75 Jahre Grundgesetz - Von einer neuen Verfassung, die nie kommen sollte

Do 23.05.24 | 07:42 Uhr | Von Markus Woller
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Archivbild: Artikel 1 auf Glaswand, Kunstwerk von Dani Karavan. (Quelle: dpa/Schoening)
Video: rbb24 Abendschau | 23.05.2024 | F. Drescher | Bild: dpa/Schoening

Deutschland feiert sein Grundgesetz, das eigentlich schon nicht mehr gelten sollte. Das geeinte Deutschland sollte nach dem Willen der Gründungsväter in einer neuen Verfassung aufgehen. Ein früherer DDR-Bürgerrechtler wünscht sich eine neue Diskussion. Von Markus Woller

Verfassungen zu schreiben ist auch nur Handwerk, so scheint es. Und so gilt auch fürs Grundgesetz offenbar die alte Regel: Provisorien halten am längsten. Nun schon seit 75 Jahren und das, obwohl das Grundgesetz von vornherein ein Ablaufdatum innehatte: Artikel 146 nennt dafür bis heute den Tag, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist".

Gedacht war der Artikel, um einen Hoffnungsschimmer zu verankern, dass die beiden deutschen Staaten eines schönen Tages doch noch einmal in einem gemeinsamen Deutschland aufgehen würden - so unwahrscheinlich dies am 23. Mai 1949 auch schien.

Anschluss an BRD war praktischer

Diesen unwahrscheinlichsten Tag der deutschen Geschichte konnte das Land nun schon vor 34 Jahren feiern. Eine neue Verfassung aber, gemeinsam verabschiedet vom vereinten Volk, dazu ist es nie gekommen. Zeitgeist und auch die demokratisch gewählte Volkskammer wollten es 1990 anders. Die DDR trat dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Das war nach Artikel 23 des Grundgesetzes möglich und der für viele Menschen deutlich praktischere Schritt in stürmischen Zeiten. Bemühungen, doch noch zu einer neuen gemeinsamen Verfassung zu kommen verliefen im Sand, obwohl es auch in den Monaten nach der Deutschen Einheit tatsächlich ernsthafte Bestrebungen gegeben hatte.

Einige Mitglieder der DDR-Bürgerbewegung und ein paar westdeutsche Verbündete wollten vollenden, was das Grundgesetz vorgesehen hatte. Wolfgang Templin war damals Mitglied des "Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", dem auch westdeutsche Mitstreiter angehörten. Das Gremium wollte einen Verfassungsprozess anstoßen, organisierte drei gesamtdeutsche Tagungen, auf denen Entwürfe diskutiert wurden. Diese seien keine Alternative zum Grundgesetz gewesen, betont Templin heute. "Das Stand nie in Frage, sondern wir wollten auf den Fundamenten des Grundgesetzes Ergänzungen, Verbesserungen und Modernisierungen einbauen, zu denen ich eigentlich bis heute stehe."

Verfassungsentwurf war modern

Auch aus heutiger Sicht mutet der damalige Entwurf des Kuratoriums weitsichtig an. Den Verfassungsschreibern war die Geschlechtergerechtigkeit besonders wichtig, egalitäre Staatsbürger aller Geschlechter, sexueller Orientierungen und Ethnien. Die Gene der jungen Revolution waren dem Entwurf anzumerken. Dem Bürger verlangten die Verfasser eine gewisse Verpflichtung zum zivilen Engagement ab, der Status von Bürgerbewegungen und NGOs wurde gestärkt. Abgeordnete wurden zur Ausübung des freien Mandats ohne Fraktionszwänge ermutigt.

Wolfgang Templin sieht darin die Stärke des Entwurfes – und etwas, das im Grundgesetz und im heutigen politischen Prozess zu kurz komme. In wichtigen Gewissensfragen, wie der um den Ukraine-Krieg oder in den 2000er Jahren auch der Agenda 2010, seien unbequeme Standpunkte weggedrückt worden beziehungsweise würden das noch immer. Templin findet: "Der Abgeordnete muss seine Haltung diskriminierungsfrei begründen und vertreten können". Das sieht er in jüngster Zeit immer weniger gewährleistet. "Es braucht mehr denn je die Auseinandersetzung zu den Grundfragen unserer Verfasstheit als Gesellschaft", so der frühere Bürgerrechtler.

Neue Verfassung für mehr Augenhöhe

Dass es diese Auseinandersetzung auch zu Zeiten der Deutschen Einheit nicht gegeben hatte, sieht Templin heute als verpasste Chance an. Es habe Hunderttausende grunddemokratische Ostdeutsche gegeben, die aus einem Verfassungsgebungsprozess als gleichberechtigtere Bürger hätten hervorgehen können. Er glaubt, das hätte ein Zusammenwachsen auf Augenhöhe möglich gemacht und viele Probleme zwischen Ost und West verhindern geholfen.

Dafür hätte damals aber auch der Westen stärker auf den Osten zugehen müssen, sagt Historikerin Kerstin Brückweh von der Viadrina Universität in Frankfurt (Oder). Es habe bei Westdeutschen nach den Zeiten des kalten Krieges aber viel Angst und Skepsis gegenüber dem Osten gegeben. "Aus Westdeutschland konnte man einfach zugucken. Es wäre auch an ihnen gewesen zu gucken, was man hätte ändern können". Im rbb-Fernsehen bemängelt sie vor wenigen Tagen, dass offiziell gerade vor allem der 75-jährigen westdeutschen Grundgesetz-Geschichte gedacht wird. "Ich fände es viel sensibler, an der Stelle zu sagen, das gilt nur für einen Teil Deutschlands", so die Viadrina-Professorin.

Ist es zu spät für neuen Versuch?

Dass es in den hektischen Wendezeiten ein Zeitfenster gab, an dem eine neue Verfassung für beide deutsche Staaten tatsächlich eine Option gewesen wäre, glaubt sie nicht. "Für viele Menschen gab es damals Themen, die vordergründiger waren", so Brückweh. Allerdings habe es dafür eigentlich keinen großen Zeitdruck gegeben. Artikel 146 nennt tatsächlich keinen konkreten Zeitpunkt. Aus unterschiedlichen Gründen sei es dann nicht noch einmal zu einer Debatte darüber gekommen.

Heute hält Brückweh die Debatte aber für gescheitert. "Ich glaube, es ist zu spät. Aber darüber zu reden, dafür ist es nie zu spät und sich zu überlegen, was man besser anders gemacht hätte", findet die Wissenschaftlerin. Wolfang Templin hingegen sieht weiter Bedarf für eine neue Verfassungsdiskussion. Spätestens zum 40. Einheitsjubiläum. Nicht, weil das Grundgesetz schlecht sei, sondern weil es angesichts der neuen Herausforderungen in der Welt auch verfassungsrechtlich neue Antworten brauche.

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Beitrag von Markus Woller

82 Kommentare

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  1. 82.

    Ach, kommen Sie, das ist doch total kryptisch, was Sie hier schreiben. Als wenn die Linke oder andere Parteien nach der Demontage ihrer selbst irgendwelche Änderungen vorgenommen hätten.

  2. 81.

    Konkrete Fakten wäre das Treffen von ich hab von nichts gewusst mit gewissen Politikern aus der CDU. Wenn Sie davon überzeugt werden sollen, daß Ihre Meinung falsch ist, kann man mit ihnen auch auf der "Arbeit"darüber diskutieren und Sie so zum umdenken bewegen.

  3. 80.

    Antwort auf "Eiskalle " vom Donnerstag, 23.05.2024 | 08:52 Uhr
    "Wir waren zwei unterschiedliche Staaten da hätte man bei der Vereinigung gleich eine eine Gesetzgebung mit vereinbaren können...." Um zukünftig in einem Land, aber zwei Staaten zu leben? Mal abgesehen davon, dass neue Gesetze ja nicht mal eben "vereinbart" werden können, so, wie Mauer abgebaut wurde. Und: die Wiedervereinigung war doch vom Volk gewollt, unterstellen Sie hier ausschließlich materielle Hintergründe?

  4. 79.

    Frau Sabrina, vielleicht sollten Sie Ihre Aussage mit nachprüfbaren Fakten unterlegen, damit sie nicht lächerlich wirkt.

  5. 78.

    16h Dauerkrach Nein Danke. Ich lebe auch nur einmal. Es kann nicht sein, dass ich deswegen entweder andere zuschallen muß oder Anzeigen für andere kassieren oder Nachbarn zum Nachbarn neben an schicken muß.
    Die Würde des Menschen ist unantastbar. Auch die von den Menschen, die sie mit ihrer tollen Musik (aufnehmar)Tags oder Nacht hinnehmen müssen. Und die Menschen, die Sie hinnehmen müssen sind erst recht nett.

  6. 77.

    Da sollten Sie bitte mal ins Detail gehen und konkrete Fakten liefern die ihre Behauptung zweifelsfrei bestätigen. Ansonsten sind das haltlose Behauptungen ...
    Vielen Dank

  7. 75.

    Nachtrag:

    Die gleichen empören sich dann über eine Vizepräsidentin im deutschen Bundestag, die von 1988-1990 ja als Küchenhilfe gearbeitet hat, weil Sie als Oppositionelle sonst nichts arbeiten konnte. Wohlgemerkt sich nebenbei immer politisch in den Wendejahren engagierte, was man hier von den meisten wohl nicht sagen kann. Jobs gabs eben auf Zuteilung. Tolle Arbeitnehmerrechte.

    Und natürlich gleichzeitig vorwerfen "nie was richtiges gearbeitet zu haben". Stimmt Küchenhilfe ist ja "nichts richtiges", aber sonst auf die wertvolle Arbeit als Putzfrau verweisen.

  8. 74.

    Von passiv erleben, kann keine Rede sein. Ich bin meinen Weg, trotz Demütigungen, gegangen und war nur mal für kurze Zeit arbeitslos. An blühende Landschaften habe ich damals schon nicht geglaubt. Ich finde die Demütigung dahingehend, dass wir an der Neugestaltung nicht mit beteiligt wurden. Zum Beispiel: Das die regierenden Politiker fast ausnahmslos aus Westdeutschland kamen. Das ist bis heute so geblieben. Das gilt genauso für Schuldirektoren, Intendanten und Beamte. Keine Chance, trotz Umschulung, in den Behörden eine Arbeit zu bekommen. Mieterhöhung von einem zum anderen Monat auf das Fünffache, Betrieb geschlossen, Vorsprechen beim komplett überfüllten Arbeitsamt. Das war für mich schwer zu verkraften.

  9. 73.

    Welche tollen Arbeitnehmerrechte (gegendert von Arbeiterrechten) hatte man denn in der DDR? Vor allem wenn man eine abweichende Meinung hatte? = staatliches Berufsverbot.

  10. 72.

    Merken Sie, wie passiv Sie alles erlebt haben? Leute, die nach der Wende aktiv wurden, die haben keine Demütigung erlebt, sondern einen Aufschwung. Natürlich hat Helmut Kohl Sie alle hinter die Fichte geführt, als er seine "blühenden Landschaften" sah und nicht dazu sagte, dass es anstrengend wird.

  11. 71.

    Die Heimat von 18 Mio als "Stasi-Laden" zu bezeichnen, finde ich schon beleidigend. DDR hätten sie schon schreiben können...

  12. 70.

    Sie sind schon deswegen kein Demokrat, weil Sie die massiven Verletzungen des Grundgesetzes durch die Regierenden einfach ignorieren.

  13. 69.

    Das Grundgesetz wird aber nicht von angeblichen Rechtsextremisten angegriffen, sondern von den Politikern, die derzeit regieren samt CDU.

  14. 68.

    "So weit kann es also nicht mit dem "allseits gebildeten Menschen" gewesen sein, denn die aufoktroyierten, ideologischen Vorzeichen eines abverlangten, vermeintlich unerschütterlichen Staatssozialismus haben dieses an sich sinnvolle Ziel konterkariert."

    Was will uns der Autor dieses Satzes sagen ?

  15. 67.

    Ja man kann die Welt durch verschiedene Brillen sehen. Meine ist nicht rosarot, sondern erinnert sich an die folgende Deindustrialisierung mit 3 Millionen weggefallenen Arbeitsplätzen, geschleiften Frauen - und Arbeiterrechten etc.

  16. 66.

    Vll. könnte auch die 2+4 Gespräche/Vertrag für dies "knallharte" Vorgehen nicht gänzlich als Ursache ausgeschlossen werden. Die damalige "Eiserne Lady", Mrs. Thatcher, war ja wenig amused über die Wiedervereinigung. Auch sollte man nicht vergessen, das die damalige Sowjetunion wirtschaftlich stark angeschlagen war und mit Krediten aus der damaligen BRD gestützt wurde. Da kriselte es dort bereits. Die Sowjetunion reichte die Ratifizierungsurkunde erst im März 91 nach. Im August 91 trat Gorbatschow zurück. Vll. fehlt es nicht unbedingt nur am Willen, nicht unwesentlich auch an Zeit.

    Das Ruhrgebiet ist für einen Vergleich untauglich. Es waren andere politische Voraussetzungen.

  17. 65.

    Stimmt, der Westen hatte ja damit zu tun, uns nach den Demütigungen, die uns unseren alten Genossen angetan haben, nun mit der nächsten Demütigung zu bestrafen, da wir ja die "Armen" aus der Ostzone waren. Ich habe niemals vorher so eine Abwertung meines Lebens erfahren.

  18. 64.

    Herzlichen Glückwunsch
    16 h Dauerkrach Nein Danke liebes Grundgesetz, auch ich lebe nur einmal.

  19. 63.

    Im Vergleich zum Ruhrgebiet, dessen Transformationsprozess fast wie auf einem samtenen Teppich verlief, ist der Strukturbruch nach Ableben der DDR knallhart vollzogen worden. Es waren nicht unbedingt die schlechteren Voraussetzungen, sondern schlicht der fehlende Wille, das anders zu regeln.

    Allein: Die Mehrheit der Ostdeutschen hat dem (im Sinne einer Verlierer- und Gewinner-Mentalität) so zugestimmt. So weit kann es also nicht mit dem "allseits gebildeten Menschen" gewesen sein, denn die aufoktroyierten, ideologischen Vorzeichen eines abverlangten, vermeintlich unerschütterlichen Staatssozialismus haben dieses an sich sinnvolle Ziel konterkariert.

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