Interview | Soziologin Teresa Koloma Beck - "Es wird nicht nochmal so wie vor Corona"
Die Änderungen durch Corona waren teils gravierend. Inzwischen aber haben sich einige der neuen Gewohnheiten etabliert. Soziologin Teresa Koloma Beck erklärt, was bleiben könnte, wovon es abhängt und inwiefern Ostdeutsche besonders empfindlich sind.
rbb|24: Guten Tag, Frau Koloma Beck. Was denken Sie: Wird es nochmal so wie vor Corona?
Teresa Koloma Beck: Da man nie zwei Mal in denselben Fluss steigen kann, kann man sowieso niemals zurück in ein früheres Stadium gesellschaftlicher Entwicklung. Es wird nicht nochmal so wie vor Corona. Genau wie in anderen Jahren: 2018 war nicht noch einmal so wie 2017. Zweifellos ist die Pandemie aber eine einschneidende Erfahrung. Sowohl in der persönlichen Biografie als auch in der gesellschaftlichen Entwicklung.
Es haben sich während der fast dreijährigen Corona-Zeit viele neue Verhaltensmuster eingeschlichen. Man denke nur daran, wie selbstverständlich man früher Fremden die Hand gegeben hat. Lange Zeit wurden dann nicht einmal mehr die besten Freunde umarmt. Und: Vieles im Leben passiert heute digital – selbst wenn es auch im echten Leben wieder möglich wäre. Wie beispielsweise das Arbeiten im Homeoffice. Was davon wird bleiben?
In der Soziologie nennt man solche eingespielten, routinisierten Verhaltensweisen Gewohnheitsstrukturen. Und diese sind immer veränderlich und beweglich. Es kann also immer etwas Neues entstehen und hinzukommen. Was davon sich stabilisiert, hängt von den Entwicklungen im Kontext ab. Also davon, wie gut das, was man sich neu angewöhnt hat, weiterhin zu den Kontextbedingungen passt. Wenn man wissen will, welche Gewohnheitsstrukturen aus der Corona-Zeit bleiben, geht es eigentlich darum zu schauen, welche auch jenseits der Pandemie zu unserem gesellschaftlichen Kontext passen.
Da ist das Homeoffice ein gutes Beispiel. Meine Beobachtung ist, dass an vielen Stellen aus der Homeoffice-Welt gar nicht mehr so richtig zurückgekehrt wird. So dass Unternehmen teils auch dazu übergehen, gar nicht mehr so viele Arbeitsplätze vorzuhalten. Das hat aber auch damit zu tun, dass in vielen Großstädten die Mieten sehr teuer sind. Da passt das jetzt vielleicht nicht mehr aus Pandemiegründen besonders gut, wenn die Mitarbeitenden nicht mehr alle im Büro sind, sondern aus Gründen der Unternehmensökonomie. Wie das dann mittel- und langfristig das Arbeits- und das Privatleben verändert, wird sich erst mit der Zeit zeigen.
Was von den neuen Verhaltensweisen ist gut? Was schlecht? Oft hat das Gute eine negative Seite. Das Homeoffice spart beispielsweise enorm Wegzeit, man ist aber auch immer erreichbar seither.
Das ist schwierig zu beantworten. Denn die primäre Aufgabe der Sozialwissenschaften liegt darin, Dinge erst einmal zu beschreiben, zu verstehen, zu rekonstruieren und zu erforschen. Die Bewertung ist erst der nächste Schritt. Und diese Bewertungen finden dann auch nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie beziehen sich immer auf irgendetwas. Und es gibt Dinge, die im persönlichen Erleben vorteilhaft sind, die aber gesellschaftlich gesehen eher problematisch sind. Oder umgekehrt.
Ob Veränderungen gut oder weniger gut sind, hängt auch davon ab, inwiefern ein Mensch selbst von der Pandemie betroffen gewesen ist. Viele erleben jetzt das Nicht-mehr-Maske-tragen-müssen oder die Lockerungen von Abstandsgeboten als eine große Befreiung. Also als eine positive Veränderung. Diejenigen, die sich vor dem Coronavirus noch immer sorgen, weil sie vielleicht ein eingeschränktes Immunsystem haben, erleben das natürlich ganz anders. Da gibt es kaum allgemeine Antworten.
Inzwischen weiß man, dass insbesondere Kinder und Jugendliche, die sich ja während der Kontaktbeschränkungen in wichtigen Entwicklungsphasen befanden, teils wirklichen Schaden genommen haben. Wann wird eine Gesellschaft diese Veränderungen kompensiert haben? Oder haben wir jetzt eine Art Delle bei einer ganzen Generation?
Die Frage geht davon aus, dass es so etwas gibt wie eine Normalität von biografischer Entwicklung, die sich in einem stabilen Umfeld ereignet. Dass man diese Vorstellung – also dass es eine Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu Erwachsenen gibt, die man für eine empirische Normalität hält - überhaupt entwickeln konnte, ist eine Art historischer Sonderfall. Also dass sich im Nachkriegs-Westeuropa diese Vorstellung konsolidieren konnte, dass Kinder und Jugendliche im Normalfall so oder so aufwachsen. In der meisten Zeit der Menschheitsgeschichte mussten auch junge Generationen mit disruptiven Ereignissen umgehen. Es gab diese idealen Biografieverläufe, die man in unserem Teil der Welt derzeit für normal hält, die meiste Zeit nicht.
Ich sage das nicht um kleinzureden, welche Belastungen diese Zeit auf der individuellen Ebene für Kinder und Eltern erzeugt hat, sondern weil ich es problematisch finde, wenn man über diese Generation wie über eine defekte Generation spricht. Das scheint mir zum gegebenen Zeitpunkt kein produktiver Diskurs. Zumal die Kinder und Jugendlichen angesichts von Klimawandel und Krieg ohnehin vor einer problematischen Zukunft stehen.
Seit Corona ist viel von Resilienz die Rede. Wer muss resilient sein - der einzelne oder die Gesellschaft? Und wie wird man resilient – also widerstandsfähig?
Resilienz ist auf der individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene wichtig. Interessant finde ich, sich zu überlegen, was das mit der Bevölkerung im Rahmen einer Pandemie und anderen Notlagen oder Ausnahmesituationen macht, wenn der Staat von Einzelpersonen fordert, sich resilienter zu machen. Damit ist weniger der psychologische Aspekt von Resilienz gemeint, sondern es geht um bestimmte Formen des Vorbereitet-Seins. Beispielsweise geht es um Bevorratung. Dass man also genügend Wasser im Haus haben sollte für eine bestimmte Anzahl von Tagen und so weiter. Das sind einerseits wichtige Forderungen. Denn man hat während der Pandemie gesehen, dass es während einer so krassen Ausnahmesituation unmöglich ist, dass der Staat sich um alle Probleme gleichzeitig kümmern und für alle Menschen gleichermaßen Verantwortung übernehmen kann. Und selbst wenn er es könnte, müsste man sich fragen, ob man so einen Staat wollen würde. Einen, der einem so weit in das Leben hineinregiert.
Andererseits verändert es die Vorstellung des Verhältnisses von Bürger und Staat im deutschen Kontext grundsätzlich, wenn der Staat dazu übergeht zu sagen, dass es bestimmte Dinge gibt, um die sich die Bürger selbst kümmern sollen. Plötzlich können sich die Bürger nicht mehr darauf verlassen, dass der Staat sich einer Notlage um alles kümmert.
Deutschland, gerade Westdeutschland, war ja durch ein relativ hohes Staatsvertrauen charakterisiert. Ganze Generationen sind aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass staatliche und öffentliche Institutionen auffangen, was schiefgeht. Dieses Staatsvertrauen ist ein wichtiger Träger demokratischer Institutionen.
Wenn der Staat jetzt aus guten Gründen sagt, die Bürger müssen ein bisschen mehr Eigenverantwortung zeigen, dann verändert das das Verhältnis. Es wird nicht zwangsläufig Misstrauen gegenüber dem Staat erzeugen, aber die enge Bindung löst sich etwas. Auch in diesem Sinne wird es nicht mehr so wie vor Corona.
Befinden wir uns seit Corona – und mit dem hinzugekommenen Ukraine-Krieg und der fortschreitenden Klimaveränderung - in einer Zeitenwende? Geprägt von Verlusterwartungen und -erfahrungen? Was ist mit dem oft beschworenen Vertrauen in die Zukunft?
Wenn man den Begriff der Zeitenwende sehr breit verwendet, übersieht man, dass diese Art von disruptiven Ereignissen - wie der Corona-Pandemie oder dem Ukraine-Krieg – zwar für viele Menschen in der eigenen Biografie eine Art Zeitenwende darstellt. Denn sie werden das erste Mal mit einer derart disruptiven Situation konfrontiert. Doch für viele andere Menschen gilt das so nicht. Ob es sich um eine Zeitenwende handelt, lässt sich auch wieder nur vor dem Hintergrund von Biografien – von Gruppen oder auch Einzelnen – beantworten. Menschen, die beispielsweise aus Kriegsgebieten hierher geflüchtet sind, erleben sowohl die Pandemie als auch den Ukraine-Krieg anders. Der Begriff der Zeitenwende, wenn man mit ihm auf eine Lebenserfahrung abzielt, gilt immer nur für einen Teil der Bevölkerung.
Was das Vertrauen in die Zukunft angeht, war die Pandemie für viele, die in der Bundesrepublik aufgewachsen sind, der Erstkontakt mit einer Seite des Staates, die sie vorher nicht kannten. Nämlich mit einem Staat, der mit seinen Regeln, Gesetzen und Forderungen relativ weit in persönliche Bereiche eingegriffen hat und Menschen relativ kompromisslos dazu genötigt hat, bestimmte Dinge, wie das Tragen einer Maske, zu tun. Das war nicht verhandelbar. Dass der Staat bis ins Privatleben hinein interveniert, war für viele Menschen etwas Neues, das teils auch als ungewohnt und unheimlich erlebt wurde.
Sie haben mehrfach angesprochen, dass sich die Situation für Menschen, die in der Bundesrepublik sozialisiert wurden, anders gestalten könnte als für Menschen, die in der DDR groß geworden sind. Welche Unterschiede sehen Sie da?
Die Generationen, die durch eine Sozialisation in der DDR geprägt sind, haben Vorerfahrungen mit einem Staat, der in private Lebensbereiche interveniert. Das war natürlich ein ganz anderer Staat als der heutige. Der hatte andere Ziele und war auch keine Demokratie. Trotzdem sind auf der Ebene der Alltagserfahrungen bisweilen persönliche Resonanzen entstanden mit einem ganz anderen politischen System, das historisch noch nicht so weit zurückliegt. In Ostdeutschland gibt es eine Erfahrung mit autoritärer Politik und deshalb gibt es eine größere Empfindlichkeit gegenüber politischen Interventionen, die man irgendwie als autoritär labeln kann. Daher ist das Skandalisierungs- und das Eskalationspotenzial in Konflikten noch einmal deutlich größer als in anderen Teilen Deutschlands.
Das ist bei in der Bundesrepublik aufgewachsene Menschen meist anders. Dennoch gibt es auch hier manchmal ein regionalspezifisches Skandalisierungs- und Eskalationspotenzial, aber aus anderen Gründen. Im Corona-Protestgeschehen hat man gemerkt, wie wichtig regionale Vorerfahrungen mit Konflikten sind. In Süddeutschland beispielsweise hat man natürlich keine DDR-Erfahrung, aber für viele war die Erfahrung mit Stuttgart21 – also der Widerstand gegen diesen Bahnhof – eine einschneidende politische Erfahrung. Das war dann auch während der Corona-Pandemie ein wichtiger Bezugspunkt im Protestgeschehen. Es ist also nicht so, dass in Ostdeutschland etwas ganz Außergewöhnliches passiert. Sondern überall dort, wo sehr stark protestiert wurde, bezog man sich auf vorherige spezifische Erfahrungen mit dem Staat, die man als problematisch erlebt hat.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24