Porträt | Jeremy Irons - Ein britischer Gentleman mit Abgründen
Jeremy Irons und die Berlinale sind fast ein Jahrgang, und bei der 70. Ausgabe leitet der Brite die Jury. Kritikfrei war diese Entscheidung nicht. Irons gehört zu den vielseitigsten Schauspielern unserer Tage - und besticht nicht nur mit seiner Stimme. Von Anke Sterneborg
In gewisser Weise fing alles mit der Stimme an. Ihr sonores Timbre kann schmeicheln, aber auch eine dringende Warnung aussprechen, ohne dass Jeremy Irons seine Stimme nennenswert erheben müsste. Gerade in ihrer gleichförmigen Ruhe liegt eine mal unterschwellige, mal offene Gefährlichkeit.
In ihr liegt die Melancholie über den Untergang einer Epoche, die er als Erzähler in der Fernsehserie "Wiedersehen mit Brideshead" verkörpert, in jener Rolle, die ihn Anfang der 80er Jahre bekannt machte. Aber auch die böse, hinterlistige Aggression des geschundenen Löwen Scar, dem er im Animationsfilm "König der Löwen" eine grollende Stimme lieh. "Wer sie hört, möchte nicht glauben, dass sie einmal jung war oder jemals altern könnte", schrieb der Kritiker Andreas Kilb in seiner Hommage zum 70. Geburtstag vor zwei Jahren über Irons Stimme "Es ist, als spräche ein Baum, ein Felsen oder ein Tier."
Mit "Wiedersehen mit Brideshead" gelang der Durchbruch
Geboren wurde Jeremy Irons 1948 in der kleinen Hafenstadt Cowes auf der Isle of Wright, als jüngstes von drei Kindern ins gediegene Elternhaus eines Buchhalters und einer Hausfrau. Statt wie ursprünglich geplant zum Zirkus zu gehen oder Tierarzt zu werden, begann er in den frühen 70er Jahren eine ganz unangestrengte Schauspielkarriere mit kleineren Rollen in Fernsehserien und Theaterproduktionen. Bekannt wurde er zehn Jahre später als Charles Ryder in "Wiedersehen mit Brideshead". Das war die erste von vielen Figuren, die auf seiner distinguierten Erscheinung aufbauen, auf seiner hageren, aufrechten Gestalt und seiner in sich ruhenden Haltung.
Weitere zehn Jahre später stieg er dann schon zum Oscar-Preisträger auf, für seine schillernde Darstellung des mutmaßlichen Ehefrauenmörders Claus von Bülow in die "Die Affäre der Sunny B." unter der Regie von Barbet Schroeder. Hat er oder hat er nicht? Ist er Täter oder Opfer? Das mal diskrete, mal offensichtliche Doppelspiel, die Diskrepanz zwischen äußerem Eindruck und inneren Absichten sprengt viele seiner Figuren.
Vom "Verhängnis" zu "Lolita"
Regisseure wie Volker Schlöndorff, Louis Malle, Adrian Lyne und vor allem David Cronenberg spielten mit diesem Widerspruch zwischen unterkühlter Erscheinung und hitzigen Leidenschaften, etwa wenn er sich in der Proust-Verfilmung "Eine Liebe von Swann" als Mitglied der High Society in eine Kurtisane verliebt, sich in "Verhängnis" als britischer Staatssekretär in eine Affäre mit der von Juliette Binoche gespielten Freundin seines Sohnes stürzt, wenn er als Uniprofessor in den mittleren Jahren Nabokovs 13-jähriger "Lolita" verfällt, oder in "M.Butterfly" als französischer Diplomat im China der 60er Jahre den Reizen eines Stars der Peking-Oper erliegt, die in Wirklichkeit ein Mann ist.
"Die Fantasie ist wie ein Piano"
Die widersprüchlichen Komponenten eines Mannes hatte Cronenberg schon 1988 als schizophrene Doppelrolle angelegt: In dem Psycho-Horrorthriller "Die Unzertrennlichen" verkörperte Irons die beiden äußerlich identischen, in Charakter und Temperament aber völlig unterschiedlichen Zwillinge und Gynäkologen Beverly und Elliott Mantle.
So hat er einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen, militärischen und religiösen Autoritätspersonen und Würdenträgern, Lehrern und Professoren, Generälen, Diplomaten und Politikern und sogar dem Papst in der Serie "Die Borgias" die Widersprüche zwischen äußerer Korrektheit und heimlichen Intrigen eingepflanzt.
Die düsteren Seiten der "condition humaine" haben ihn immer wieder angezogen: "Es ist immer interessant, Charaktere zu spielen, die sich am Abgrund bewegen, weil ich selber kein Leben am Abgrund führe", sagte der schon mit dem Triple Oscar, Golden Globe und Emmy ausgezeichnete Schauspieler, als er vor neun Jahren mit "Margin Call" auf der Berlinale war. "Das Wunderbare am Geschichtenerzählen ist, dass man das Leben mit den Augen anderer Menschen erforschen kann. Ich habe die Phantasie immer als Piano begriffen, das über alle Tasten verfügt. Während man im Leben nur zwei oder drei Akkorde spielt, hat man als Schauspieler das Glück, vor der Kamera oder auf der Bühne auch die vielen Noten zu erforschen, die man nicht selbst lebt. Mich interessieren die Noten, die nicht Teil meines Lebens sind, die Akkorde und Dissonanzen, die ich noch nicht gespielt habe. Angelegt ist alles in uns allen, der Langweiler, der Verführer, der Mörder..."
Erfolge auch mit Blockbustern
Und irgendwann begann er dann, neben anspruchsvollen Arthausfilmen auch die Bereiche von Blockbuster- und Actionkino zu erkunden, beispielweise in seiner Version des Batman-Butlers Alfred im Comic-Spektakel "Batman vs. Superman: Dawn of Justice". Selten wirkte er dabei so physisch wie als Bösewicht im dritten Film der "Stirb Langsam"-Serie, wo er als Ex-Militär Simon Gruber der Gegenspieler von Bruce Willis, John McClane, ist, im Tanktop die Oberarmmuskeln spielen lässt und gelegentlich eine verspielte Jungenhaftigkeit aufschimmern lässt.
Während Jeremy Irons im Kino eine Aura spröder Intellektualität verströmt, führt er in der Realität ein naturverbundenes und anpackendes Leben in einem alten Schloss, das er restauriert und gerettet hat, mit Hunden, Pferden, einem Boot, schnellen Motorrädern und der Schauspielkollegin Sinead Cusack, mit der er mehr als 40 Jahre verheiratet ist. Wohl um diesem Teil seines Lebens mehr Raum zu geben, hat er im Laufe der Jahre die Kunst verfeinert, in einer kleinen Rolle großen Eindruck zu machen, beispielsweise als Finanzmanager, der am Ende des Bankenthrillers "Margin Call" im gläsernen Restaurant schon die nächste krumme Sache ausheckt: "Es gibt keine kleine Rollen, es gibt nur kleine Schauspieler", ist Irons überzeugt.
"Ich spreche es lieber direkt an, damit es nicht von der Berlinale ablenkt"
Ganz glücklich ist sie nicht gelaufen, die Berufung dieses vielschichtigen, widersprüchlichen und risikofreudigen Schauspielers in die Jury des Berlinale-Wettbewerbs. Aber die Aufregung um einige zum Teil viele Jahre zurückliegende und nicht ganz sauber formulierte Äußerungen zu den Themen Homo-Ehe, Abtreibung und sexuelle Übergriffigkeit zeugen doch eher vom hyperaufgeregten Klima der Berichterstattung als von berechtigter und fundierter Kritik.
"Ich wäre froh, wenn ich mich damit jetzt nicht auseinandersetzen müsste, aber ich spreche es lieber direkt an, damit es nicht von der Berlinale ablenkt", sagte Irons denn auch zu Beginn der Filmfestspiele in einem vorbereiteten Statement. Er unterstütze "von ganzem Herzen" den Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen weltweit und sei gegen jede Art der sexuellen Belästigung privat wie am Arbeitsplatz.
Er begrüße Gesetze, die die gleichgeschlechtliche Eheschließung ermöglichten, und hoffe, dass immer mehr Länder solche verabschieden. Und er trete für das Recht von Frauen auf Abtreibung ein. Vom Programm der Berlinale erwarte er nun genau das: Filme zu sehen, die Vorurteile und Haltungen in Frage stellen und schwierige Probleme aufgreifen.
Kämpfer gegen die Ausgrenzung von HIV-Infizierten
Sicher, die Wahl eines alten weißen Mannes an die Spitze der Jury zeugt nicht von der überschäumenden Originalität, die man sich für den Neustart der Berlinale unter dem neuen Leiter Carlo Chatrian gewünscht hätte. Warum nicht mal ein junger schwarzer Filmregisseur? Oder eine Regisseurin?
Aber bevor man Jeremy Irons wegen einer kleinen Talk-Schlamperei an den Pranger stellt, hätte man sich vielleicht erst mal daran erinnern sollen, dass er vor bald 30 Jahren einer der ersten, wenn nicht der erste war, der sich mit der roten Schleife am Revers vor laufender Kamera mit HIV-Infizierten solidarisiert hat. Bis heute engagiert er sich vielfältig gegen Ungerechtigkeiten und Missstände, etwa als Produzent und Frontmann der Dokumentation "Trashed" über den globalen Kampf gegen Müll.