Arbeitsmarkt - Wie Gehörlosen der Jobeinstieg erschwert wird
Gehörlose haben es schwer mit dem Jobeinstieg. Allein schon die Bewerbung ist für sie oft voller Hürden. Künstliche Intelligenz könnte helfen. Doch Gehörlose sehen ihre Belange bei der Entwicklung auch hier kaum beachtet. Von Jonas Wintermantel, Helena Daehler, Jenny Barke
Stolz stellt Lukas Rudnick das Prüfungsstück seiner Ausbildung vor: Ein Teespender aus Holz, den er nach einem vorgegebenen Montageplan bauen musste. Acht Stunden hat er dafür vermessen, zugeschnitten, geschliffen. Drei Jahre hat er für diese Abschlussprüfung gelernt und gearbeitet, nun ist er ausgebildeter Tischler. Ein großer Erfolg, aber auch erstmal ein Punkt in seinem Leben, der für Unsicherheit sorgt. Denn Lukas ist gehörlos und gehörlose Menschen haben es aus unterschiedlichsten Gründen schwer beim Jobeinstieg.
Oft werden sie gar nicht erst zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Hörbehinderte Menschen haben theoretisch einen Rechtsanspruch auf gedolmetschte Sprache in diesen Gesprächen. Allerdings: Laut Deutschem Gehörlosen-Bund sind in Deutschland etwa 83.000 Menschen gehörlos, für sie gibt es aber nur 800 Dolmetscher:innen. Die Landesdolmetscherzentrale spricht von einer Wartezeit von vier bis sechs Wochen für die Vermittlung in Berlin und Brandenburg.
In Berlin gelten 4.021 Menschen als gehörlos, in Brandenburg 2.398. Doch die Dunkelziffer dürfte höher liegen, weil sich einige Menschen laut Gehörlosenverband dagegen entscheiden, einen dafür nötigen Schwerbehindertenausweis ausstellen zu lassen.
Verständnisprobleme bei Behördensprache
Vor zwei Wochen hat Lukas seine Tischler-Prüfung an der TU Berlin bestanden und ist jetzt auf Jobsuche. Beim Bewerbungsschreiben bekommt der 21-Jährige Hilfe von seiner Oma: "Wir haben schon fünf Bewerbungen verschickt und bisher noch keine Antworten erhalten", kommuniziert Lukas mit Hilfe der Gebärdensprache, Oma Beate Löffler übersetzt seine Antwort ins mündliche.
Sie hat ihn bei seinem ganzen bisherigen Ausbildungsweg begleitet. Auf die reguläre Berufsschule konnte er wegen seiner Behinderung nicht gehen. Für die theoretische Ausbildung musste er zweimal im Ausbildungsjahr jeweils für sechs Wochen in ein Internat nach Essen fahren. Dort gibt es die einzige Berufsschule Deutschlands, die Unterricht für gehörlose Azubis anbietet. Dadurch hat Lukas bereits während der Ausbildung seine Kolleg:innen in Berlin nicht kennengelernt. Ein Beispiel dafür, dass Inklusion nach wie vor nicht der Normalfall ist. Dadurch fehlt vielen Arbeitgeber:innen auch der Perspektivwechsel, um Bedürfnisse der Gehörlosen zu erkennen und darauf einzugehen.
Beate hat dafür ein konkretes, aktuelles Beispiel bei der Jobsuche ihres Enkels. Lukas verstehe die behördliche Sprache vieler Bewerbungsangebote nicht, erklärt sie mündlich und übersetzt für Lukas in Gebärdensprache: "Es gibt viele schwere Wörter, die Lukas nicht versteht. Dann helfe ich, indem ich es ihm erkläre. Aber auch das ist manchmal schwer zu übersetzen." Das macht es für gehörlose Menschen im Umgang mit Ämtern immer schwer.
Ein Monat Wartezeit für Dolmetscher:innen
Denn was vielen Unternehmen nicht bewusst ist: Für viele bürokratische Wortungetüme gibt es in der Gebärdensprache keine angemessene Übersetzung. Somit fehlt Gehörlosen oft das Vokabular. Gebärdensprache (DGS), die seit 2002 als eigenständige Sprache anerkannt ist, folgt einer eigenen Grammatik und Syntax. Die DGS hat einen Gebärdenwortschatz von etwa 19.000 Begriffen - um ein Vielfaches geringer als der Deutsche Wortschatz.
Im Alltag könnten gehörlose Menschen deshalb oft Dolmetscher:innen gebrauchen, sei es bei der Fahrschule, in Konferenzen, bei Vertragsverhandlungen. Doch es ist nicht nur schwer, einen Dolmetscher zu bekommen. Hinzu kommt der organisatorische Aufwand: Die Kosten werden zwar von Behörden übernommen, aber das muss beantragt werden - mal bei der Agentur für Arbeit, mal bei den Integrations- und Inklusionsämtern, mal bei der Deutschen Rentenversicherung.
Und selbst wenn gehörlose Menschen Dolmetscher:innen organisieren, werden sie oft mit den Berührungsängsten der potenziellen Arbeitgeber konfrontiert. So wie Juliana Schmidt. Die 24-Jährige wollte nach dem Abitur eine Ausbildung als Bank- oder Bürokauffrau machen. Beim Bewerbungsprozess hat sie sich diskriminiert gefühlt. Mit Hilfe einer Gebärdendolmetscherin erklärt sie: "Ich habe Bewerbungen verschickt, bei denen ich direkt in den Lebenslauf reingeschrieben habe, dass ich gehörlos bin. Keine Antwort."
Nach mehreren gescheiterten Versuchen ließ sie das "gehörlos" weg und wurde eingeladen. "Ich habe dann einen Dolmetscher für das Bewerbungsgespräch organisiert. Dann haben sie beim Gespräch gefragt: 'Was macht denn diese Person da?'" Das sei ein kurzer Schock für die Arbeitgeber gewesen. Obwohl die Schwerbehindertenvertretung dabei gewesen sei, habe man ihr geraten, sich wegen des langen und komplizierten Einstellungsverfahrens lieber im darauffolgenden Jahr wieder zu bewerben.
Dabei sind alle öffentlichen und privaten Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, wenigsten fünf Prozent davon mit - so im Sozialgesetzbuch SGB formuliert - "schwerbehinderten Menschen" zu besetzen. Doch statt Menschen mit Behinderung einzustellen, zahlen viele Firmen lieber Strafen. Solche sogenannten Ausgleichsabgaben von 125 bis 320 Euro pro Monat sind eigentlich dafür gedacht, Firmen zu motivieren, behinderte Menschen einzustellen.
"Taub" - unter jungen Gehörlosen wieder Eigenbezeichnung
Juliana selbst bezeichnet sich als "taub", lange unter gehörlosen Menschen ein Tabu-Wort, das die meisten als stigmatisierend empfinden. Junge gehörlose Menschen nutzen es nun wieder häufiger - eine Gegenbewegung, die sich von der veralteten, einstmals diskriminierenden Bezeichnung "taubstumm" abzuheben. Im Gegensatz zum Begriff "gehörlos" würde so nicht schon der Mangel im Wort impliziert, erklärt Silvia Gegenfurtner auf E-Mail-Anfrage des rbb, selbst taub und als Sozialarbeiterin bei der Antidiskriminierungsstelle "taub*jung*diskriminiert" vom Träger DGJ e.V.
Ob taub oder gehörlos: Um Kommunikationsbarrieren und Berührungsängste abzubauen, könnte die Technik helfen, empfiehlt Gegenfurtner: "Unternehmen sollten textbasierte Kommunikationsmethoden wie E-Mail, Chatprogramme oder Videoanrufe mit Untertitel-Software bereitstellen oder Video-Programme wie Zoom mit automatischen UT, um barriereärmere Kommunikation zu gewährleisten", schreibt sie.
Avatar-basierte KI zur Übersetzung von Gebärdensprache
Zudem gibt es inzwischen erste KI-Programme, die bei der Übersetzung von Gebärdensprache und Lautsprache helfen sollen. Die Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen, hat aber großes Potenzial. Die größten Forschungsprojekte, unter anderem der Universität Münster, fokussieren sich dabei auf die Entwicklung von Avataren zur Übersetzung. Denn Untertitel allein seien kein Übersetzungsersatz, erklärt die Medienwerkstatt Franken, die eines der Avatar-basierten Projekte entwickelt. Gebärdensprache "wird von gehörlos oder stark schwerhörig geborenen Menschen im Vergleich zum Lautsprachbegleitenden Gebärden meist bevorzugt und in Deutschland je nach Schätzung von rund 250.000 Menschen benutzt", heißt es auf der Seite.
Doch die Community steht den Entwicklungen teilweise skeptisch gegenüber. Einerseits seien Gebärdensprachen-Avatare eine "große Chance", schreibt der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. in einer Mitteilung. Doch Avatare könnten Dolmetscher nicht pauschal ersetzen. Es sei notwendig, ethische Standards für den Einsatz der KI zu entwickeln.
Die größte Kritik des Gehörlosen-Bunds und von anderen Gehörlosen-Vereinen: Bei der Forschung seien keine gehörlosen Menschen eingebunden worden. So sei - mal wieder - über sie hinweg entschieden worden, statt von ihren Erfahrungen zu profitieren. "Die Hürde beim Einsatz von Gebärdensprache-Avataren ist die Schriftsprache, bisher Ausgangspunkt aller Forschungsprojekte. Dabei ist die Gebärdensprache eine visuelle Sprache", erklärt Ralph Raule, selbst gehörloser Beauftragter für Medien und Digitalisierung des Deutschen Gehörlosen-Bunds.
Gehörlosen-Bund rät von KI ab
Das Kompetenzzentrum Gebärdensprache Bayern, Kogeba e.V., kritisiert wörtlich die "mangelnde Einbindung neutraler tauber Expert*innen ohne kommerzielle Bindung sowie fehlende Qualitätssicherung in der Entwicklung von Avatar-Technologien". Und auch der Gehörlosen-Bund schreibt, dass die auf dem deutschen Markt befindlichen Avatare "zum großen Teil nicht verständlich" seien und den "translatorischen Anforderungen" nicht genügen. Der Bund rate deshalb "dringend vom Einsatz dieser Avatare ab".
Solange sich weder Unternehmen offener zeigen, gehörlose Menschen barrierefrei in Bewerbungsverfahren aufzunehmen und einzustellen, so lange die KI noch nicht den Anforderungen gehörloser Menschen genügt, solange wird das Arbeitsleben für sie schwierig bleiben. Der Einstieg kann gelingen, mit hilfsbereiten Menschen in der Umgebung, mit Durchsetzungswillen und Resilienz.
Lukas Rudnick ist zuversichtlich, bald als Tischler einen Job zu finden. Juliana Schmidt arbeitet inzwischen als unausgebildete Cutterin, wegen der erfahrenen Diskriminierung. "Ich wünsche mir, dass Taubheit für alle selbstverständlich wird, dass es selbstverständlich ist, was taub sein bedeutet, was für einen Bedarf taube Menschen haben."
Sendung: Brandenburg Aktuell und Abendschau, 28.09.2024, 19:30 Uhr