75 Jahre Grundgesetz - Von einer neuen Verfassung, die nie kommen sollte
Deutschland feiert sein Grundgesetz, das eigentlich schon nicht mehr gelten sollte. Das geeinte Deutschland sollte nach dem Willen der Gründungsväter in einer neuen Verfassung aufgehen. Ein früherer DDR-Bürgerrechtler wünscht sich eine neue Diskussion. Von Markus Woller
Verfassungen zu schreiben ist auch nur Handwerk, so scheint es. Und so gilt auch fürs Grundgesetz offenbar die alte Regel: Provisorien halten am längsten. Nun schon seit 75 Jahren und das, obwohl das Grundgesetz von vornherein ein Ablaufdatum innehatte: Artikel 146 nennt dafür bis heute den Tag, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist".
Gedacht war der Artikel, um einen Hoffnungsschimmer zu verankern, dass die beiden deutschen Staaten eines schönen Tages doch noch einmal in einem gemeinsamen Deutschland aufgehen würden - so unwahrscheinlich dies am 23. Mai 1949 auch schien.
Anschluss an BRD war praktischer
Diesen unwahrscheinlichsten Tag der deutschen Geschichte konnte das Land nun schon vor 34 Jahren feiern. Eine neue Verfassung aber, gemeinsam verabschiedet vom vereinten Volk, dazu ist es nie gekommen. Zeitgeist und auch die demokratisch gewählte Volkskammer wollten es 1990 anders. Die DDR trat dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Das war nach Artikel 23 des Grundgesetzes möglich und der für viele Menschen deutlich praktischere Schritt in stürmischen Zeiten. Bemühungen, doch noch zu einer neuen gemeinsamen Verfassung zu kommen verliefen im Sand, obwohl es auch in den Monaten nach der Deutschen Einheit tatsächlich ernsthafte Bestrebungen gegeben hatte.
Einige Mitglieder der DDR-Bürgerbewegung und ein paar westdeutsche Verbündete wollten vollenden, was das Grundgesetz vorgesehen hatte. Wolfgang Templin war damals Mitglied des "Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", dem auch westdeutsche Mitstreiter angehörten. Das Gremium wollte einen Verfassungsprozess anstoßen, organisierte drei gesamtdeutsche Tagungen, auf denen Entwürfe diskutiert wurden. Diese seien keine Alternative zum Grundgesetz gewesen, betont Templin heute. "Das Stand nie in Frage, sondern wir wollten auf den Fundamenten des Grundgesetzes Ergänzungen, Verbesserungen und Modernisierungen einbauen, zu denen ich eigentlich bis heute stehe."
Verfassungsentwurf war modern
Auch aus heutiger Sicht mutet der damalige Entwurf des Kuratoriums weitsichtig an. Den Verfassungsschreibern war die Geschlechtergerechtigkeit besonders wichtig, egalitäre Staatsbürger aller Geschlechter, sexueller Orientierungen und Ethnien. Die Gene der jungen Revolution waren dem Entwurf anzumerken. Dem Bürger verlangten die Verfasser eine gewisse Verpflichtung zum zivilen Engagement ab, der Status von Bürgerbewegungen und NGOs wurde gestärkt. Abgeordnete wurden zur Ausübung des freien Mandats ohne Fraktionszwänge ermutigt.
Wolfgang Templin sieht darin die Stärke des Entwurfes – und etwas, das im Grundgesetz und im heutigen politischen Prozess zu kurz komme. In wichtigen Gewissensfragen, wie der um den Ukraine-Krieg oder in den 2000er Jahren auch der Agenda 2010, seien unbequeme Standpunkte weggedrückt worden beziehungsweise würden das noch immer. Templin findet: "Der Abgeordnete muss seine Haltung diskriminierungsfrei begründen und vertreten können". Das sieht er in jüngster Zeit immer weniger gewährleistet. "Es braucht mehr denn je die Auseinandersetzung zu den Grundfragen unserer Verfasstheit als Gesellschaft", so der frühere Bürgerrechtler.
Neue Verfassung für mehr Augenhöhe
Dass es diese Auseinandersetzung auch zu Zeiten der Deutschen Einheit nicht gegeben hatte, sieht Templin heute als verpasste Chance an. Es habe Hunderttausende grunddemokratische Ostdeutsche gegeben, die aus einem Verfassungsgebungsprozess als gleichberechtigtere Bürger hätten hervorgehen können. Er glaubt, das hätte ein Zusammenwachsen auf Augenhöhe möglich gemacht und viele Probleme zwischen Ost und West verhindern geholfen.
Dafür hätte damals aber auch der Westen stärker auf den Osten zugehen müssen, sagt Historikerin Kerstin Brückweh von der Viadrina Universität in Frankfurt (Oder). Es habe bei Westdeutschen nach den Zeiten des kalten Krieges aber viel Angst und Skepsis gegenüber dem Osten gegeben. "Aus Westdeutschland konnte man einfach zugucken. Es wäre auch an ihnen gewesen zu gucken, was man hätte ändern können". Im rbb-Fernsehen bemängelt sie vor wenigen Tagen, dass offiziell gerade vor allem der 75-jährigen westdeutschen Grundgesetz-Geschichte gedacht wird. "Ich fände es viel sensibler, an der Stelle zu sagen, das gilt nur für einen Teil Deutschlands", so die Viadrina-Professorin.
Ist es zu spät für neuen Versuch?
Dass es in den hektischen Wendezeiten ein Zeitfenster gab, an dem eine neue Verfassung für beide deutsche Staaten tatsächlich eine Option gewesen wäre, glaubt sie nicht. "Für viele Menschen gab es damals Themen, die vordergründiger waren", so Brückweh. Allerdings habe es dafür eigentlich keinen großen Zeitdruck gegeben. Artikel 146 nennt tatsächlich keinen konkreten Zeitpunkt. Aus unterschiedlichen Gründen sei es dann nicht noch einmal zu einer Debatte darüber gekommen.
Heute hält Brückweh die Debatte aber für gescheitert. "Ich glaube, es ist zu spät. Aber darüber zu reden, dafür ist es nie zu spät und sich zu überlegen, was man besser anders gemacht hätte", findet die Wissenschaftlerin. Wolfang Templin hingegen sieht weiter Bedarf für eine neue Verfassungsdiskussion. Spätestens zum 40. Einheitsjubiläum. Nicht, weil das Grundgesetz schlecht sei, sondern weil es angesichts der neuen Herausforderungen in der Welt auch verfassungsrechtlich neue Antworten brauche.
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