Viadrina-Forschung zum Ukraine-Krieg - Der Krieg ist auch ein Ökozid

Tote Gewässer, kontaminierte Erde, verseuchte Luft – der russische Angriffskrieg zerstört auch die Umwelt in der Ukraine. An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) haben Forscher einen milliardenschweren Schaden bilanziert. Von Tina Friedrich und Torsten Mandalka
- Über eine Million zerstörte Wald- und Landfläche
- Schadenssumme liegt laut Forschern bei 72 Milliarden Euro
- EU und UN: Internationaler Strafgerichtshof soll Ökozid als Straftat aufnehmen
Das Ausmaß der durch den Krieg verursachten Umweltkatastrophe in der Ukraine ist gigantisch. Mittlerweile nutzen Umweltschützer deswegen auch den Begriff Ökozid, also die massenhafte Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Wenn Dr. Susann Worschech vom Kompetenzverbund Interdisziplinäre Ukraine-Studien (KIU) an der Viadrina in Frankfurt (Oder) darüber spricht, operiert sie mit Zahlen, die die Vorstellungskraft sprengen: 25.000 Hektar verbrannter Wald, 220 bedrohte oder zerstörte Naturschutzgebiete und gut eine Million Hektar verminte Wald- und Landflächen. Das entspricht in etwa der gesamten Waldfläche Brandenburgs.
Neben den Menschen sterben auch die Tiere bei den Kamphandlungen. Im Schwarzen Meer nimmt die Zahl der toten Delphine und Wale immer weiter zu. Zugrunde gehen sie an Sprengungen von Torpedos und Minen, am Lärm der Sonare von Kriegsschiffen und an der Wasserverschmutzung. Zuletzt kollidierten im Dezember zwei russische Tanker vor der Halbinsel Krim, und verursachten eine Ölpest, die bis heute nicht unter Kontrolle ist.
An der Viadrina versuchen die Wissenschaftler im KIU die Erkenntnisse zu den Umweltschäden zusammenzutragen. Susann Worschech nennt aktuell eine Schadenssumme von 72 Milliarden Euro und bezieht sich dabei auf die staatliche Umweltbehörde der Ukraine. Diese Schäden zu reparieren, würde im Zuge des Wiederaufbaus ebenfalls Milliarden Euro kosten, sagt sie rbb24 Recherche. Die Ukraine hat sich per Gesetz selbst auferlegt, den Wiederaufbau unter ökologischen und nachhaltigen Gesichtspunkten zu betreiben.
Altlasten als neue Gefahr
In den vergangenen drei Monaten hat auch die Umweltphilosophin Tetiana Gardashuk von der Akademie der Wissenschaften in Kiew als Gastwissenschaftlerin zur Viadrina-Forschung beigetragen. Sie kann aus eigener Anschauung berichten, wie die Menschen wegen der zerstörten Energieinfrastruktur Strom mit Dieselgeneratoren erzeugen müssen. Das hatte unmittelbare Folgen, erzählt sie im Interview mit dem rbb: "Im vergangenen Sommer gab es zusätzliche Luftverschmutzung, zusätzlichen Lärm und bei extremer Hitze noch zusätzliche Erwärmung."
Schon die ersten Tage des Krieges brachten vor fast drei Jahren die erste Umweltkatastrophe. 40 Jahre lang war der Boden in der Gegend rund um Tschernobyl nach der Reaktorkatastrophe unberührt geblieben. Dann kam die russische Invasionsarmee und wühlte die kontaminierte Erde auf. Die Radioaktivitätswerte in der Region seien daraufhin messbar angestiegen, sagt Gardashuk. "Sie [die Soldaten, Anm.d.Red.] hoben Schützengräben aus, bauten Bunker, jagten sogar wilde Tiere und aßen ihr Fleisch." In den Tagen danach seien viele russische Soldaten strahlenkrank geworden, berichtet Gardashuk. Die genaue Dokumentation der Geschehnisse ist allerdings im Kriegsgebiet kaum möglich.
In der Folgezeit kamen weitere Umweltkatastrophen hinzu. Das ganze Ausmaß versuchen nicht nur die Wissenschaftler in Frankfurt (Oder) zu dokumentieren, sondern auch Umweltinitiativen in der Ukraine und die in Berlin ansässige Nichtregierungsorganisation Vitsche. In den von Russland besetzten Gebieten und an der direkten Front ist das jedoch schwierig bis unmöglich.
Aus dem verfügbaren Material ergibt sich daher eine Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- März 2022: Mehrfach Beschuss von Ölplattformen und –depots (Ölteppiche, Ölverschmutzungen, Luftverschmutzung im ganzen Land)
- Frühjahr 2023: Biosphärenreservat Askania Nova bedroht (insgesamt 220 bedrohte Naturschutzgebiete, zum Beispiel der Nationalpark Biloberezhia Sviatoslava an der Dnjepr-Mündung ins Schwarze Meer)
- Juni 2023: Sprengung des Kachowka Staudamms. Die Folgen: Fischsterben, erhöhter Salzgehalt im Trinkwasser, e-coli-Bakterien im Trinkwasser, Verschmutzung des Schwarzen Meeres durch Pestizide, Schwermetalle und Transformatorenöl, 20.000 verendete Landtiere)
Zu den kriegsbedingten Umweltfolgen zählen die Wissenschaftler auch die Zunahme des zivilen und militärischen Grenzverkehrs und die daraus resultierende Umweltverschmutzung, die Zunahme der Luftverschmutzung und gestiegene CO2-Emissionen. Im Schwarzen Meer kam es zu einem Delphinsterben, 80 Tierarten sind vom Aussterben bedroht, darunter Bison, Luchs und Braunbär, Vogelzugrouten sind unterbrochen. Die Kampfhandlungen führten zu Waldbränden und Bodenverseuchung und zur Entstehung von Todeszonen durch Landminen.
72 Milliarden Euro Umweltschäden
All diese Schadensereignisse hat Susann Worschech an der Viadrina versucht zu beziffern. Sie kommt jetzt, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, auf eine Schadenssumme von 72 Milliarden Euro, und beruft sich dabei auf die ukrainische Umweltbehörde. Darin noch nicht enthalten sind aktuelle Ereignisse, wie der Zusammenstoß zweier Tanker in der Meeresstraße von Kertsch und die daraus folgende Ölpest rund um die Krim-Halbinsel. Diese Katastrophe ist schwer zu dokumentieren, weil sie in russisch kontrollierten Gewässern stattgefunden hat.
Das Risiko für Tankerunfälle, so Susann Worschech, hat sich durch die Bewegungen der russischen Schattenflotte und den insgesamt maroden Zustand der Schiffe an vielen Orten erhöht: an den Schwarzmeerküsten der EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, aber auch in türkischen Gewässern und in der Ostsee. "Eine Ölkatastrophe vor Finnland, vor Estland, vor Schweden", sagt Worschech, "wäre genauso katastrophal, wie sie es jetzt auch vor der Krim ist."
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Die Umweltzerstörungen in der Ukraine stehen bislang nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, nicht mal in der Ukraine selbst. "Jeden Tag passiert etwas in der Ukraine", sagt Tetiana Gardashuk, "und wir haben gar keine Zeit, darüber nachzudenken." Dennoch sammeln die ukrainische Regierung, Wissenschaftler und NGOs stetig alle verfügbaren Informationen über die Umweltzerstörungen
Dazu gehört auch, dass gestrandete tote Delphine und Wale obduziert werden, um die Todesursache zu ermitteln.
EU und UN fordern Ökozid als Straftatbestand
Die aufwendige Spurensuche dient einem höheren Ziel: den Ökozid durch detaillierte Beweise zur Anklage zu bringen und als Grundlage für Reparationsforderungen zu nehmen. Noch verfolgt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Ökozid nicht als Straftat, EU und UN machen sich aber bereits dafür stark, Umweltverbrechen in den Katalog der dort verfolgten Straftaten mit aufzunehmen. Dann könnten nicht nur Reparationszahlungen dafür fällig werden, sondern auch Anklage gegen Einzelpersonen erhoben und Haftstrafen verhängt werden.
Klar ist: die Wiederherstellung der Natur und der Wiederaufbau der Energieinfrastruktur wird erhebliche Kosten verursachen. Die Viadrina-Wissenschaftler empfehlen, beim Wiederaufbau auf Nachhaltigkeit und Dezentralisierung zu achten. So könnte bereits jetzt in westlichen Landesteilen ein Solar- und Windenergieprogramm installiert werden, um die Ukraine auf dem Weg in eine CO2 neutrale Energieproduktion zu unterstützen.
Deutscher Beitrag zum Wiederaufbau gewünscht
"Was wir reparieren und wieder aufbauen müssen, kostet alles etwas", sagt Susann Worschech, "ich glaube aber, das muss es uns wert sein. Denn wenn wir nichts tun, wird das alles noch sehr viel teurer und sehr viel unangenehmer." Und wie das alles finanzieren? "Ich sehe hier die Bundesregierung und die Europäische Union politisch und finanziell am Zug", so Worschech.
rbb24 Recherche hat alle voraussichtlich im nächsten Bundestag vertretenen Parteien dazu angefragt. CDU, BSW und AfD haben die Anfrage nicht beantwortet. Die SPD ist der Ansicht, dass der Umweltschutz bei einem möglichen Wiederaufbau eine wichtige Rolle spielen müsse. "Wir setzen beim Aufbau der Energieinfrastruktur gezielt auf energieeffiziente Technologien und erneuerbare Energien", sagt ein Sprecher. Die Linke erinnert daran, dass für die Beseitigung von Umweltschäden ein gerechter Frieden und internationale Koordination nötig sei. Russland müsse einen finanziellen Beitrag zum Wiederaufbau leisten. Sie sieht aber auch Deutschland in der Verantwortung, hier einen Beitrag zu leisten, so ein Sprecher.
Den Beschlüssen der G7 entsprechend werden Zinserträge aus eingefrorenen russischen Vermögen für den Wiederaufbau herangezogen. Die Grünen fordern darüber hinaus, zu prüfen, "inwieweit auch stillgelegte russische Vermögenswerte an sich rechtssicher für die Unterstützung der Ukraine nutzbar gemacht werden können,” so ein Sprecher gegenüber rbb24 Recherche.
Dafür plädieren auch die Forscher an der Viadrina. Und Susann Worschech gibt zu bedenken, dass kein Weg daran vorbeiführe, in einer immer komplizierter werdenden Welt international zu kooperieren und zu denken.
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 30.01.2025, 19:30 Uhr