einer Drehscheibe bedeckt, deren äußeren zwei Ringflächen auch unabhängig bewegt werden können. Mal drehen sie sich mit dem Inneren, mal entgegengesetzt. Die Spieler:innen können so, immer im Gleichschritt zur Musik, scheinbar aufeinander zugehen, während sie dank der Drehung der Fläche unter ihnen vom Zuschauerraum aus betrachtet in Wirklichkeit nicht von der Stelle kommen und einander weiter entfernt bleiben.
Allein der grau gekleidete Nathan berührt hin und wieder eine andere Figur. Alle anderen sind schwarz gewandet und kommen einander nicht näher. Den Blick starr nach vorn gerichtet, setzen sie oft seitwärts den einen Fuß vor den anderen. Die Schulten sind vorgestreckt, die Arme eigentümlich angewinkelt. So wackeln sie fast unheimlich auf der Stelle. In höchster Anspannung und in tiefstem Misstrauen zueinander wirken sie wie Untote, die sich in ihrem letzten Aufbäumen mit aller Kraft wehren gegen den Geist der Aufklärung, der aus Lessings Text strahlt.
Von außerweltlicher Schönheit
Hoch über den Ringflächen auf der Bühne sind drei weitere Ringe befestigt. An ihnen hängen Säulen aus perforiertem Metall bis knapp über den Bühnenboden. Entlang der Ringbahnen und zusätzlich über eine den inneren Ring querende Traverse lassen sie sich quasi schwebend über die Bühne bewegen. Das klingt kompliziert und ist es sicher auch - der Aufbau der Bühne dürfte deutlich länger gedauert haben als bei den meisten anderen Produktionen.
Wichtig ist aber vor allem: Diesen Säulen ist die eigentliche Attraktion von Rasches Inszenierung zu verdanken. Denn an ihren Seiten sind sie von oben bis unten mit Leuchten in wechselnden Farben besetzt. Wird nun von einer Säule auf die andere geleuchtet, entsteht zusammen mit viel Bühnennebel eine Wand aus Licht von unheimlicher, außerweltlich wirkender Schönheit.
Wenn nun die langsam und rhythmisch zuckenden Untoten hinter einer solchen matt violetten oder blauen Wand aus Licht verschwinden oder allmählich daraus auftauchen, ist das nicht nur ein Gimmick der Theatermaschinerie. Vielmehr hat es eine in ihrer Düsternis so bedrückende wie berückende Kraft, wie zumindest ich sie von Rasche noch nicht kannte.
"Zu Hilf"
Düster ist allerdings auch der Schluss des fast vier Stunden langen Abends. Wo sich in Lessings Text nach allerlei Wirrungen die Figuren selig in den Armen liegen ("Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang", lautet die finale Regieanweisung), ist es bei Rasche deutlich anders. Zwar schafft auch er die Fakten für ein Happy End - und versinnbildlicht das fast schon kitschig mit einem Kostümwechsel: All die Untoten, die nun aus dem Bühnennebel heraustreten, tragen am Ende Weiß. Nur Nathan nicht. Der trägt weiter Grau, ist ganz allein vorn und spricht zweimal bitter und eindringlich die letzten Worte des Abends: "Zu Hilf".
Wie gesagt: Man muss Rasche nicht mögen. Aber wenn er so starke Bilder schafft wie hier und seinen Schauspieler:innen Raum lässt, dann ist es auch kein Ding der Unmöglichkeit. Für den Theatertreffen-Jahrgang 2024 ist das schon einmal ein schönes Signal zum Auftakt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.05.2024, 6:40 Uhr