Prozess gegen mutmaßlichen Stasi-Todesschützen - "Die Familie sollte keine weiteren Fragen stellen"
1974 wird der Pole Czesław Kukuczka am Grenzübergang Friedrichstraße erschossen - mutmaßlich von einem Stasi-Offizier. Ab Donnerstag steht der 80-jährige Angeklagte in Berlin vor Gericht. Der Historiker Filip Gańczak schildert, wie die Geheimdienste den Fall vertuschten.
rbb|24: Herr Gańczak, wenn die Stasi-Berichte über den mutmaßlichen Mord an Czesław Kukuczka der Wahrheit entsprechen, soll sich das Opfer am Tattag wie ein Terrorist verhalten haben: Als er am Mittag des 29. März 1974 in die polnische Botschaft kam, sollen zum Beispiel Drähte aus seiner Tasche gehangen haben. Er drohte, es würden Explosionen ausgelöst, wenn er nicht ein Visum nach West-Berlin bekomme, soll er gesagt haben. War das nur eine Stasi-Legende, um die Erschießung eines polnischen sogenannten Republikflüchtlings zu legitimieren?
Filip Gańczak: Diesen Teil der Geschichte, in dem von einem Ultimatum die Rede ist, finde ich ziemlich glaubwürdig - weil er auch in den Berichten zu finden ist, die direkt am Tattag verfasst wurden. Wie ich annehme, hat Czesław Kukuczka versucht, seine Ausreise zu erzwingen. Er drohte, eine Bombe zu zünden, die er in der Tasche habe - was ja nicht stimmte, wie sich später herausstellte.
Wer soll dann befohlen haben, Kukuczka zu töten?
Die Entscheidung soll Bruno Beater getroffen haben, der damalige stellvertretende Minister des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Einem Bericht zufolge soll ein Offizier der volkspolnischen Geheimdienste diesen Plan der Stasi akzeptiert haben und darüber erleichtert gewesen sein.
Kann man den historischen Dokumenten der polnischen und DDR-Geheimdienste zum mutmaßlichen Mord an Kukuczka aus Ihrer Sicht überhaupt glauben?
Es gibt Dokumente, die am 29. März 1974 verfasst wurden, also am Tag des mutmaßlichen Mordes. Sie stammen sowohl von einem Botschaftsrat der VR Polen, einem volkspolnischen Geheimdienstler, als auch von einem Stasi-Offizier. Ich neige stark dazu anzunehmen, dass diesen ersten Berichten eine höhere Glaubwürdigkeit zuzuschreiben ist. Sie unterscheiden sich nämlich an einem wesentlichen Punkt deutlich von den späteren Berichten. Direkt nach dem Vorfall am Grenzübergang Friedrichstraße war gar nicht davon die Rede, dass der getötete Pole eine Pistole dabei hatte. Später heißt es in den Berichten, Czesław Kukuczka habe eine Waffe gehabt. Plötzlich gab es sogar Fotos von der angeblich ihm gehörenden Pistole. Ich halte es für ausgeschlossen, dass der Getötete eine Waffe dabei hatte. Die Geschichte wurde später erfunden, um die "Unschädlichmachung", wie es in den Akten heißt, von Kukuczka zu rechtfertigen.
Warum war dieser ungeklärte Todesfall, der sich vor fast 50 Jahren ereignete, so interessant für Sie?
Mich interessierte die persönliche Geschichte von Czesław Kukuczka und wie es zu seiner Tötung kam. Die Umstände waren zwar nach der Wende geprüft worden, aber von der Berliner Staatsanwaltschaft wieder zu den Akten gelegt worden, ohne Anklage zu erheben. Auch 2016 waren die Umstände noch nicht ganz klar. Mein Co-Autor Hans-Hermann Hertle und ich haben in den Archiven in Polen und Deutschland viele wichtige Informationen gefunden und mit einem Sohn des Opfers Kontakt aufgenommen.
Wie vertuschten die Behörden der VR Polen und der DDR den mutmaßlichen Mord?
Beide Seiten einigten sich darauf, dass der Vorfall einen geheimen Charakter haben sollte und die Familie des Getöteten nicht näher informiert wird – was auch geschah. Die volkspolnische Seite wollte die Tötung Kukuczkas als Selbstmord präsentieren, aber die DDR-Seite soll nicht einverstanden gewesen sein. Man kam überein, dass die Familie des Getöteten keinesfalls in die DDR kommen solle. Es wurde eine gekürzte Version des Geschehens vorbereitet, wonach es zu einem Vorfall am Grenzübergang Friedrichstraße gekommen sei und Kukuczka getötet wurde. Die Familie sollte keine weiteren Fragen stellen. Czesław Kukuczkas Leiche wurde eingeäschert und Wochen nach seinem Tod in Polen von seiner Familie in kleinem Kreis beigesetzt.
Das ist eine sehr traurige Geschichte, gerade wenn man die Fotos der Leiche sieht. Das fand ich schockierend. Aber auch wenn zur Wendezeit viele Unterlagen vernichtet wurden kann man sagen, dass dieser Fall gut dokumentiert ist - auf beiden Seiten.
Die Stasi schilderte Kukuczka als unsteten Menschen, der auch im Gefängnis gesessen hatte. Was haben Sie über diesen Mann erfahren?
Kukuczka wurde 38 Jahre alt, stammte aus Südpolen und war aktiv bei der Feuerwehr. Schon in seiner Jugend war er den Behörden aufgefallen, zum Beispiel mit kritischen Äußerungen zur "sozialistischen Musterstadt" Nowa Huta am Rande Krakaus. Später wurde er tatsächlich zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, die genauen Umstände sind aus meiner Sicht aber unklar. Bei der Feuerwehr wurde er für seine Arbeit gelobt. Er interessierte sich neben seiner Arbeit auch für Hobbys, er spielte zum Beispiel Schach.
Trotzdem ist für mich nicht ganz klar, warum er sich entschieden hat, diesen riskanten Weg nach West-Berlin zu versuchen. Er hatte drei Kinder und war verheiratet. Wenn ich das mit anderen Opfern der Berliner Mauer vergleiche: Das waren oft jüngere, ledige Männer. Aber er war Familienvater und trotzdem bereit, so viel zu riskieren.
Was erfuhr die Familie nach der mutmaßlichen Ermordung ihres Vaters und Ehemannes durch einen Stasi-Offizier?
Für die Familie blieben die Einzelheiten und wichtige Informationen jahrelang unbekannt. Was genau an diesem 29. März 1974 geschah, war für die Angehörigen ein Geheimnis mit vielen Fragezeichen.
Ab Donnerstag steht Kukuczkas mutmaßlicher Mörder nun in Berlin vor Gericht. Was hat der Prozess in Polen für eine Bedeutung?
Viele, mit denen ich sprach, sehen in dem Prozess eine Chance dafür, dass die kommunistischen Verbrechen insgesamt mehr ans Licht kommen und in der Öffentlichkeit etwas breiter diskutiert werden. Das Geschehene steht für die dunkle Seite einer kommunistischen Staatsmacht. Es gibt viele Gemeinsamkeiten in der deutschen und polnischen Geschichte, was die kommunistische Zeit nach dem 2. Weltkrieg betrifft. Wir als Forscher in Polen arbeiten dabei gut mit den deutschen Kolleginnen und Kollegen zusammen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Ulf Morling. Die ganze Fassung hören Sie oben durch einen Klick auf das Audio-Symbol im Bild.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.03.2024, 10:45 Uhr