Der Krieg und eine ukrainisch-russische Familie - Ich habe die Macht der russischen Propaganda unterschätzt
Fronten, Gräben und tiefe Wunden: Der Krieg in der Ukraine wütet nicht nur auf Schlachtfeldern, sondern auch in unzähligen Familien. rbb-Reporterin Daria Gomelskaia erlebt das schmerzhaft am eigenen Leib.
Der Morgen des 24. Februars 2022 beginnt für mich mit der sms eines Freundes aus Erlangen: "Liebe Daria, ich denke heute an dich und deine Familie […] es ist ein trauriger Tag für die Menschheit." Die Nachricht erreicht mich am anderen Ende der Welt in einer Lehmhütte in Ghana. Mein erster Urlaub seit Jahren, weit weg von Horrormeldungen und trübem Februarwetter. Doch die Realität holt mich innnerhalb von Sekunden ein. Von hier an beginnt die Erinnerung zu verschwimmen.
Sommerferien auf beiden Seiten
Ich bin in der ukrainischen Stadt Charkiw geboren. Früher musste ich deutschen Freunden erklären, wo das liegt – heute hat meine Heimatstadt traurige Bekanntheit erlangt.
Ich war vier Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und meiner Schwester die im Zerfall begriffene Sowjetunion verlassen habe: Als jüdische Kontingentflüchtlinge sind wir 1991 nach Berlin immigriert.
Die Familie meines Vaters kommt aus dem ukrainischen Charkiw, die meiner Mutter aus dem russischen Belgorod. Aber eine spürbare Grenze gab es in meiner Familie bis vor zwei Jahren nie - Verwandte mütterlicher- und väterlicherseits lebten auf beiden Seiten der Grenze, ungeachtet ihrer Herkunft.
Meine Kindheit ist geprägt von Erinnerungen an die Sommerferien, die wir regelmäßig bei meiner Familie in Russland und der Ukraine verbracht haben. Erinnerungen, die heute schmerzen.
"Ihr bombardiert Euch selbst"
Als mich die Nachricht erreicht, dass die russische Armee die gesamte Ukraine angreift, nehme ich sofort Kontakt zu meiner ukrainischen Familie auf. Die Frage, die ich von jetzt an täglich stellen werde: "Lebt Ihr noch?" In den Wochen und Monaten nach dem 24. Februar setze ich Himmel und Hölle in Bewegung, um die mir nahen Menschen aus dem Kriegsgebiet zu evakuieren: Tanten, Cousinen und Freundinnen mit ihren Kindern. Ich lotse sie per Telefon quer durch die Ukraine - vom Osten bis zur polnischen Grenze im Westen.
Auch zu meiner russischen Familie nehme ich sofort Kontakt auf. Die Reaktion, die ich ausnahmslos von allen bekomme, ist bestürzend. Krieg? Nein, eine "Spezialoperation", um die Ukraine von ihrem "faschistischen Regime" zu befreien.
Am 24. Februar telefoniert meine russische Tante mit ihrer Nichte in der Ukraine. Nichte: "Wir werden bombardiert – die russische Armee greift Charkiw an!" Tante (lacht): "Nein, das ist nur westliche Propaganda." Bei meiner Nichte im Hintergrund: Bombenhagel und Sirenengeheul. Nichte: "Aber du kannst es doch hören!" Tante: "Das ist eure eigene faschistische Regierung. Ihr bombardiert euch selbst."
Die Macht der Propaganda
Die ersten Wochen und Monate nach dem 24. Februar habe ich versucht, mit meiner Familie in Russland zu reden und sie vor Putins Regierung zu warnen. Denn auch um meine russische Familie hatte ich große Angst. Und was, wenn sich plötzlich ukrainische und russische Cousins an der Front gegenüberstehen und aufeinander schießen müssen? Doch meine Worte drangen nicht zu ihnen durch. Irgendwann musste ich mir erschöpft eingestehen: Ich habe die Macht der russischen Propaganda unterschätzt.
Schweren Herzens habe ich dann die Entscheidung getroffen den Kontakt zu meiner russischen Familie abzubrechen. Denn ich brauchte all meine Kraft, um meine ukrainische Familie vor dem Tod zu bewahren. Frauen und Kinder konnten zum Glück sicher nach Berlin kommen, den Männern bleibt die Ausreise untersagt [deutschlandfunk.de] .
Der Krieg hat mir einen Bruder geschenkt
Auch wenn der Krieg einen Keil in meine Familie getrieben hat - an anderer Stelle sind wir näher zusammengerückt. So habe ich zum Beispiel durch die Evakuierung meiner Familie aus Charkiw Kontakt zu einem Cousin bekommen, den ich zuletzt als Baby im Arm hatte – seitdem sind wir uns nicht mehr persönlich begegnet.
Heute ist er 20 Jahre alt und wie ein Bruder für mich. Wir schreiben uns täglich und ich unterstütze ihn aus der Ferne mit allen mir verfügbaren Mitteln, um seinen Alltag ein wenig erträglicher zu machen. Er ist nicht nur täglichem Luftalarm und permanenten Bombeneinschlägen in seiner Nachbarschaft ausgesetzt, sondern es besteht auch immer die Gefahr, dass er an die Front eingezogen wird. Trotzdem verliert er nicht den Lebensmut. Wir träumen von dem Tag, an dem dieser Krieg sein Ende findet und wir uns in die Arme schließen können.
Krieg ist jetzt Alltag
Heute, zwei Jahre nach der russischen Invasion in die Ukraine, hat sich eine gespenstische Normalität eingestellt: Der Krieg ist zum Alltag geworden.
Bilder von zerbombten Krankenhäusern und Kinderspielplätzen meiner Heimatstadt betrachte ich wie durch Milchglas. Aufnahmen von überfüllten Bahnhöfen mit flüchtenden Menschenmassen wirken wie aus einer anderen Zeit, als müssten sie schwarz-weiß sein. [correctiv.org]
Vielleicht werde ich nie wieder in einem Nachtzug nach Charkiw oder Belgorod sitzen – die Brücken an die Orte meiner Kindheit sind verbrannt. Und ich erwische mich immer häufiger bei dem traurigen Gedanken: Gottseidank sind meine Großeltern und mein Vater vor Ausbruch dieses barbarischen Krieges gestorben.
Ein Funken Hoffnung bleibt
Beide Heimatländer sind für mich zu Minenfeldern geworden: Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht und in Russland könnte ich für meine Arbeit als Journalistin jederzeit verhaftet werden, wie so viele meiner Freundinnen und Kollegen.
Der grausame Tod von Alexey Nawalny hat mir ein weiters Mal vor Augen geführt, dass in Putins Russland niemand sicher ist. Der Gedanke daran erfüllt mich mit unendlicher Wut und Verzweiflung.
Doch die Hoffnung bleibt: Wenn die Ukraine es schafft diesen Krieg zu gewinnen, dann können Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden – auch in meiner Familie.
Letztes Jahr ist meine Nichte Mira zur Welt gekommen. "Mir" heißt Frieden – auf Ukrainisch und auf Russisch.
Sendung: Radioeins, 22.02.2024, 16:10 Uhr