Interview | Dokumentarfilmer Maksim Kurnikov - "Unser Film zeigt, dass Russland auch manchmal sehr schwach ist"

Fr 10.11.23 | 08:08 Uhr | Von Steffen Prell
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Maksim Kurnikov im November 2023 im Interview mit dem rbb. (Quelle: rbb)
Bild: rbb

Vor 100 Jahren starben fünf Millionen Menschen an einer Hungersnot in der Sowjetunion. Maksim Kurnikov will mit seiner Dokumentation "Famine" die Erinnerung daran wecken. Wie das trotz staatlicher Verbote geht, erzählt er im Interview.

rbb|24: Herr Kurnikov, Ihr Film erzählt die Geschichte einer Hungersnot, die sich zwischen 1921 und 1923 in Sowjetrussland ereignete. Wie kam es dazu?

Maksim Kurnikov: Verschiedene Faktoren haben zu der Hungersnot geführt. Zunächst einmal lag Russland nach dem Ersten Weltkrieg in Trümmern - viele Menschen waren gestorben und die Wirtschaft war ruiniert. Dann kam die Revolution und änderte alles. Man beschloss, eine kommunistische Wirtschaft aufzubauen. Aber niemand war darauf vorbereitet. Als die Bauern begriffen, dass die Regierung ihnen alles wegnehmen würde, was sie anbauten, beschlossen sie, nur noch für sich selbst anzubauen. Aber auch das nahm ihnen die Regierung weg. Außerdem war es ein sehr heißer Sommer und die Ernte war nicht gut. Und so begann die Hungersnot.

Zur Person

Maksim Kurnikov ist Journalist und Filmemacher aus Russland. Er war stellvertretender Chefredakteur vom kremlkritischen Radiosender "Echo Moskau", der nach Kriegsbeginn geschlossen wurde. Er selbst ging ins Exil nach Berlin. Hier arbeitet er als Journalist und betreibt Radio Echo weiter per App.

Seine Dokumentation "Famine" ist am 10.11.23 beim Filmfestival Cottbus zu sehen [filmfestivalcottbus.de].

In dieser Zeit starben schätzungsweise fünf Millionen Menschen. Wie kommt es, dass dieses Ereignis in Vergessenheit geraten ist?

Zur Zeit von Lenin war es überhaupt nicht vergessen. Erst in der Stalinzeit beschloss man, die Geschichte zu verdrängen. Der Grund dafür ist derselbe, warum auch der Film verboten worden ist. Es hängt mit Propaganda zusammen, mit russischer Propaganda. Davor war es sowjetische Propaganda. Die Propaganda sagt uns: Russland ist ein sehr starkes Land. Russland hat immer nur Siege errungen. Es ist noch nie besiegt worden. Es hat nie um Hilfe gebeten. Die Propaganda sagt uns: Alle wollen uns bekämpfen. Alle wollen unser Territorium erobern. Wenn wir schwach sind, werden sie uns erobern.

Der Film zeigt aber, dass Russland manchmal sehr schwach ist. Manchmal ist Russland ein Land des Hungers. Manchmal bittet Russland um Hilfe. Und andere Länder helfen Russland, sie haben das Land nicht erobert. Das ist etwas, das die Propaganda zerstört.

Wie haben Sie von dem Verbot Ihres Films erfahren?

Wir hatten eine Premiere in Moskau. Und dann haben wir einen Brief bekommen. Darin stand, dass unsere Lizenz, die uns für die Vorführung des Films erteilt wurde, zurückgenommen wurde und dass wir in diesem Film "geheime Informationen" zeigen. Wir waren sehr überrascht davon. Aber nicht nur wir waren erstaunt. Die russischen Staatsmedien waren es auch und fragten beim Kulturministerium nach. Sie haben dann anders geantwortet. Sie sagten, sie hätten viele Briefe aus ganz Russland erhalten, in denen stand, dass der Film schrecklich und antirussisch sei.

Das kann nicht stimmen, denn der Brief mit dem Lizenzentzug kam einen Abend nach unserer Premiere. Es war eine Entscheidung, die über Nacht getroffen wurde. Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, warum sie den Film verboten haben.

Aber wie ich schon sagte: Ich denke, dass der Grund für das Verbot ist, dass der Dokumentarfilm gegen die russische Propaganda arbeitet.

Der Film wurde in den russischen Kinos verboten. Aber jetzt ist er auf Youtube zu sehen...

Uns war klar, dass wir auf andere Plattformen gehen müssen, aber alle russischen Plattformen sagten, sie hätten Angst. Also haben wir beschlossen, den Film auf Youtube zu veröffentlichen, und wir wurden eingeladen, ihn auf einem ziemlich großen Kanal, dem Current Time Channel, zu zeigen. Wir haben dort ungefähr 2,3 Millionen Aufrufe. Und das ist eine sehr große Zahl. Als wir den Film gemacht haben, haben wir davon geträumt, dass Millionen von Menschen ihn sehen würden. Aber es ist ein sehr hartes Thema.

In der Dokumentation wird auch Kannibalismus thematisiert. Welche Reaktionen gab es?

Es ist sehr schwierig, sich den Film anzusehen. Viele Leute, die ich kenne, haben mir gesagt, dass sie es versucht haben, aber es nicht konnten. Ich kann sie verstehen. Mir ging es genauso, als ich die Dokumente zum ersten Mal gesehen habe. Auf Youtube haben viele Leute angefangen, Kommentare zu schreiben, es gibt mittlerweile 11.500. Sie erzählen die Geschichten ihrer Familien, wie ihre Großeltern und andere Familienmitglieder über die Hungersnot oder andere sowjetische Hungersnöte gesprochen haben. Das hatten wir nicht erwartet. Wir wussten nicht, dass so viele Menschen das Bedürfnis haben, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Sie wollen, dass andere wissen, dass es sich nicht um eine erfundene Geschichte handelt, sondern dass das wahr ist.

Sie haben die Dreharbeiten einen Monat vor dem russischen Angriff auf die Ukraine beendet. Wie erinnern Sie diese Zeit?

Kurz vor dem Krieg haben wir angefangen, den Film zu schneiden. Als der Krieg begann, dachten wir: Wow, wir sollten diesen Film vergessen, es ist jetzt nicht die Zeit für Dokumentarfilme über etwas, das vor 100 Jahren passiert ist. Aber dann haben wir beschlossen, den Film fertigzustellen. Als wir fertig waren, wurde uns klar, dass es sich um eine sehr wichtige Geschichte handelt - auch heute noch. Es geht darum, wie sich der Krieg auf das Land auswirkt.

Danke für das Gespräch!

Das Interview führte Steffen Prell.

Sendung: rbb Kultur, 11.11.2023, 18:30 Uhr

Beitrag von Steffen Prell

3 Kommentare

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  1. 3.

    „Alle wollen unser Territorium erobern“
    Die Geschichte zeigt, dass es immer wieder versucht wurde...

  2. 2.

    Arte/ARD hat diese Doku ja leider nicht mehr in der Mediathek, kann man aber bei YT noch finden...
    Verschollene Filmschätze
    1921. Hilfe gegen den Hunger in Russland | arte
    https://programm.ard.de/TV/Programm/Sender/?sendung=287244000872609

  3. 1.

    Kurnikov ist kein Dokumentarfilmmacher. Er ist ein Journalist. Das er die Recherchen und Reportagen seines Teams in filmischen Form darstellt, hat nichts mit dem Filmemacherdasein zu tun

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