Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst - "Das Radio entlastet unseren Alltag"
Am 29. Oktober 1923 wurde der tägliche Radiosendebetrieb aufgenommen, der Tag gilt als Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland. Revolutionär zum Zeitpunkt seiner Erfindung hilft uns das Radio auch heute noch bei der Strukturierung unseres Alltags, sagt der Medientheoretiker Wolfgang Ernst von der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Interview mit Kulturradio erklärt er auch, warum der Apparat Radio immer mehr an Bedeutung verliert, während das Format auch in Zukunft weiter Bestand haben wird.
Herr Ernst, Reichs-Rundfunk-Kommisar Hans Bredow behauptete in seiner Rede anlässlich der Einführung des Rundfunks in Deutschland, dass das Radio eine Erfindung sei, die eine ähnliche Bedeutung hat wie die Erfindung des Buchdrucks unter Gutenberg. Sehen Sie das genauso?
Ja. Schon kurz nach der ersten öffentlichen Sendung wurden Radiogeräte nicht nur massenhaft gekauft, sondern auch selbst gebastelt. Hunderttausende hörten in ihren Wohnzimmern Radio, so dass es blitzschnell ein Massenmedium geworden ist. Das war revolutionär, auch im politischen Sinne. Viele haben mithilfe des Radios Revolutionen gestartet. Der Begründer der Medienwissenschaft, Marshall McLuhan, hat 1962 in seinem Buch über die Gutenberg-Galaxis beschrieben, dass nach 500 Jahren Vorherrschaft des gedruckten Wortes nun mit Radio und später auch mit dem Fernsehen eine ganz andere Form von massenmedialer Informationsverbreitung entstanden ist. Das war einfach revolutionär.
Bei Hans Bredow ging es ja auch um die "Erquickung", die Unterhaltung. Wie wichtig war in diesen Dingen das Radio?
Also ein wenig mogelte Bredow natürlich. Die Testprogramme liefen erst einmal als Wirtschaftssender. Bredow selbst führte Radio erstmals als Unterhaltungsmedium in die Kriegsgräben des Ersten Weltkriegs ein. Es ging darum, den Soldaten, die in diesen Gräben mehr oder weniger gefangen waren, Unterhaltung zu ermöglichen. Und so ist die Radiosendung zum ersten Mal erprobt worden, in den Kriegsgräben des ersten Weltkrieges. Das wird oft vergessen.
Heute muss das Radio stark konkurrieren mit dem Fernsehen, mit den digitalen Medien. Welche Bedeutung hat das Radio als Medium heute noch?
Je mehr Radio auch als Internetformat empfangen werden kann, desto weniger denken wir an das Radio als eigenständigen Apparat. Die Preisgabe an das Digitale wird einerseits im Radio gefeiert: Schließlich werden wir ja immer darauf hingewiesen, dass wir weitere Informationen auch online erhalten können. Gleichzeitig gibt das Radio damit natürlich auch ein bisschen seine eigene Unabhängigkeit auf. Radio als Technologie ist das eine. Das geht ja nun in Mobiltelefonie und in Funk über, was im technischen Sinne immer noch Radio ist, weil elektromagnetische Wellen versendet und empfangen werden. Radio als Medium wird aber immer mehr zum Format unter vielen anderen im Internet. Insofern erleben wir gerade eine sehr dramatische und mich etwas melancholisch stimmende Epoche, in der das Radio als eigenständiger Apparat verloren geht.
Würden Sie soweit gehen?
Ich sehe, dass auch mit der Umstellung von analogen auf digitale Empfangstechniken immer weniger klar wird: Wo ist denn die Differenz zwischen dem Computer und dem Radio? Einige Generationen kennen Radio nur noch als zeitliche Strukturierung, als Format. Darin liegt aber auch die Stärke des Radios, im Unterschied zu anderen Angeboten im Internet, die man jeder Zeit abrufen kann, sich aber selbst erarbeiten muss. Das "Zeitmedium" Radio bietet strukturiert zu bestimmten Momenten einem Massenpublikum Informationen und Unterhaltung. Und das entlastet den Alltag, so wie die Feiertage im Jahr gewisserweise unseren Rhythmus strukturieren.
Wie glauben Sie denn sieht das Radio der Zukunft aus?
Das Radio der Zukunft wird noch experimenteller sein. Es gibt ja schon jetzt eine Menge von Formaten im Netz, die selbständig hergestellt werden. Es wird aber sicher so bleiben, dass die redaktionelle Arbeit das Radio in hohem Maße bestimmen wird - im Unterschied zur individuellen, aber nicht autorisierten Angebotsstruktur im Internet. Das interaktive Radio wird immer ein Stück weit Eigenarbeit bleiben, während das Radio normalerweise ein Informationsmedium ist, das über das Ohr empfangen wird und nicht über das Auge. Das Ohr wird als Unterhaltungs- aber auch als Wissenskanal adressiert, im Unterschied zur Vorherrschaft des Visuellen, die uns am Computermonitor zu 99 Prozent absorbiert. Das ist die Stärke des Radios.
Die Fragen stellte Shelly Kupferberg, Kulturradio