Interview | Einsamkeit - "Viele Jugendliche haben sich ein bisschen in ihre eigene Welt zurückgezogen"

Mi 19.06.24 | 15:00 Uhr
Symbolbild: Ein Mädchen mit Kopfhörern geht am 19.11.2023 durch Berlin. (Quelle: Picture Alliance/Wolfram Steinberg)
Audio: Antenne Brandenburg | 18.06.2024 | Martina Rolke | Bild: Picture Alliance/Wolfram Steinberg

Fast die Hälfte aller jungen Menschen fühlt sich einsam. Gründe sieht eine Studie in den Pandemie-Folgen und veränderten Kommunikationsformen. Ein Familien-Betreuer aus Frankfurt (Oder) macht im Interview aber auch andere Auslöser ausfindig.

Das Bundesfamilienministerium hat die Aktionswoche "Gemeinsam gegen Einsamkeit" [bmfsfj.de] ausgerufen. Bundesweit soll vom 17. bis 23. Juni auf das Thema aufmerksam gemacht und enttabuisiert werden. Dabei zeigt eine jetzt veröffentlichte Umfrage der Bertelsmann-Stiftung mit 2.532 Teilnehmenden [tagesschau.de], dass sich vor allem viele junge Menschen einsam fühlen. Demnach gab etwa jeder zehnte Befragte im Alter zwischen 16 und 30 Jahren an, sehr einsam zu sein. Weitere 35 Prozent fühlten sich demnach "moderat einsam". Die Werte liegen den Angaben zufolge weiterhin deutlich über denen von vor der Corona-Zeit.

In Frankfurt (Oder) engagiert sich Norbert Leitzke mit seinem Verein "Kindervereinigung - mit Kindern für Kinder" ehrenamtlich für junge Menschen und deren Rechte. So betreut er seit mehr als 30 Jahren Familien oder organisiert Kinderfreizeiten. Leitzke sieht besondere Probleme bei den vielen Familien von Alleinerziehenden, wie er im Interview berichtet.

rbb|24: Herr Leitzke, die Bertelsmann-Studie zeigt, dass Kinder und Jugendliche heutzutage häufig das Gefühl haben, einsam zu sein. Bekommen Sie das bei Ihrer Arbeit mit Kindern auch so mit?

Norbert Leitzke: Ich erlebe immer wieder Kinder, die mit ihren Eltern über Probleme, Sorgen, Ängste und Nöte nicht reden, weil die Eltern keine Zeit haben. Frankfurt ist zum Beispiel eine Kommune mit einer sehr hohen Zahl an Alleinerziehenden. Eine Mutti, die alleinerziehend ist mit zwei, drei Kindern und vielleicht noch arbeiten geht, muss den Haushalt schmeißen und sich um die kleineren Kinder kümmern. Da bleibt dann die Zeit, um wirklich längere Gespräche zu führen, auf der Strecke.

Liegt das auch daran, dass die Familien heute oft gar keinen Familienverband mehr um sich haben, dass die Eltern ganz ohne Oma und Opa, ohne Onkel und Tante auskommen müssen?

Wir haben hier in Frankfurt ein besonderes Problem. Viele Menschen sind weggezogen. Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Aderlass gehabt. Da sind Familien wirklich regelrecht zerrissen worden. In Frankfurt sind Großbetriebe geschlossen worden. Die Väter mussten sich dann um eine andere Arbeit bemühen, die sie nicht in Frankfurt gefunden haben. Da gab es auch einen Riss in der Familie. Darunter leiden dann besonders Kinder, weil sie beide Eltern brauchen. Sie brauchen Gesprächspartner, mit denen sie sich über ihre ganzen Dinge einfach mal austauschen können. Ich merke das selbst. Ich war jetzt am Sonntag erst in Lebus, habe mich dort mit zwei ehemaligen Ferienlager-Kindern getroffen, und wir haben zwei Stunden über Gott und die Welt geredet und über alles, was im Moment so ansteht.

Ist die Welt vielleicht auch für Kinder ein bisschen komplizierter und undurchsichtiger geworden?

Ich nehme zur Kenntnis, dass sich viele Jugendliche ein bisschen in ihre eigene Welt zurückgezogen haben. Früher, also zu meiner Zeit, haben wir auf dem Zaun gesessen und uns unterhalten. Heute hast du dein Handy, da schickst du Whatsapp-Nachrichten. Wenn dich jetzt jemand nicht besonders leiden kann, wird das dann noch irgendwo veröffentlicht, wird bei Tiktok eingestellt. Da gibt es die dollsten Dinge, mit denen man auch mal so eine Jugendliche oder einen Jugendlichen richtig bloßstellen kann.

Also zieht er sich in seine eigene Welt zurück und bleibt dann auch lange da drin. Und wenn dann keiner da ist, der das mitbekommt, dann entsteht eben so etwas wie Einsamkeit. Bei alten Leuten war Einsamkeit bis jetzt immer normal, wenn der Partner gestorben ist. Da ist es dann schon sehr kompliziert. Aber mittlerweile nehme ich auch zur Kenntnis, dass es bei Jugendlichen nicht viel anders ist.

Es kostet natürlich sehr viel Mut, aus seiner Einsamkeit herauszukommen. Ist der erste Schritt das größte Problem auf dem Weg aus der Einsamkeit?

Ja, ich denke schon. Ganz wichtig für Jugendliche ist es, eine Vertrauensperson zu haben. Also dass man einfach das Vertrauen hat: Wenn ich mit dem darüber rede, dann bleibt es auch bei dieser Person. Wenn ich mir aber die Entwicklung der Sozialarbeit anschaue, dann ist die mit dem Zuwachs an Menschen in unserem Land nicht mitgewachsen. Sie ist auf der Strecke geblieben, genau wie das Bildungswesen. Wir haben übervolle Klassen. Wir haben kaum Lehrer, die noch Zeit haben, sich auch mal mit sogenannten "Problemkindern" zu beschäftigen. Dass man mal jemand beiseite nimmt und ihm sagt: Pass mal auf ich habe als Lehrer zur Kenntnis genommen, dass deine Leistungen ganz schön abgesackt sind. Gibt es da einen Grund? Gibt es eine Ursache? Aber nein, da wird es dann mit Noten ausstaffiert und das Problem bleibt so, wie es vorher war.

Das ist da wahrscheinlich auch nur die Oberfläche. Wenn so wenige Sozialarbeiter da sind, werden die Probleme, die dahinter lagern, vielleicht noch nicht richtig erkannt. Ist Einsamkeit noch nicht als großes Problem anerkannt?

Naja, es ist jetzt Thema geworden, weil die Kinder- und Jugendpsychiatrien gerammelt voll sind. Also ich habe selbst Kinder begleitet, die hier im Klinikum auf der Nervenstation lagen oder Kinder die psychologisch betreut worden sind. Diese Fälle nehmen zu. Wir haben die Tagesangebote erweitern müssen, weil wir für diese Fälle nicht mehr genügend Betten haben und alles so Geschichten. Da hängt ja so ein Rattenschwanz dran. Und jetzt ist es mittlerweile so weit, dass sprichwörtlich die Kacke am Dampfen ist, dass man jetzt reagiert. Das Traurige ist bloß, dass man immer erst dann reagiert, wenn genug Problemfälle auf dem Tisch liegen.

Dabei muss man doch strategisch arbeiten. Wenn ich mir Leute ins Land hole, muss ich irgendwann bestimmte Dinge einfach mitdenken und erweitern. Da sind wir wieder bei der Bildungspolitik und bei der Sozialarbeit. Und das fällt uns überall auf die Füße im Moment. Das bringt dann natürlich wieder den Unmut bei der Bevölkerung hervor. Wir können ja nicht mal mehr medizinisch alles abdecken, was an Problemfällen da ist. Von der Kinderpsychologie will ich gar nicht erst reden. Da gibt es noch viel mehr Probleme.

Wenn wir nochmal einen Schritt weggehen von den schwerwiegenden Fällen zu den Anfängen von Einsamkeit, zu den Regeln des Zusammenlebens, zum Knüpfen von Kontakten - also den ganz normalen zwischenmenschlichen Dinge. Wenn wir auf dieser Ebene bleiben: Kann man da noch irgendwo eingreifen? Was kann man den jungen Leuten raten, was sie tun können?

Schwierig. Wenn wir hinbekommen, dass Erwachsene Menschen mehr Präsenz gegenüber den Kindern zeigen und da sind - also, dass man einfach als Kind, als Jugendlicher weiß, mit dem kann ich reden und der sorgt dafür, dass es mir hinterher vielleicht besser geht oder der hilft mir ein Problem zu lösen, dann haben wir schon einiges erreicht.

Und wir müssen natürlich auch an Eltern ran. Denn die Eltern sind die wichtigsten Leute. Ich glaube, da muss wirklich etwas passieren. Wie erreiche ich Eltern, die sich vom gesellschaftlichen Leben verabschiedet haben und isoliert sind? Ich muss mich also damit beschäftigen, wie ich Alleinerziehende wieder integriert bekomme. Alleinerziehenden sind in der Regel Frauen, die wenig Geld verdienen, weil sie aufgrund der Alleinerziehenden-Problematik keinen festen Job bekommen. Die sind irgendwo im Billiglohn-Sektor angesiedelt. Da ist finanziell so ziemlich alles im Argen. Da kann die Klassenfahrt teilweise nicht bezahlt werden. Da bleibt man bei Kinderfesten zu Hause, da lädt man kein Kind zum Kindergeburtstag ein. Da findet die Jugendweihe kaum statt oder man meldet das Kind gar nicht an. Man muss auch gesellschaftlich mal darüber nachdenken, wie man diese Menschen wieder integriert bekommt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Norbert Lietzke führte Martina Rolke für Antenne Brandenburg.

Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung.

Sendung: Antenne Brandenburg, 18.06.2024, 16:00 Uhr

Nächster Artikel