"Dagobert"-Festnahme vor 30 Jahren - Der Lieblingserpresser
Der depressive Schildermaler Arno Funke aus Rudow ist ein Niemand. Dann erfindet er sich neu: Als Erpresser "Dagobert" legt er Sprengsätze und hält Tausende Polizeibeamte hin. Vor genau 30 Jahren wird er in Berlin festgenommen. Sein drittes Leben beginnt. Von Sebastian Schneider
"Guten Morgen, hier ist Onkel Dagobert", spricht er in den Hörer und er wird es heute zum letzten Mal sagen, aber das weiß er noch nicht. Am anderen Ende der Leitung ist wieder dieser Mann von Karstadt, der mit der tiefen, angenehmen Stimme. Der lässt sich gerne Zeit beim Reden. Dagobert gibt seine Forderungen durch, dann legt er auf. Er öffnet die Tür der Telefonzelle und tritt auf den Fußweg. Er sieht die Zivilfahnder sofort. Er hebt die Hände.
Arno Martin Franz Funke wächst in Neukölln auf. In der Schule bleibt er zweimal sitzen, was sie ihm dort beibringen, interessiert ihn nicht. In seiner Freizeit liest er Bücher über Chemie, Astronomie und Physik. Er macht erste Versuche mit Schwarzpulver.
Funke bricht eine Fotografenlehre ab und bringt eine Ausbildung zum Schilder- und Lichtreklamehersteller zu Ende. Er jobbt als DJ, Getränkeausfahrer, auf dem Bau. Er hat handwerkliches Talent, kann zeichnen und malen. Aber es fällt nicht weiter auf.
In den Achtzigern arbeitet Funke in einer Autowerkstatt. Mit seiner Airbrush-Pistole verziert er Motorhauben, Tanks und Türen. Dabei atmet er giftige Dämpfe ein, die sein Gehirn krank machen. Funke trinkt zuviel, seine Beziehungen scheitern, er wird schwer depressiv und denkt an Suizid - so geht seine Erzählung. "Ich habe gedacht: Wenn ich Geld hätte, könnte ich meinem Leben eine neue Richtung geben", sagt er später.
Der erste schlägt fehl. Der zweite nicht.
Für einen Banküberfall fehlt ihm der Mut, zu persönlich. Der Hertie-Konzern, zu dem Karstadt damals gehört, ist ihm unpersönlich genug. Im Kadewe gehen die Gutverdiener einkaufen. Das Kadewe ist ein Symbol, das man angreifen kann. Im Frühling 1988 sieht sich ein blonder, unauffälliger Typ mit Schnauzbart und Turnschuhen in der Sportabteilung um.
Der erste Sprengsatz schlägt fehl. Der zweite explodiert am 25. Mai. Kein Mensch ist da, aber ein riesiger Sachschaden entsteht. Der unbekannte Erpresser sagt: Kohle her, oder es gibt die nächste Bombe. Die Polizei rät ab. Wer einmal nachgibt, kriegt keinen Frieden. Karstadt zahlt dem Erpresser trotzdem 500.000 Mark. Das Paket wird wie verabredet von einer S-Bahn abgeworfen und Arno Funke schnappt es sich und fährt einfach davon. Dabei hätte es bleiben können. "Hätte er damals aufgehört, wir hätten ihn nie gekriegt", erinnert sich einer, der ihn gejagt hat.
Endlich ein Jemand
Der Niemand ist jetzt wer, lädt Freunde auf Reisen ein, sieht Ibiza, Südkorea, die Philippinen. Verjubelt Geld in der Spielbank. Die registrierten Scheine tauscht er im Ausland um. Er heiratet und wird Vater eines Sohnes. Die Familie lebt auf 70 Quadratmetern in einer sterbensruhigen Straße in Mariendorf. Keinem fällt etwas auf. Seiner Frau erzählt Arno Funke, er ginge zur Arbeit. Er hat gar keine Arbeit. Nach knapp vier Jahren ist das Lösegeld alle. Funke sitzt zuhause und grübelt: Wenn es einmal geklappt hat, wieso nicht nochmal? Er sieht einen Turnbeutel auf seinem Schreibtisch liegen. Eine Dagobert-Figur ist darauf gedruckt.
In der Nacht des 13. Juni 1992 explodieren zwei Rohrbomben in der Porzellanabteilung des Karstadt an der Hamburger Mönckebergstraße. Zwei Tage später geht bei dem Konzern ein Brief ein: Der Erpresser fordert eine Million Mark, erhöht bald auf 1,4 Millionen. "Diesesmal es war nur ein besserer Knallfrosch. Nächstesmal wird es zurKatastrophe kommen", schreibt er wörtlich in dem Brief. Karstadt soll seine Bereitschaft zu zahlen mit einer Anzeige in der Zeitung erklären: "Dagobert grüßt seine Neffen" steht darin. In Wahrheit wollen die Chefs ihren Fehler nicht wiederholen.
Der Trick mit der Zeitschaltuhr
Der Erpresser hat auch eine Skizze der Bombe und eine Sprengstoffprobe mitgeschickt. Es scheint, als wolle er beweisen, was er drauf hat. Eine Kriminalpsychologin kommt zu dem Schluss: Ein unsicherer Typ auf der Suche nach Anerkennung.
Erst als Verbrecher entfaltet der unscheinbare Arno Funke seine Talente. Er tüftelt und bastelt in einer Gartenlaube in der Nähe des Flughafens Schönefeld. Er wächst über sich hinaus. Bei Tests, in denen es um Technik und Zahlen geht, werden Gutachter Funke später einen IQ von 148 bescheinigen.
Mitte Juli 1992 klingelt das Telefon in einer Karstadt-Geschäftsstelle. Ein Überbringer soll das Geldpaket mit einem Klappmechanismus an einem Zug befestigen. Dagobert drückt die Fernsteuerung, aber die Tasche bleibt hängen. Beim nächsten Mal dirigiert er einen Boten zu einem Schließfach. Darin liegt ein neuer Abwurfapparat und eine Tasche mit einer Zeitschaltuhr. Das Mobile Einsatzkommando (MEK) der Polizei legt sich an der Stelle auf die Lauer, an der die Tasche zu der eingestellten Zeit herunterfallen muss. Als der Zug vorbeifährt, ist sie nicht mehr da. Arno Funke hat sie schon vorher per Fernbedienung abgeworfen. Aber die Tasche ist voller Papierschnipsel.
Der nächste Sprengsatz explodiert in einer Filiale in Bremen. Dann einer in Hannover.
Die Rache des kleinen Mannes
Die Medien lieben den gewitzten Erpresser mit dem Zeichentricknamen - und sie bedienen als Gegensatz das Bild der dämlichen Polizei. "Dagobert, schlauer, als die Polizei erlaubt", lautet eine Schlagzeile, "Dumm, dümmer, Polizei" eine andere. Knapp zwei Drittel der Teilnehmer einer NDR-Umfrage sagen, sie finden den Unbekannten sympathisch. Es gibt Dagobert-T-Shirts, Fangesänge, Solidaritätsaufrufe. "Er hat ja Omas nich' die Handtaschen jeklaut", berlinert ein Radiomoderator.
Die Geschichte ist: Ein einziger Mann nimmt es mit Tausenden Polizisten auf. Einer, der es dem Staat mal richtig zeigt. In Ostdeutschland ist Dagobert besonders beliebt. Es sind die Nachwendejahre.
Dass er manche Sprengsätze auch zur Geschäftszeit am hellichten Tag in die Luft jagt, zwei Menschen verletzt und Karstadt-Mitarbeiter über viele Monate Angst haben, zur Arbeit zu gehen, spielt keine Rolle. Er sei kein Robin Hood gewesen, sagt Arno Funke rückblickend. Sondern ein Schwerverbrecher.
Donnerschlag und Schweinehälften
Mehr als 20 Mal geht Dagobert seinen Jägern durch die Lappen. Er ist extrem vorsichtig. Sobald er auch nur den leistesten Zweifel spürt, haut er ab. 3.000 Beamte überwachen Telefonzellen in West-Berlin. Er fährt mit dem Fahrrad an der ersten Zelle vorbei, erkennt die Zivilpolizisten. Auch an der zweiten stehen welche. Er nimmt dann die dritte, da ist keiner. Dagobert nimmt den Hörer von der Gabel. Gegenüber steht die Walt-Disney-Grundschule.
Einmal ist er nachts in einem Waldstück in der Nähe von Hamburg unterwegs, um auf den nächsten Zug mit dem Geld zu warten. Da fällt ihm etwas auf. "Ich habe mich gefragt, warum im Wald zu dieser Zeit bei strömendem Regen ein Mann im Trenchcoat herumsteht", sagt Funke. Er verschwindet. Die Ermittler finden nur noch ein Nachtsichtgerät.
Er hat teilweise abstruses Glück. Nach einer gescheiterten Übergabe springt er auf sein Fahrrad und fährt gerade los, als ihn ein Verfolger umstoßen will. Funke aber hält gerade noch die Balance und flüchtet. Der Polizist rutscht auf nassen Blättern aus. In der Presse heißt es, es sei ein Hundehaufen gewesen. Die Teile für seine Konstruktionen kauft Funke bei Conrad in der Karl-Marx-Straße. Verdeckte Ermittler drücken sich dort seit Wochen auffällig unauffällig herum, als Funke wieder in den Laden kommt. Er rennt durch die alarmgesicherte Hintertür und springt ihn ein Taxi.
Sprengsätze in Bielefeld und Magdeburg. Die Soko-Leute bereiten ein Paket mit einer Tränengasbombe vor. Das nennen sie "Donnerschlag". Sie testen es an Schweinehälften. Aber sie verwerfen die Idee.
Ein Bauarbeiter in Britz
Der Frust bei der Polizei wächst, der Erpresser verspottet sie. "Fallen Sie bitte nicht mit dem Geld ins Wasser", schreibt er auf einen Lageplan für eine Übergabe an der Spree. Aber in Wahrheit wächst auch der Druck auf Funke. Immer wieder muss er sich was Neues einfallen lassen. Er baut ein Mini-U-Boot, das er im Kleinen Wannsee für eine Übergabe verwenden will. Doch das Wetter ist zu schlecht. Das Geld für seine Technik hat er sich geliehen. Er lebt von Sozialhilfe.
Auf einem Parkplatz in Britz stellt ein Mann in Bauarbeitermontur eine Streusandkiste auf. Er wuchtet einen Gullideckel auf seine Schubkarre und schiebt sie davon. Die Baustelle sperrt er mit Flatterband ab. Niemand spricht ihn an.
Drei Tage später meldet sich Dagobert wieder. Die Polizei legt das Paket abends wie verabredet in die gefüllte Streusandkiste. Sie hat einen Bewegungsmelder darin versteckt. Funke öffnet sich eine Dose Bier in der Dunkelheit. Ein paar Minuten später bewegt sich der Melder plötzlich, sehen die Beamten. Aber sonst sehen sie nix. Sie öffnen die Kiste. Im Boden klafft ein rechteckiges, schwarzes Loch. Es führt in einen Abwasserschacht.
Funke hat die Kiste selbst gebaut. Er hat darunter gewartet, den Boden durchstoßen, in das Paket gegriffen - und war sofort enttäuscht. Die Polizei hat den Spott, er die Anerkennung des Publikums, aber ansonsten wieder nur Papiermüll in der Hand. Wie weit will er noch gehen? Die Ermittler trauen ihm nicht zu, dass er zu Schlimmerem fähig ist. Und mit jeder weiteren Tat steigt sein Risiko. Aber jetzt treibt ihn auch Wut.
Stolperdrähte und Feuerwerkskörper
Die nächste Explosion verwüstet einen Aufzug im Karstadt am Hermannplatz - gegen 12 Uhr mittags, mitten im Weihnachtsgeschäft. Die Polizei zögert - was, wenn das nächste Mal doch mehr passiert?
Im Januar 1994 kommen Polizisten zu einem stillgelegten Bahngelände in Charlottenburg. Auf einem Gleis liegt ein seltsames, längliches Gefährt. Sie legen etwas hinein. Plötzlich surrt das Ding los, eine ferngesteuerte Lore mit Elektromotor. Die Beamten laufen hinterher, aber plötzlich knallt und kracht es und sie schrecken zurück. Arno Funke hat Stolperdrähte aufgespannt und sie mit Feuerwerkskörpern verbunden. Aber die Lore wird zu schnell und entgleist kurz vor dem Ziel. Als er schon die Lichtkegel der Taschenlampen sehen kann, flieht Funke aus seinem Versteck in die Dunkelheit. Diesmal war echtes Geld in dem Paket: 1,4 Millionen Mark.
Dagobert bekommt zum ersten Mal ein Gesicht
Er wird müde und unvorsichtig, sein Radius kleiner. Er ist der meistgesuchte Verbrecher des Landes. Am 19. April 1994 verscheucht er einen anderen Mann aus einer Telefonzelle, um zur verabredeten Uhrzeit anrufen zu können. Die Polizei kommt kurz darauf zu spät. Aber der Mann kann das Gesicht gut beschreiben. Jetzt haben die Ermittler ein Phantombild.
Einen Tag später stehen zwei junge Polizisten in der Nähe der Glienicker Brücke und packen ihre Sachen ins Auto. Wieder waren sie an der falschen Telefonzelle. Da fährt ein weißer Kleinwagen vorbei. Ihnen fällt das Fahrrad auf, das der Fahrer mit Mühe auf die Rückbank gequetscht hat. Er habe so nachdenklich ausgesehen, sagt einer der Beamten später. Und er ähnelt dem Mann auf dem Phantombild.
Sie notieren sich das Kennzeichen. Der Wagen gehört einer Mietwagenfirma. Geliehen hat ihn ein Arno Funke, 44 Jahre, arbeitslos, wohnhaft in Mariendorf. Er hat ihn immer an Tagen genutzt, an denen auch Dagobert aufgetaucht ist. Funke wird observiert.
"Es ist zu Ende, und ich bin auch froh darüber"
Am Vormittag des 22. April 1994 tritt Arno Funke aus seinem Wohnhaus und steigt in den weißen Kleinwagen. Zwei Autos mit Zivilfahndern verfolgen ihn. Eine Telefonzelle in der Nähe vom Bahnhof Schöneweide scheint Funke perfekt. Kein Mensch auf der Straße. Er macht seinen Anruf. Der vermeintliche Karstadt-Mann am Telefon ist in Wahrheit ein Verhandlungsprofi der Polizei. Er hält ihn so lange hin, bis sie das Signal zurückverfolgt haben.
Als Funke aus der Zelle kommt, laufen vier Polizisten mit gezückten Waffen auf ihn zu. Einer davon ist der, dem er mal auf dem Fahrrad entwischt ist. "Es ist zu Ende, und ich bin auch froh darüber", sagt der Erpresser bei seiner Festnahme. Er sei Dagobert. Mehr als zwei Jahre lang haben sie ihn gejagt. Rund zehn Millionen Mark hat der Einsatz gekostet.
Die "Bild" bringt am nächsten Tag sein Foto auf der Titelseite. "Die Entenjagd ist aus", lautet der erste Satz. Aber das stimmt nicht ganz. Reporter belagern Funkes Wohnhaus und klettern über den Gartenzaun. Die Polizei überwacht die Gegend weiter, weil sie nicht sicher ist, ob Funke nicht doch Komplizen hatte. Sie befragen die Nachbarn: Wie war er denn so? Freundlich, zurückhaltend, verschwiegen, sagen die, hat mit seinem Sohn Ostereier im Garten gesucht. Und immer nett gegrüßt! Und natürlich hätte man ihm das nie zugetraut. Auf dem Notizbuch eines Polizisten klebt ein Dagobert-Sticker.
Schuld und Sühne
Prozess vor dem Landgericht, der blasse, schnauzbärtige Funke im Zweireiher. An seinem 45. Geburtstag wird er verurteilt: Herbeiführung von sechs Sprengstoffanschlägen, versuchte und vollendete schwere räuberische Erpressung. Der Staatsanwalt legt Revision ein, die Strafe wird auf neun Jahre Gefängnis erhöht. Das Gericht rechnet ihm schuldmildernd an, dass er als Autolackierer Hirnschäden durch die Lösungsmitteldämpfe erlitten hat. Karstadt verlangt fünf Millionen Mark Schadenersatz.
Funke sitzt ab 1996 in der JVA Plötzensee ein. Er fegt den Hof und gießt die Gefängnisblumen, macht eine Therapie, nimmt Antidepressiva und liest "Schuld und Sühne". "Zum Guten hat sich mein Leben erst gewendet, als ich in Haft kam", sagt er im Rückblick. Im August 2000 wird Arno Funke vorzeitig auf Bewährung entlassen. Da hat er schon seine Autobiografie veröffentlicht und einen Job als Karikaturist beim Satiremagazin "Eulenspiegel".
Vom Verbrecher zur Medienfigur
Er feiert Erfolge als Zeichner, stellt seine Kunst aus. Manche Bilder verkauft er für fünfstellige Summen. Den größten Teil seiner Einnahmen muss er Karstadt überweisen. Ständig wird Arno Funke gefragt, wie es war, Dagobert zu sein. Selten über sein Leben danach. Aber er zehrt auch von seinem Ruhm als bekanntester Erpresser Deutschlands. In Talkshows, Filmen und dem Dschungelcamp wirkt er eloquent und humorvoll. Nichts erinnert mehr an den jungen, verzweifelten Mann, der er mal gewesen ist.
Heute ist Funke 74 Jahre alt. Mit Karstadt habe er sich geeinigt, sagt er, keine Schulden mehr. Aber Dagobert bleibt er für immer. "Mein Leben hat durch die Taten eine völlig andere Richtung bekommen", sagt er zum 30. Jahrestag seiner Festnahme. Dann fügt er hinzu: "Es wäre schön, wenn man eine bessere Geschichte hätte."
Sendung: Radioeins, 22.04.2024, 9:00 Uhr
Am 24.04. um 20.15 Uhr zeigt das rbb-Fernsehen "Jagd auf Dagobert", abrufbar auch in der Mediathek.