Etwa jedes vierte Kind in Berlin von Armut bedroht - Abgehängt
Jedes vierte Berliner Kind gilt als armutsgefährdet. In den vergangenen sechs Jahren sollte eine Kommission die Lage verbessern, ihre Konzepte aber blieben vage und Fördergelder wurden nicht abgerufen. Von Bernadette Huber
Als der weiße Kleintransporter auf das Straßenrondell vor der Gesamtschule in Marzahn-Hellersdorf biegt, sitzen schon 13 Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren auf dem Bürgersteig in der Sonne. Sie sehen den Transporter mit der bunten Seitenaufschrift, springen auf und begrüßen den aussteigenden Florian. Er ist heute hier, um sie alle von der Schule abzuholen und zur Arche in Berlin-Marzahn zu fahren. Der Sportpädagoge arbeitet hier als Sozialarbeiter.
Jeden Tag versorgt die Arche um die 300 Kinder aus der Nachbarschaft. Sie bekommen etwas zu essen, können spielen oder erhalten Hilfe bei ihren Hausaufgaben. Hier können sich Kinder nach der Schule aufhalten "einfach, um einen schönen Nachmittag zu verbringen", sagt Florian. Viele der Kinder kommen aus Familien mit sehr begrenzten Möglichkeiten. Florian beschreibt die Lage in einigen Familien als problembelastet.
Arche macht Angebot für Kinder und Eltern
Während sich die Schulkinder Anthea und Amalia neue Sommerschuhe in der sogenannten Schatzkiste, einer Art Kleiderkammer, aussuchen, erzählt Florian, woran es zu Hause außer dem Geld für die neuen Schuhe noch fehlt: "Ich würde sagen ganz elementar: Liebe, was Nettes sagen, die Kinder gerne haben, ihnen zuhören, Zeit mit ihnen verbringen - das fehlt den Kids."
Die Arche bietet Kindern Beschäftigung. Die Mitarbeitenden prüfen nicht, ob jemand nach behördlicher Definition "arm" ist. Die Kinder kommen und gehen, wann sie wollen, außer die Eltern sprechen etwas anders mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab. Ziemlich bürokratiearm. Zu manchen Eltern ist der Kontakt des Arche-Personals enger, zu anderen loser. Zweimal im Monat gibt es ein Frühstück nur für die Eltern, bei denen zum Beispiel über Medienkonsum oder Zahnhygiene gesprochen wird.
Etwa jedes vierte Kind von Armut bedroht
Gesundes Essen, ein Gefühl von Sicherheit, Chancen zur kreativen Entfaltung, echte Anerkennung und Liebe – das braucht jedes Kind für eine möglichst gesunde Entwicklung. Was simpel klingt, ist, wie alle Eltern wissen, eine Herausforderung. Selbst, wenn man genug Geld zur Verfügung hat. Wenn auch noch das Geld fehlt, wird es noch schwieriger, Kindern zu geben, was sie brauchen.
Armutsgefährdung wird über das Median-Einkommen der Gesamtbevölkerung definiert – also über den Wert, der in Mitte steht, wenn man alle Einzelwerte einer Gruppe der Größe nach in einer Reihe ordnet. Der Median gilt als belastbarer, weil besonders extreme Werte am unteren und oberen Ende nicht das Gesamtbild verzerren können. Diese Werte werden bei der Bestimmung des Medians gestrichen.
Leben Kinder oder Jugendliche in einer Familie, der weniger als 60 Prozent dieses Median-Einkommens zur Verfügung stehen, gelten sie als armutsgefährdet. Für Alleinerziehende mit einem Kind lag dieser Wert in Deutschland im Jahr 2021 bei 1.489 Euro [der-paritätische.de]. Lag das Nettoeinkommen aus Gehältern und Sozialleistungen dieser Familien niedriger, gelten sie als armutsgefährdet. Für Familien bestehend aus zwei Erziehungsberechtigten und zwei kleinen Kindern waren es 2.405 Euro.
Kinderarmut ist Familienarmut
In Berlin ist etwa jedes vierte Kind von Armut bedroht. Seit 1996 schwankt die sogenannte Armutsgefährdungsquote von Kindern und Jugendlichen hier zwischen 21 und 29 Prozent. 2021 lag die Kinderarmutsquote in der Hauptstadt bei 23,3 Prozent, bundesweit waren es 20,8 Prozent.
Dass die Lage in Berlin besonders angespannt ist, zeigt ein weiterer Wert: 2020 lebten in Berlin 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in einem Haushalt, der auf Sozialleistungen angewiesen ist. Besonders dramatisch ist die Lage in den Bezirken Neukölln, Mitte und Spandau. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage der Linken [parlament-berlin.de] hervor. Der Bundesschnitt liegt bei etwa 12 Prozent.
Laut dem Landesamt für Statistik sieht die Lage in Berlin generell eher ungünstig aus. In knapp einem Drittel der Familien sind Alleinerziehende für das Einkommen verantwortlich. Generell gibt es in Berlin mehr Alleinerziehende als unverheiratete Paare mit Kindern. Es gibt mehr Geringqualifizierte als im Rest der Republik und deutlich mehr Familien mit Migrationsgeschichte. [alle statistik-berlin-brandenburg.de] Sie alle sind mit höherer Wahrscheinlichkeit von Armut betroffen.
Vernetzung – aber wie genau?
Seit einigen Jahren widmet sich die "Kommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut" in Berlin dem Thema. Sie wurde vom Senat eingesetzt und soll sicherstellen, dass Kinder aus armen Familien nicht abgehängt werden. 2017 wurde die Kommission eingerichtet. Der Anteil armutsgefährdeter Kinder hat sich seitdem kaum verringert. Ein neuer Zwischenbericht des Senats zeigt, dass die Kommission nicht einmal alle finanziellen Mittel abruft, die ihr zur Verfügung stehen. Auch die formulierten Ziele sind kaum konkreter geworden.
2021 hatte die Kommission die "Berliner Strategie gegen Kinderarmut" herausgebracht. Darin steht, man wolle eine "an den strategischen Zielen ausgerichtete Unterstützungsstruktur für Kinder und Jugendliche implementieren, die langfristig und wirksam Armutsfolgen verringert". Wie diese Strukturen konkret aussehen sollen? Welche Einrichtungen sie anbieten oder umsetzen sollen? Oder wann das geschehen soll? All diese Fragen beantwortet das Strategiepapier nicht.
Als strategische Ziele werden zum Beispiel Freizeitangebote genannt, Sprachkompetenzen, gesunde Ernährung und die Chance auf den bestmöglichen Schulabschluss. Auch die familiäre Struktur ist bedacht: Unterstützung bei der beruflichen Situation der Eltern, als auch Unterstützung für eine geeignete Wohnung sind Teil der Berliner Strategie. Umgesetzt werden soll all das durch Kooperationen von Bezirks- und Landesverwaltungen.
Mittel kaum genutzt
Eine halbe Million Euro wird der "Kommission zur Armutsprävention" pro Haushaltsjahr vom Berliner Senat zur Verfügung gestellt. 2022 wurden davon lediglich 28.000 Euro abgerufen. Der Rest des Geldes ist verfallen - nach Ende des Haushaltsjahres 2022 durfte die Kommission es nicht mehr abrufen.
16.000 Euro der 28.000 Euro gingen direkt an die Bezirke Lichtenberg und Reinickendorf (je 8.000 Euro). Sie wären laut Senatsverwaltung die einzigen Bezirke gewesen, "da dort bereits Grundlagen für eine strategische Armutsprävention gelegt waren". Die Mittel wurden nach ein Kurzprofil und einem Erstgespräch ausgezahlt.
Der Rest der abgerufenen 28.000 Euro wurde nach Aussage der Verwaltung vor allem für einen Fachtag, die Veröffentlichung einer Expertise und zur Unterstützung der bezirklichen Koordinationsstellen verwendet. Theoretisch stand das Geld allen zwölf Bezirken zur Verfügung.
Die Zahlen aus dem aktuellen Zwischenbericht für das Haushaltsjahr 2023 zeigen: Bis Mitte März 2023 wurden von der Kommission von der diesjährigen halben Million keine 500 Euro ausgegeben.
Wie kommt die Hilfe am besten ans Ziel?
Doch es gibt Unterstützung für armutsbedrohte Familien. Nur: "Die Eltern wissen oft gar nicht, welche Hilfe es von außen noch gibt", sagt Florian, der Pädagoge von der Arche in Marzahn-Hellersdorf. Das Nichtwissen reiche von Wohngeld bis hin zu kostenfreien Freizeitangeboten. Er schlägt vor, das Schulen die Eltern darüber aufklären könnten und ein guter Ort für die angestrebte Vernetzung seien.
Laut dem zuständigen Bezirksstadtrat gibt es in Marzahn-Hellersdorf an etwa einem halben Dutzend Kitas bereits Sozialarbeiter:innen, die sich ausschließlich mit den Eltern beschäftigen. Die Bezirke bekommen das Geld dafür vom Senat – projektbezogen.
Auf Anfrage von rbb|24 teilt die Senatsverwaltung für Jugend mit, dass die Zugänge zu Leistungen und Angeboten passgenauer und niedrigschwelliger werden müssten. Auch müssten Informationen leichter verständlich, mehrsprachiger und schneller verfügbar gemacht werden. Dazu müssten sich Bund, Länder und Bezirke aber noch besser abstimmen. Im neuen Bericht der Berliner Kommission zur Armutsprävention steht, dass noch 2023 in jedem Bezirk dafür eine "Koordinierungsstelle" eingerichtet werden soll.
Arche-Mitarbeiter Florian hält ein schnelles Umsetzten der Ziele aus der Strategie der Kommission für dringend notwendig. Seit 15 Jahren sei er in der Sozialarbeit tätig. Die Auswirkungen von extrem begrenzten Möglichkeiten zeigten sich immer deutlicher auch beim Entwicklungsstand der betroffenen Kinder, sagt Florian: "Vor sechs, sieben, acht Jahren waren viele in dem Alter einfach weiter als heute."
Jetzt anschauen auf Youtube: rbb|24 explainer - Jedes vierte Kind in Berlin ist armutsgefährdet
Sendung: Fritz, 24.06.2023, 17:10 Uhr