Interview | Antisemitismus - "Wir lassen uns nicht unterkriegen - wir sind jüdische Deutsche, das ist unser Land"
Antisemitismus hat viele Erscheinungsformen – und ist Alltag in Deutschland, sagt Philipp Peyman Engel. Der Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen" fordert einen starken Rechtsstaat, aber auch mehr Dialog und Aufklärung.
rbb: Herr Engel, Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch, Antisemitismus sei in Deutschland wieder alltäglich geworden. Das liege an einer "unerträglichen Dreifaltigkeit". Was meinen Sie damit?
Philipp Peymann Engel: Es gibt viele Erscheinungsformen des Antisemitismus. Den Judenhass der AfD und anderer Rechtsextremisten benennen wir zum Glück so klar wie möglich. Darüberhinaus gibt es aber zwei Bereiche, die medial eher unterbelichtet sind: den muslimischen Antisemitismus und den linken Antisemitismus, die beide eine genauso eine große Gefahr darstellen.
Welcher ist der gefährlichste Antisemitismus?
Hierarchisierung versuche ich immer zu vermeiden. Die AfD sagt: Die Muslime sind Judenhasser, und wir müssen über den Judenhass der Muslime sprechen. Auf muslimischer Seite heißt es: Wie könnt ihr uns kritisieren? Wir müssten doch über die AfD reden. Wir Juden sind zwischen allen Stühlen – und auch im Visier dieser verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Deshalb müssen wir über alles reden.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch deutsche Mittelstandskinder, die sich im linksradikalen Postkolonialismus verlaufen und antisemitisch handeln. Wo kommen die her?
Verlaufen – das ist eine schöne Formulierung. Diese jungen Menschen kommen aus allerbestem Hause – zumindest finanziell, soziologisch betrachtet. Es gab diese Szenen vor dem Auswärtigen Amt – da waren es nicht muslimische Migranten oder muslimische Deutsche, sondern eben biodeutsche Bürgerkinder, die vor dem Auswärtigen Amt aufmarschierten und riefen: "Free Gaza from German Guilt". Damit sind sie sehr nah an den Aussagen von Björn Höcke und der AfD – nach dem Motto: Es müsse doch mal Schluss sein mit dem Schuldkult.
Warum, glauben Sie, haben diese jungen Menschen so eine gewisse kalte Unbarmherzigkeit den jüdischen Opfern der Hamas gegenüber?
Da ist viel Desinformation im Spiel. Die Propaganda der Terrororganisation Hamas und geschichtlich gesehen die Propaganda der Sowjetunion verfängt in diesem Milieu. In der Geschichte galt Israel lange als der übermächtige Partner der USA. Dagegen gibt es bei der Linken den Impuls, zu sagen: Wir sind für die Schwachen - an sich ein nachvollziehbarer Gedanke. Aber Israel darzustellen als übermächtigen Aggressor, das ist eine absolut verfälschte Sicht der Linken auf den jüdischen Staat. Israels Existenz hängt am seidenen Faden. Israel wird bedroht aus dem Libanon. Es gibt gerade 60.000 bis 80.000 israelische Binnenflüchtlinge, weil sie durch die Hisbollah bedroht werden, die auf 150.000 Raketen sitzen, finanziert und organisiert auch vom Iran. Israel möchte in Frieden und Freiheit leben. Mehr nicht. Israels Nachbarn indes wollen den Untergang des Judenstaates.
Jetzt erleben wir an deutschen Universitäten genauso wie an den US-amerikanischen einen verstärkten Antisemitismus. Wie ist das zu erklären?
Ich dachte lange: Bildung hilft gegen antisemitische Ressentiments. Doch leider ist das nicht so. Lassen Sie es uns konkret machen – am Beispiel des Berliner Studenten Lahav Shapira. Er wurde auf brutalste Weise verprügelt. Ihm wurden drei Knochen im Kopf gebrochen, beinahe wäre er an einer Gehirnblutung gestorben. Nur mit Glück hat er überlebt. Der Täter war ein 23-jähriger Lehramtsstudent – ein Akademiker also. Und trotzdem hat er Lahav Shapira verprügelt. Antisemitische Ressentiments und auch der Wille zu antisemitischen Gewaltakten sind leider verbreitet an den Universitäten. Ich glaube, da kommen wir wieder zurück auf die Rolle der Propaganda der Hamas und das verzerrte Bild, das es von Israel als übermächtigem Aggressor gibt.
Dass auch die Kulturlandschaft nicht frei ist von antisemitischen Ressentiments, haben die Documenta und zuletzt die Berlinale gezeigt: In Kassel gab es Kunstwerke mit antisemitischen Figuren, in Berlin bei der Bären-Verleihung Applaus für Aussagen wie "Stoppt den Genozid in Gaza". In der Jüdischen Allgemeinen wurde deshalb der Rücktritt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) gefordert. Was hätte sie anders machen müssen?
In Sachen Documenta wurde Kulturstaatsministerin Claudia Roth von jüdischen Verbänden und auch von nichtjüdischen Politikern monatelang im Voraus gewarnt: Bei der Documenta braut sich etwas zusammen, da sind BDS-Aktivisten in der Führung involviert. [Anmerkung der Redaktion: BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen, eine internationale politische Kampagne, die den Staat Israel isolieren will]. Da hat Kulturstaatsministerin Roth komplett versagt. Sie hat diese Warnungen nicht ernst genommen und am Ende ist es gekommen wie befürchtet: Die Documenta, das waren antisemitische Festspiele, da wurden Juden als Schweine mit Raffzähnen und Schläfenlocken gezeichnet. Das war eine Bildsprache, die an das NS-Hetzblatt "Stürmer" erinnert.
Oder die Berlinale Gala: Claudia Roth war mit der versammelten Kulturelite da und hat antisemitischen Aussagen applaudiert. Aber wenn sie den Satz 'Antisemitismus hat in diesem Land keinen Platz' ernst nimmt, dann muss sie gegen so etwas aufstehen und sagen: Leute, so geht es nicht. Aber das ist ausgeblieben.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Deutschland noch nie so weit von seinen Werten entfernt war wie jetzt. Woran machen Sie das fest?
Ich habe Bundespräsident Steinmeier zitiert, und der hat sinngemäß gesagt: Dieses Land ist ganz bei sich, wenn die jüdische Gemeinschaft in Frieden und Freiheit leben kann. Da ist meine Schlussfolgerung: Die jüdische Gemeinschaft kann nicht in Frieden und Freiheit leben – nicht erst seit dem 7. Oktober, aber insbesondere seit dem 7. Oktober. Und insofern ist Deutschland gemäß den Worten von Bundespräsident Steinmeier wirklich extrem weit von sich selbst entfernt. Und es ist auch nicht absehbar, ob sich das noch einmal ändern wird. Das muss uns in höchstem Maße beunruhigen.
Wie glauben Sie, kann Antisemitismus in Deutschland bekämpft werden?
Das alleinige Rezept gibt es nicht. Begegnungskonzepte könnten helfen. Wenn wir zum Beispiel den muslimischen Antisemitismus in den Blick nehmen, dann braucht es Leute, die in der muslimischen Gemeinschaft akzeptiert sind und ein Standing haben, die in die Schulen gehen, in die Moscheevereine – und dort zu ihren eigenen Leuten sprechen und Position beziehen gegen Antisemitismus. Wir brauchen auch mehr Dialog und jüdisch-muslimische Veranstaltungen. Das bringt schon etwas, wenn wir miteinander in Kontakt treten und auch diskutieren. Dann bekommt der andere ein Gesicht. Und man sieht auch, dass wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle einander näher sind, als man zuvor glaubt. Außerdem spielt ein harter Rechtsstaat eine Rolle. Wenn wir den Kampf gegen Antisemitismus ernst meinen, müssen wir auch reingehen, wenn an Al-Quds-Tagen antisemitische Parolen gerufen werden. Da muss der Staat einschreiten. Wer keinen Aufenthaltstitel hat und antisemitisch hetzt, muss ausgewiesen werden. Wer einen Aufenthaltstitel hat oder deutscher Staatsbürger ist, der muss strafrechtlich verfolgt und im Rahmen der Möglichkeiten hart bestraft werden.
Wie schauen Sie in Ihre Zukunft in Deutschland in den nächsten Monaten?
Die letzten fünf Monate waren hart, richtig hart. Ich habe nicht viel Hoffnung, dass es leichter wird. Im Vorfeld des Buches habe ich angefangen, antisemitische Straftaten zu protokollieren. Das mache ich immer noch, und nach wie vor folgt ein judenfeindlicher Zwischenfalls auf den nächsten. Zugleich bin ich der Überzeugung – und das sagen viele Juden in Deutschland: Wir wollen uns nicht unterkriegen und tyrannisieren lassen. Wir sind jüdische Deutsche, das ist auch unser Land. Wenn Leute ein Problem mit uns haben, dann ist das nicht unser Problem, sondern ihres.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Max Spallek, rbbKultur – das Magazin.
Sendung: rbbKultur, 09.03.2024, 18:30 Uhr