Interview | DDR-Fluchthelfer - "Ganz stark war das Gefühl: Aus dieser kleinen DDR kommst du nicht mehr raus"
In der Nacht zum 13. August 1961 begann der Bau der Mauer, die Berlin bis 1989 in zwei Häften trennte. Im Interview erzählt Zeitzeuge und Fluchthelfer Joachim Neumann, wie er die Abriegelung erlebte und warum er zum Fluchthelfer wurde.
rbb|24: Herr Neumann, welche Erinnerungen haben Sie ganz persönlich an den 13. August 1961, also den Tag, an dem die DDR begann, die Berliner Mauer zu bauen?
Joachim Neumann: Das war mitten in den Sommerferien, ich war mit Freunden und Freundinnen an der Ostsee campen. Früh am Sonntagmorgen weckte mich mein Freund, der mit mir zusammen in einem Zelt schlief. Er besaß ein Kofferradio, was damals etwas relativ Seltenes war. Er sagte: 'Mensch, wach auf, in Berlin machen sie die Grenzen dicht!' Das war eine Nachricht! Da ist man aus dem Schlaf schnell hochgekommen.
Wir haben alle geweckt, die ganze Mannschaft hat sich um dieses kleine Kofferradio versammelt und wir haben atemlos gelauscht, was die Reporter von der Grenze zu erzählen hatten. Dank einer hohen Antenne in einem Baum konnten wir auch an der Ostsee die West-Berliner UKW-Sender hören – eigentlich wegen der Musik. Aber in so einem Fall war es wichtig, Informationen von DDR und BRD zu hören.
Sie waren damals Student und haben Bauingenieurwesen studiert. Wie hat sich das Klima in der DDR nach dem Mauerbau verändert?
Das war deutlich zu spüren, denn nachdem das Semester im September wieder angefangen hatte, war eine der ersten Handlungen eine Vollversammlung der Studenten, die von der Parteileitung einberufen wurde. Der Parteisekretär der Uni, den es an jeder Institution gab, erklärte uns, dass jetzt ein anderer Wind wehe. Wer jetzt nicht spure, habe an einer sozialistischen Hochschule nichts zu suchen. Um das zu illustrieren, hat er gesagt, er bereite ein Papier vor, wo wir unterschreiben, dass wir jederzeit bereit seien, die DDR mit der Waffe zu verteidigen. Zu dieser Zeit gab es in der DDR noch keine Wehrpflicht. Die wurde erst 1962 eingeführt.
Aber wir Studenten waren trotzdem in den vorherigen Jahren, in den Sommerferien, zu einem vierwöchigen Einsatz bei der Nationalen Volksarmee gerufen worden. Da wurden wir in einem Schnelldurchgang zu Reservisten ausgebildet, mit Dienst an der Waffe, Fahneneid und allem drum und dran. Ich habe daran nicht teilgenommen. Ich bin zufällig immer krank geworden. Ganz zufällig.
Sie haben sich zwei Monate nach dem Mauerbau entschieden, nach West-Berlin zu fliehen. War diese Aufforderung, notfalls auch zur Waffe greifen zu müssen, der entscheidende Moment? Oder wann war für Sie klar: Ich muss hier raus?
Das war einer der Punkte. Es gab noch einige andere Motive. Ganz stark war im Hintergrund das Gefühl: Jetzt sind wir hier eingesperrt. Aus dieser kleinen DDR kommst du nicht mehr raus. Das war immer so, das schwebte wie ein Damoklesschwert über uns.
Dann passierte noch einiges. Unter anderem ist ein Schulfreund von mir wegen einer Kleinigkeit zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Wir glaubten ihm helfen zu können, indem wir einen Brief an die Staatsanwaltschaft schreiben und haben Unterschriften für diesen Brief gesammelt. Wir haben damals überhaupt nicht geahnt, dass das in den Augen der Staatssicherheit ein halbes Verbrechen, ein konterrevolutionärer Akt war.
Dann haben wir auch Ärger gekriegt. Aber dass man für fast gar nichts zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurde, hat mir und meinen Freunden nochmal sehr plastisch gezeigt: In was für einem Staat leben wir eigentlich? Der kann mit uns machen, was er will. Und das war das Tüpfelchen auf dem I, das uns dann bewogen hat, den Entschluss endgültig zu fassen: In diesem Staat wollen wir nicht mehr leben.
Ihre Fluchtgeschichte klingt wirklich ein bisschen wie aus einem Film: Sie haben sich einen Pass von jemandem ausgeliehen, hatten aber die falsche Haarfarbe und nicht den richtigen Akzent. Wie lief das genau ab?
Es gab in West-Berlin mehrere Gruppen von Studenten, die versucht haben, Leute aus dem Osten rauszuholen. Und ein großartiger Trick war, dass sie ihre ausländischen Kommilitonen gebeten haben, in ihre Nachbarländer zurückzufahren und im Freundes- und Verwandtenkreis so viele Pässe wie möglich einzusammeln. Man versuchte, einen Pass zu finden, der einem Fluchtwilligen so ähnlich sah, dass dieser den Pass benutzen konnte. Und ich hatte das Glück, dass für mich nach einigen Wochen ein Schweizer Pass gefunden wurde. Der Besitzer dieses Passes sah mir so ähnlich, dass wir Zwillingsbrüder hätten sein können. Nur war der Kerl blond und ich hatte in meiner Jugend schwarze Haare.
Der Student, der mir diesen Pass brachte, nahm das nicht so tragisch und sagte: Naja, dann musst du dir halt deine Haare blond färben. Ich habe das mit Hilfe einer befreundeten Frisöse geschafft. Als ich dann blond war, war ich zuversichtlich, weil das Bild täuschend ähnlich war und am Pass selbst war überhaupt nichts manipuliert.
Und wie haben Sie vermieden, dass Sie Schweizerdeutsch reden müssen?
Ich hatte damals noch nie Schweizer reden hören. Ich wusste nur, der wird nicht berlinern und deshalb habe ich mir vorgenommen, ich mime einen arroganten Schweizer Touristen und rede mit denen so gut wie gar nicht. Deshalb habe ich versucht, ein hochmütiges Gesicht zu machen und jedes Gespräch abzublocken.
Das ist mir gut gelungen, aber einmal wurde es kritisch. Da kam ich in einen Raum, wo mir der Pass abgenommen wurde. Der wurde dann nach hinten gereicht und nach allen Regeln der Kunst geprüft. Der junge Offizier, der in dem Raum stand, langweilte sich offensichtlich, denn er versuchte, mit mir ein Gespräch anzufangen. Er fragte mich sehr freundlich: Na, haben Sie sich heute unsere Hauptstadt angeguckt?
Ich habe ihn gar nicht angeschaut und habe was Zustimmendes gegrunzt. Dann hat er noch mal gefragt, ob es mir in der DDR gefallen habe. Dann habe ich wieder irgend so ein Geräusch gemacht, so ein bisschen undefinierbar, so dass er eigentlich merken sollte, Mensch hör auf mich anzuquatschen. Das hat dann auch funktioniert.
Nachdem Sie es geschafft haben, auf diese abenteuerliche Weise nach West-Berlin zu kommen, hätten Sie ja alles tun können. Die Welt stand Ihnen offen. Warum haben Sie aber beschlossen, in der Nähe der Grenze zu bleiben und die gerade gewonnene Freiheit als Fluchthelfer zu riskieren?
Das hatte zwei Gründe. Wir waren in Ost-Berlin eine Handvoll sehr guter Freunde. Wir wollten alle weg und wir haben uns gegenseitig versprochen: Wer es schafft, kümmert sich darum, dass die anderen auch eine Chance haben. Drei von uns haben es geschafft, mit diesen ausländischen Pässen. Aber drei waren noch übrig und ich fühlte mich an dieses gegebene Versprechen gebunden. Und eine Freundin in Ost-Berlin hatte ich auch noch, die wollte ich zu mir holen.
Sie waren am Bau von insgesamt sechs Tunneln beteiligt, durch die Menschen unterirdisch fliehen konnten. Dass Sie Bauingenieur waren, das ist Ihnen dabei bestimmt zugutegekommen. Wie herausfordernd war es im Verborgenen Tunnel zu graben?
Was mir zugutekam, war, dass ich mit Vermessungsgeräten umgehen konnte und in der Lage war, diese Tunnel einzumessen. Denn die waren 140 bis 150 Meter lang. Man muss auch genau wissen, wo man rauskommt. Das Problem ist, dass man in so einem engen Loch jegliche Orientierung verliert, denn nach 30, 40 Metern weiß man nicht mehr, wo man ist.
Hat das immer geklappt oder sind Sie da auch mal irgendwo rausgekommen, wo Sie nicht rauskommen wollten?
Das passierte einmal und war natürlich sehr frustrierend. Wir sind wenige Meter neben dem Haus rausgekommen, was wir uns ausgesucht hatten. Auf dem Hof war eine Kohlenhandlung und das war natürlich viel zu gefährlich, sowohl für uns als auch für die Flüchtlinge.
Das heißt, diese Aktion haben wir umgehend abgebrochen. Durch diesen Tunnel sind nur drei junge Frauen gekommen. Das waren die Einzigen, die wir nicht mehr rechtzeitig warnen konnten. Das war natürlich sehr enttäuschend. Aber es ist auch nicht so unwahrscheinlich. Wenn man bei der Vermessung nur einen minimalen Winkelfehler hat, ist man eben nach 140, 150 Metern, zwei, drei Meter vom Ziel entfernt. Das geht schnell und ist offenbar der Fall gewesen.
Wie viele Menschen insgesamt haben die Flucht durch diese Tunnel geschafft, die Sie gegraben haben?
Durch die Tunnel, an denen ich beteiligt war, sind insgesamt 89 Menschen geflohen. Von meinen Freunden ist nur einer gekommen, zwei andere sind aufgrund eines Verrats im Gefängnis gelandet, davon ist einer durch die Bundesregierung freigekauft worden. Der andere wollte nicht mehr in den Westen. Meine Freundin ist durch den letzten Tunnel gekommen, den ich mitgegraben hatte. Sie war aber auch vorher infolge des Verrats knapp eineinhalb Jahre im Gefängnis.
Und sie ist dann Ihre Frau geworden?
Ja.
Sie waren am Dienstag als Zeitzeuge bei einer Gedenkveranstaltung an der Bernauer Straße anlässlich des Mauerbaus dabei. Wie ist es für Sie heute, an diese wenigen Orte zurückzukehren, an denen überhaupt noch sichtbar ist, dass Berlin mal eine geteilte Stadt war?
Mittlerweile ist es schon ein bisschen Routine geworden, weil ich das ja nun schon seit einigen Jahren mache. Ich führe Zeitzeugengespräche, meistens mit Schulklassen, die auf Klassenfahrt nach Berlin kommen und die Gedenkstätte Berliner Mauer besuchen. Ein Tag wie heute ist natürlich wieder etwas anderes, denn er erinnert ja doch immer an die Ereignisse von damals. Der 13. August 1961 ist nach meinem Geschmack der Tag gewesen, der die Teilung Deutschlands zementiert hat und damit einen der dunkelsten Teile der deutsch-deutschen Geschichte eingeleitet hat. Und für mich war das der Anfang einer Entwicklung, die letzten Endes damit endete, dass ich die DDR verlassen habe.
Vielen Dank für das Gespräch!
Es handelt sich um eine redigierte, gekürzte Fassung.
Das Gespräch führte Marie Kaiser.
Sendung: Radioeins, 13.08.2024, 16.10 Uhr
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